Patrizia Carmassi: In Vorbereitung: Katalog der mittelalterlichen lateinischen Handschriften der SUB Göttingen, beschrieben von Patrizia Carmassi. (Vorläufige Beschreibung)
Göttingen, Staats- und Universitätsbibliothek, 8° Cod. Ms. jurid. 807 Cim.
Ius Lubecense
Pergament — II, 19, II Bl. — 23 × 16 cm — Lübeck (?) — 1263
Lagen: I, V (10), V-1 (19), I. Moderne Foliierung (Bleistift) auf der unteren Ecke rechts. Benutzungsspuren: Pergament an den Blatträndern leicht verschmüzt und wellig, gelegentlich Flecken. Zwischen fol. 1 und 2 befinden sich Reste einer doppelten rot-grüne Schur, an denen laut Dreyer 1769 noch das Stadtsiegel Lübecks angebracht war (Dreyer, Einleitung zur Kenntniss ..., Lübeck 1769, S. 234). Einbandsleder außen rissig und berieben, an Gelenk zur Klappe eingerissen; rote Zierelemente teils eingerissen und mit Fehlstellen. Schriftraum: 15–15,5 × 9,5–10 cm Textualis. Gelegentlich geringfügige Ergänzungen am Rande von einer anderen Hand (13. Jh.). Rubriziert. Rot-blaue Fleuronnée-Initialen zu Beginn der Vorrede und auf dem ersten Blatt des Haupttextes. Alternierend rote und blaue, zwei- bis dreizeilige (ohne Ausläufer) Lombarden zu Beginn der einzelnen Paragraphen. 1v I(n), 2r V(ir).
Kopertband aus braun gefärbtem Schweinsleder. Die Innenseite rot gefärbt. Trapezförmige Vorderklappe (8 x 8–23 cm). Am äußeren Rand und horizontal in der Mitte Verzierung durch eine angenähte Bordüre aus rot gefärbtem Leder (ca. 1 bzw. 3 cm breit), mit geometrischen Aussparungen. Darin Spuren von Goldfarbe. Auf dem Vorderdeckel auf der linken unteren Seite zwei moderne Signaturzettel aus Papier eingeklebt. Reinigung und Ergänzung mit vorderen und hinteren Vorsatzblättern in der Restaurierungswerkstatt der Universität Göttingen zwischen 19.09. und 21.12.2000 (Restaurierungsprotokoll Nr. 5309).
Herkunft: Die Handschrift gilt als der jüngste Überlieferungsträger der lateinischen Fassung des Lübischen Rechtes, die relativ konstant in einer Gruppe von Handschriften, vom städtischen Rat genehmigt, erhalten ist. Im dritten Viertel des 13. Jahrhunderts beginnen die volkssprachligen Fassungen, die keine Übersetzung des lateinischen Textes darstellen. Die Mitteilungsurkunde zu Beginn der Handschrift erwähnt eine petitio der Stadt Danzig als Grund für die Abschrift der Lubycensis iustitia, veranlasst von den Konsuln Lübecks. — Provenienz: Vorbesitzer des Codex im 18. Jahrhundert war Johann Karl Heinrich Dreyer (1723-1802), Rechtsgelehrter und Professor für Deutsches Recht an der Universität Kiel, ab 1753 Syndikus in Lübeck. Zu seiner Person vgl. A. von Brandt: Dreyer, Carl Henrich, in: Neue Deutsche Biographie 4 (1959), S. 122 f. Nach seiner Notiz auf fol. 1r hatte sein Onkel Ernst Joachim Westphal die Handschrift bei einer Auktion in Kopenhagen erworben. Es handelt sich um Ernst Joachim von Westphalen (1700-1759), Student in Rostock, Halle und Jena, Jurist, holsteinischer Geheimrat und Kurator der Universität Kiel. Vgl. C. E. Carstens, Westphalen, Ernst Joachim von, in: Allgemeine Deutsche Biographie 42 (1897), S. 218-221. Eine Auktion der Bibliothek von Hans Gram (1685-1748), Philologe, Bibliothekar und Historiker, fand in der Tat 1748 in Kopenhagen statt, wie ein gedruckter Katalog belegt. Vgl. Bibliotheca Grammiana Sive: Catalogus bibliothecae, quam reliquit [...] Johannes Grammius, Havniae 1748. Darin wurden allerdings die Handschriften und andere Gegenstände, darunter Münzen und Kupferstiche, nicht verzeichnet, wie es im Vorwort, datiert d. 6. August 1748, erklärt wird. Die Angabe Dreyers