Patrizia Carmassi: In Vorbereitung: Katalog der mittelalterlichen lateinischen Handschriften der SUB Göttingen, beschrieben von Patrizia Carmassi. (Vorläufige Beschreibung)

Göttingen, Staats- und Universitätsbibliothek, 8° Cod. Ms. philol. 79 Cim.

Sibylla Erithraea

Pergament — I, 10 Bl., I — 23,5 × 17,5 cm — Nordostitalien (Mantova?) — 15. Jh. Drittes Viertel

Lagen: V (10). Moderne Foliierung (Bleistift). Pergament leicht gewellt. Rostflecken auf den ersten und letzten Blättern beim Langschnitt. Untere rechte Pergamentecke von fol. 1-4 abgerissen. Fol. 1r: wegen Feuchtigkeitsflecken ist der violette Hintergründ der Titeltafel an einigen Stellen heller und verschmiert. Auf dieser Seite Vergoldung der Initiale verloren (siehe Buchschmuck). Schwarze Tintenflecke am Rande von fol. 2v. Rote Tintenflecke fol. 6v. Liniiert. 20 Zeilen. Es wird immer eine leere Zeile zwischen zwei geschriebenen Zeilen gelassen. Schriftraum: 15 × 10 cm Humanistische Minuskel von einer Hand. In der Schrifttafel auf fol. 1r wird eine Capitalis benutzt, die antike Inschriften imitiert, aber auch durch neu erfundene, eigene Verzierungen geschmückt wurde. Ähnlich die humanistische Initiale "a cappio intrecciato" und die Majuskelschrift, benutzt in Padova, Seminario vescovile, Cod. 752 (15. Jh. Mitte), Titel fol. 1r, mit demselben graphischen Zeichen für M. Dieses auch in der Majuskel in Oxford, Bodleian Library, Ms. Canon. Ital. 85, fol. 67r (s. unten: Herkunft). Vgl. I manoscritti della Biblioteca del Seminario vescovile di Padova, a cura di A. Donello et alii, Firenze 1998 (Biblioteche e archivi 2. Manoscritti medievali del Veneto 1), Abb. CCXXXI, Scheda Nr. 218, S. 100-101, Provenienz: San Benedetto da Polirone, saec. XV med. Von erster Hand interlineare Glossen und marginale längere Scholia in hellblauer Tinte, mit erläuterndem Charakter. Auf dem Kopfsteg von fol. 1v Scholion, geschrieben in rosafarbener Tinte. Es handelt sich um die gleichen Farben, in denen die Initiale auf fol. 1r ausgeführt wurde: Es ist daher anzunehmen, dass der Schreiber und Kalligraph auch für die künstlerische Ausstattung des Buches verantwortlich war. Auf demselben fol. 1v die Worte Sudoris opus aggredimur in Goldfarbe geschrieben. Der Apparat von Anmerkungen wurde von der Vorlage abgeschrieben und ist Teil der Überlieferung: Vgl. Holder-Egger I, mit Edition der Glossen. Vgl. am Rande von fol. 3r den Bezug auf Kaiser Friedrich II.: Hic creditur de imperatore Federico propter quod recapitulat inferius. Glossen ediert in Holder-Egger I, hier S. 161. Eine zweite Hand hat in brauner Tinte an wenigen Stellen Varianten am Rande geschrieben. Auf fol. 5r ein Kreuz am Rande, wo die Stelle der Glosse sich auf das Entstehen der Bettelorden bezieht. Buchschmuck: 1. Titeltafel. 2. Ornamentalinitiale zu Beginn des Textes. 3. Fleuronnée-Initiale. 1. 1r: Titel in Form von lilafarbener viereckiger Schrifttafel gestaltet (8 x 9,5 cm) mit goldfarbener Schrift in Capitalis. Der Rahmen in Goldfarbe konturiert, mit feinem Besatz an den Seiten (bis auf die untere) in Violett (Perlen, Punkte, gewellte Fäden). Eckausläufer in Form eines Herzblattes, im Inneren mit Diagonalnetz schraffiert und mit kurzen Fadenausläufern. Die Imitation einer Marmortafel für Titelseiten wurde in Nordostitalien von Schreibern und Malern wie Bartolomeo Sanvito in der zweiten Hälfte des 15. Jh. häufig praktziert. 2. E(x): Sechszeilige (5 cm) hohe Rankenitiale auf schwarz konturiertem, viereckigem goldenem Feld (6 x 6 cm), allerdings das Blattgold bis auf wenige Stellen zwischen den Ranken ausgekratzt. Es bleibt die Grundierung in gelblicher Farbe sichtbar. Die schwarze Konturlinie des Feldes ist gewellt (Blattmuster), mit dekorativem Besatz von fruchttraubenartigen Gruppen aus weißen und goldenen Perlen in regelmäßigen Abständen. Buchstabenkörper: Blaue Ranken, sich öffnend, am oberen und unteren Ende des E gleichen sie abgeschnittenen Zweigen in Form einer Tuba; im mittleren Schaft endend mit einem Doppelblatt. Im Binnenfeld: Axialsymmetrische Kombination aus blauer und rosafarbener Ranke, gewunden und verflochten, die rosafarbene Ranke in einem Knoten endend. Konturbegleitende Schattierung, Weißlinienfiligran (Punktkette und vegetabile Motive). Farben: Rot, Rosa, Blau, Hellblau, Schwarz, Weiß, Gold. 3. 3r: Eine dreizeilige (ohne Ausläufer) 2,5 cm hohe blau/lila Fleuronnéeinitiale: I(n). Am blauen Buchstabenkörper konturbegleitende lilafarbene Linie und Besatz, dieser bestehend aus gestrichelten Perlen, Spiralen und Fadenausläufern. Fleuronnéeleisten, am Buchstabenstamm oben und unten angesetzt, beginnen mit einer Art Rosette (Spirale mit Perlenkontur) und bestehen aus in die Länge gezogenen Parallelfäden mit Wellen an den Enden. Als Besatz an den Leisten gestrichelte Perlen und wellenförmige Fäden.