lässt sich anhand des Katalogs nicht verifizieren. Der gestrichene Vermerk von seiner Hand verweist auf eine andere Provenienz: Demnach war die Handschrift bei einer Auktion von einem Mitglied der Familie Gralath 1764 in Königsberg verkauft worden. Von dieser vermeintlichen Auktion ist aber kein Katalog ausfindig zu machen. Ein Daniel Gralath (1739-1809) studierte Recht in Königsberg und beschäftigte sich mit der Geschichte Danzig: D. Gralath: Versuch einer Geschichte Danzigs: aus zuverlässigen Quellen und Handschriften, Königsberg 1789. Im entsprechenden Kapitel über das 13. Jh., S. 43-54, erwähnt er aber keine Rechtshandschriften als Quelle. Vgl. zu dieser Familie auch H.-J. Kämpfert: Die Familie Gralath in Danzig, in: Preußische Landesgeschichte. Festschrift für Bernhart Jähnig zum 60. Geburtstag, hrsg. v. U. Arnold, M. Glauert und J. Sarnowsky, Marburg 2001 (Einzelschriften der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung 22), S. 299-311. — Die Version, dass der Codex durch seinen Onkel bei der Grammischen Auktion (für die Summe von zehn dänischen Dukaten) gekauft wurde, vertrat Dreyer schon am 28.12.1795, als er seinem Mitbürger und Hofrat Schlözer (wohl: August Ludwig Schlözer, 1735-1809) seine Absicht mitteilte, der Georgia Augusta ein Legat zukommen lassen zu wollen. Unter den geschenkten Gütern zitiert eine 1804 gedruckte Notiz Einen Codicem membranaceum juris lubec. authenticum vom Jahr 1260, dem Westphal für zehn dänische Ducaten aus der Grammischen Auction erstanden habe. Vgl. Göttingische akademische Annalen 1 (1804), S. 96-101, hier S. 98. Der Codex wurde schon vor dem Tod Dreyers und mit einem Auszug aus seinem Testament vom 06.10.1786 dem Prorektor der Universität am 18.05.1798 übergeben, dann vom akademischen Senat der Bibliothek überlassen (ibid., S. 98-99). Teil des Legats war auch eine Sammlung von Originalsiegeln (ibid., S. 97-98), die auf eine frühere Sammlung zurückging und aus der Dreyer schon 1763 zwei Stücke der Akademie geschenkt hatte. Ob darin auch das entfernte Stadtsiegel aus der Lübecker Handschrift gelangte, ist nicht bekannt. Von der niederdeutschen Handschrift mit Lübecker und Hamburger Recht Cod. Ms. jurid. 806, ebenfalls aus dem Nachlass Dreyers (vgl. , S. 519-520) vom 28.12.1798, ist in der Nachricht von 1804 allerdings keine Rede. In dieser Handschrift lautet die handgeschriebene Notiz Dreyers: Codex iuris Lubecensis anni MCCLVIII magistro et ordini Teutonico in Livonia communicatus cedit Bibliothecae Academiae Göttingenis ex reculis Io. Carol. Henr. Dreyer eod. Lubec. cattedr. Praepositi Reipubl. Proto Syndici et Consistorii Praesides. Lubec d. 28 Dec 1798. Eine dritte frühere Angabe Dreyers widerspricht den zwei oben genannten. Dreyer schrieb in der Einleitung zur Kenntniß … (1769), S. 234, zu dieser Handschrift: befindet sich auf der hiesigen Registratur. Ebenfalls in H. G. Bünekau, Bibliotheca iuris Lubecensis (1776), S. 3, wird der Codex beschrieben als bonae notae codicem ex membranis in tabulario Reipublicae Lubecensis latentibus. Vgl. zu den widersprüchlichen Angaben auch Meyer, in: , S. 521-522; W. Ebel, Lübisches Recht, Bd. 1, Lübeck 1971, S. 79. Da Dreyer für die Erfindung und Fälschung von Dokumenten sowie für die Veruntreuung von Materialien aus dem Lübecker Archiv bekannt ist (vgl. Artikel in NDB), erscheint als nicht unwarscheinlich, dass er verschiedene Versionen zur Geschichte des Codex im Zusammenhang mit seiner testamentarischen Verfügung verfasste und sich am Ende für eine davon entschied, die ein gutes Licht auf ihn warf. Von einem "Schenkungsdiebstahl" des lateinischen Lübecker Ratscodex von 1263 spricht auch P. Aufgebauer: "So hat man auch in Gottingen gehabt eynen Rholant...". Ein Denkmal und seine Überlieferung, in: Festgabe für Dieter Neitzert zum 65 Geburtstag, hrsg. von P. Aufgebauer, U. Ohainski und E. Schubert, Bielefeld 1998, S. 109-144, hier S. 133-134. Für eine ebenfalls wahrscheinlich unrechtmässige Schenkung des heute Kopenhagener Codex des Lübischen Rechtes (ursprünglich: Kiel) an den Grafen Thott von Seiten Dreyers, vgl. G. Korlén: Kieler Bruchstücke kaufmännischer Buchführung aus dem Ende des 13. Jahrhunderts, in: Niederdeutsche Mitteilungen 5 (1949), S. 102-112, hier S. 109-110. Fol. 1r auf dem Fußsteg ovaler Besitzstempel: EX BIBLIOTHECA REGIA ACAD. GEORGIÆ AUG:. Der Eingang der Handschrift in die Bibliothek ist auch durch einen Eintrag in: Bibliotheksarchiv, Cod. Ms. Manual 1798, S. 47: Ein Geschenk des Herrn Dr. Dreyer, Syndicus in Lübeck. Codex Juris Lubecensis Ann. 1263 Mscpt 4to, dokumentiert. Vgl. auch ibid., alphabetisches Inhaltsverzeichnis, unter D: Dreyer, Synd. in Lübeck, S. 47.
, S. 520-522.
Ir–IIv leer.
1v-19v Ius Lubecense. In nomine sanctae et individuae trinitatis amen Anno dominice incarnationis MCCLXIII; ob honorem, dilectionem et petitionem illustris domini S[wantopolk] ducis Pomeranorum … … Hoc in amicitia advocati et lesi. Es handelt sich um den seit 1220 Fürsten von Pomerellen Swantopolk II. († 1266). Die letzten sieben leer gebliebenen Zeilen auf fol. 19v sind durch braune Tinte (schon im Mittelalter) durchgestrichen worden, um das Hinzufügen von weiteren Rechtssätzen zu vermeiden.
1r Moderne Signatur (Bleistift) auf dem Kopfsteg (rechts). Links Angabe des Datums: D[ie] 27 Apr[ilis] 1798. Dies stellt wahrscheinlich das Datum des Eingangs des Buches in die Universitätsbibliothek dar. Ab der vierten Zeile ein Schenkungsvermerk von der Hand von Johann Carl Heinrich D. Dreyer (siehe unter Provenienz): Codex iuris Lubecensis ann[i] 1263 quem ex auctione Hauniensi redemit b[aro] Ernestus Ioachimus de Westphalen, Eques ord[inum] S[ancti] Alexandri Nevsky et S[anctae] Annae auratus Minister status Holsato-Slesv[icensis] et consiliarius intimus academiae Kilonensis Curator et ex reculis suis in Bibliothecam academiae Georgiae Augustae nunc migrare iussit Westphalii ex Sorore nepos Praepositus eccl[esiae] cathedr[alis] Lubec[ensis] et Reipubl[icae] Lubec[ensis] Syndicus primus I[ohannes] C[arolus] H[enricus] Dreyer D.. Darunter von der gleichen Hand ein gestrichener Eintrag (eine moderne Hand hat mit Bleistift eine Transkription einiger Worte neben dem Vermerk versucht). Dieser lautet: vendit redemit ex auctione Gralathiana Korebergae ..lata a. 1764 pretio 7 thaleror. (?)
1v Mitteilungsurkunde. ›Incipit decretum civitatis Danceke a consulibus Lubicensibus ei racionabiliter collatum‹. Die nächsten 4 Zeilen allerdings leer gelassen. Es folgt die Rubrik für den ersten Artikel auf der vorletzten Zeile. Nachgetragen in brauner Tinte auf der ersten leeren Zeile nach der Rubrik: Jud ….
1v–18v Ius Lubecense. ›De conquisitis proprietatibus viri tytulus primus‹. Der Text des Artikels beginnt auf der nächsten Seite. (18v) Erste Hand geht bis fol. 18v, Z. 10.
18v–19v Ergänzungen von zwei Händen (13./14. Jh.). Eine Hand vervollständigt Art. XCV (fol. 18v). Eine weitere Hand schreibt weitere fünf Artikel. Diese beginnen mit alternierend roten und blauen Lombarden, Rubriken fehlen.
19v Auf dem Fußsteg Angabe von alter Signatur (Bleistift): Ms. Jurid 46.