Moderner Pappeinband mit Überzug aus weißem Pergament. Nach Restaurierungsprotokoll Nr. 6308, in der Restaurierwerkstatt der Universitätsbibliothek in Göttingen zwischen dem 21.08. und dem 11.12.2012 angefertigt. Auf dem VD zwei Papierschilder mit Signatur Cod. Ms. philol. 79 und Cim. VS und HS neu aus Büttenpapier. Jeweils aus dem Blatt eines Bifoliums, von dem das frei gelassene Blatt vorderes und hinteres Vorsatzblatt bildet. Beide nicht nummeriert. Auf VS moderne Signatur, von Hand geschrieben (Bleistift): 8° Cod. Ms. philol. 79 Cim. Spuren von einer Metallschließe aus einem früheren, verlorenen Einband, durch Rostflecken und Löcher in der Mitte der Langseite der Pergamentblätter erkennbar.

Herkunft: Nach Schrifttypus und Ausstattung wurde die Handschrift in Oberitalien, im Veneto oder an dessen Peripherie (Mantua, Ferrara), von einem erfahrenen humanistischen Schreiber geschrieben und dekoriert. Der Typus der Initialen "a cappio intrecciato" ist seit den 30er Jahren des 15. Jh. in Codices des Schreibers Michele Selvatico in Venedig dokumentiert (vgl. Venezia, Biblioteca Marciana, Ms. Lat. IX 1). Später findet man diese Art von Initialenornament in einer Gruppe von Handschriften, geschrieben für Guarnerio d'Artegna (1410-1466) (vgl. S. Daniele del Friuli, Civica Biblioteca Guarneriana, MS 8), und auch Padova, Biblioteca Capitolare, C 76 (a. 1471). Weitere Handschriften, für die Gonzaga hergestellt, weisen die "cappi" auf, die in Zweige transformiert wurden (vgl. Rimini, Biblioteca Civica Gambalunga, Sc-Ms. 39, ca. 1460/70). Zu dieser Handschrift siehe Kat.-Nr. III.5, in Andrea Mantegna e i Gonzaga. Rinascimento nel Castello di San Giorgio, a cura di F. Trevisani, Milano 2006, S. 210-211. Vgl. auch die Handschriften Mantova, Biblioteca Comunale, ms. 112 (15. Jh. ex.), ibid., Kat.-Nr. III.6, S. 212-213 und Madrid, Biblioteca Nacional, ms. Vit. 22-5 (nach 1468), ibid., Kat.-Nr. III.13, S. 230-231. Ich danke Federica Toniolo für diese Hinweise. Vgl. dazu auch L. Casarsa, M. d'Angelo, C. Scalon, La libreria di Guarnerio d'Artegna, Udine 1991; M. d' Angelo, Nuovi copisti nello "scriptorium" di Guarnerio d'Artegna : frammenti di un manoscritto della 'Rhetorica ad Herennium' nell'Archivio Parrocchiale di Fagagna, San Daniele del Friuli 1984 (Quaderni guarneriani 8). Als Vergleichsbeispiele für ähnliche Rankeninitialen auf Goldgrund, mit Ranken-Zweigen an den Extremitäten mit Diagonalschnitt endend, kann folgende Gruppe von Handschriften herangezogen werden: London, Victoria and Albert Museum, National Art Library, MSL/1956/366 (Lucanus, a. 1471). Siehe Kat.-Nr. 113, in R. Watson, Western illuminated manuscripts. A catalogue of works in the National Art Library from the eleventh to the early twentieth century, with a complete account of the George Reid Collection. Vol. II, London 2011, S. 610-613, Abb. S. 610, mit Initialen E und B; Oxford, Bodleian Library, MS Canon. Ital. 85, Boccaccio, Filocolo (Mantua, ca. 1463-1464), vgl. Initialen fol. 43r; London, British Library, Harley MS 3691 (a. 1457), vgl. Beschreibung und ausgewählte Abbildungen im online-Katalog der illuminierten Handschriften: http://www.bl.uk/catalogues/illuminatedmanuscripts. Zu dieser Gruppe gehört auch: London, British Library, Add. MS 