IIIr–IVv leer.
Edition: J. C. H. Dreyer, Sammlung vermischter Abhandlungen zur Erläuterung der teutschen Rechte und Alterthümer, wie auch der Critic und Historie. Erster Theil, Rostock, Wismar 1754, S. 443–472. J. F. Hach, Das Alte Lübische Recht, Lübeck 1839, S. 185–215, mit Beschreibung der Handschrift S. 28-29. F. Ebel (zusammen mit R. Schelling), Das lateinische lübische Recht in der schlesisch-polnischen Fassung des 13. Jahrhunderts, in: Id., Unseren fruntlichen grus zuvor. Deutsches Recht des Mittelalters im mittel- und osteuropäischen Raum. Kleine Schriften, hrsg. von A. Fijal, H.-J. Leuchte und H.-J. Schiewer, Köln, Weimar, Wien 2004, S. 253–323, mit Beschreibung der Handschrift S. 254-255. [im Apparat angeführt]. Literatur: J. K. H. Dreyer, Einleitung zur Kenntniß der in Geist- Bürgerlichen- Gerichts- Handlungs- Policey- und Kammer-Sachen von E. Hochw. Rath der Reichsstadt Lübeck von Zeit zu Zeit ergangenen allgemeinen Verordnungen, Mandaten, Normalien, Decreten, wie auch der dahin einschlagenden Rechts-Urkunden, welche nach der Zeitordnung und nach den darin enthaltenen Materien erzählet, mit einigen zur Aufklärung verschiedener Stücke des Teutschen und Lübischen Rechts, der Rechts-Geschichte und Alterthümer gereichenden Anmerkungen versehen … worden ..., Lübeck 1769, S. 233-236, hier beschrieben mit Datum 1266. H. G. Bünekau, Praefatio von J. K. H. Dreyer, Bibliotheca iuris Lubecensis: complectens notitiam scriptorum ad ius Lubecense subiunctis ubique novioribus constitutionibus, decretis … ius illud … illustrantibus, Lubecae 1776, S. 3, hier beschrieben mit Datum 1266. C. Meiners, Göttingische akademische Annalen, Bd. 1, Hannover 1804, S. 98. F. Frensdorff, Das lübische Recht nach seinen ältesten Formen, Leipzig 1872, S. 44-45. W. Ebel, Lübisches Recht, Bd. 1, Lübeck 1971, S. 78–80, S. 202. W. Ebel: Jurisprudencia Lubecensis. Bibliographie des lübischen Rechts, Lübeck 1980 (Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck 5). A. Lampen, Lübisches Recht, in: 11, Berlin, New York 2004, Sp. 932–938. S. Ullrich: Untersuchungen zum Einfluss des lübischen Rechts auf die Rechte von Bergen, Stockholm und Visby, Frankfurt am Main 2008 (Rechtshistorische Reihe 375), besonders § 3,II von Teil A. F. Ebel: Rechtsentstehung und Rechtstransfer im Spiegel des Überlieferung (Magdeburger und Lübecker Recht), in: Grundlagen für ein neues Europa. Das Magdeburger und Lübecker Recht in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hrsg. von H. Lück, M. Puhle und A. Ranft, Köln 2009 (Quellen und Forschungen zur Geschichte Sachsen-Anhalts 6), S. 37-47. V. Henn: Lübisches Recht in den Auslandsniederlassungen der Hanse, in: ibid., S. 49-65. H. Lingenberg: Die Anfänge des Klosters Oliva und die Entstehung der deutschen Stadt Danzig: die frühe Geschichte der beiden Gemeinwesen bis 1308/10, Stuttgart 1982 (Kieler historische Studien 30), S. 388. P. Letkemann: Danzig. Bild einer Stadt, Ausstellung des Geheimen Staatsarchivs Preussischer Kulturbesitz, Berlin 1980, Kat.-Nr. 12, S. 15-16, Abb. S. 17. Gerhard Weiduschat: Kat.-Nr. 9.2, in: Tür an Tür. Polen - Deutschland. 1000 Jahre Kunst und Geschichte. Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, Berlin vom 23. September 2011 bis zum 9. Januar 2012. Hrsg. v. Małgorzata Omilanowska, Köln 2011, S. 333. N. Ganina und I. Mokretsova: Verschollener ‘Bardewikscher Codex’ aufgefunden, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 145 (2016), S. 49–69. Siehe zu dem Codex A. Lampen, Lübisches Recht, Sp. 933.
Abgekürzt zitierte Literatur