14777 (Mantova). Siehe auch A. C. De la Mare and C. Reynolds, Illustrated Boccaccio manuscripts in Oxford Libraries, in Studi sul Boccaccio 20 (1991/92), S. 45-72; Alexander, The painted Book, S. 109-110. — Provenienz: Die Handschrift war ursprünglich höchstwahrscheinlich mit einem Holzdeckel mit Metallschließe gebunden. Im 18. Jahrhhundert gehörte das Buch dem Juristen und ab 1764 Ratsherrn in Leipzig Georg August Marche (1738-1783). Er studierte in Leipzig und Erfurt und war auch in Frankfurt tätig, bevor er nach Leipzig zurückkehrte. Ab 1767 Freimaurer. Zu seiner Person siehe Das gelehrte Sachsen: oder Verzeichniß derer in den Churfürstl. Sächs. und incorporirten Ländern jetztlebenden Schriftsteller und ihrer Schriften, gefertigt von Friedrich August Weiz, Leipzig 1780, S. 162; Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller, hg. von J. G. Meusel, Bd. 8, Leipzig 1808, S. 476; Fortsetzung und Ergänzungen zu Christian Gottlieb Jöchers allgemeinem Gelehrten-Lexico ..., von J. C. Adelung, 4: [Lubienietzki - Mounier], Leipzig 1813, Sp. 658; Allgemeines Handbuch der Freimaurerei, Bd 2, Leipzig 1865, S. 256. In einigen der genannten Biographien wird von G. A. Marche gesagt, dass er nach dem Studium eine "gelehrte Reise gemacht" habe. Vgl. auch Leipziger gelehrtes Tagebuch: auf das Jahr 1783, Band 2, Leipzig 1783, S. 55-56. Dies macht es wahrscheinlich, dass Marche diese Handschrift in Italien während seiner Reise nach der Promotion 1764 kaufen konnte. Ein Auktionskatalog seiner Bibliothek erschien 1784 in Leipzig: Catalogus Bibliothecae B. Georgii Augusti Marchii Iuris Utriusque Doctoris Et Senatoris Lipsiensis. Una Cum Appendice Aliorum Bonae Notae Librorum Ex Omni Eruditionis Genere De Quibus Auctio Publica A Die XV. Mart. MDCCLXXXIV. In Collegio Rubro Instituenda, Lipsiae 1784. Vgl. dort in der "Sectionis quartae, classis tertia. Libri manuscripti etc.", Nr. 3485, S. 241-242: "Extractus de Libro, qui dicitur Vasilographus, id est imperialis scriptura, quam Erithea Sibylla Babilonica ad petitionem Graecorum tempore Priami Regis edidit, e Chald. in Graec. et e Graec. in Lat. vers. (Cod. membran.)". Im Göttinger Exemplar des Auktionskatalogs erscheint dieser Titel mit einem Strich und einem Kreis am Rande (Bleistift) gekennzeichnet. Dies gilt auch für einen gedruckten Band der Epigrammata Graeca auf derselben Seite und weist auf die für den Erwerb ausgesuchten Bände hin. — Auf fol. 1r (Fußsteg) schwarzer ovaler Stempel (3,5 x 4,4 cm): EX BIBLIOTHECA REGIA ACAD. GEORGIÆ AUG:, in Benutzung ab ca. 1765. Über die Acquisition der Handschrift berichtet auch eine in schwarzer Tinte geschriebene Notiz auf fol. 10v: Aus der Bibliothek G. A. March I.U.D. et Senator zu Leipzig den 16ten Mertz 1784 erkauft. Im Manual des Jahres 1784, aufbewahrt im Bibliotheksarchiv der Niedersächsishen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, sind auf S. 111, unter dem Datum 24. Juli, die zwei oben genannten Bände des Auktionskatalogs verzeichnet: Epigrammata graeca … Mscpt. und Extracta de libro qui dicitur Vasilographus id est imperialis scriptura quem Erithea Sibylla babilonica … Cod. Membran.. In dieser Zeit hatte Christian Gottlob Heyne (1729-1812) das Amt des Bibliothekars der Universitätsbibliothek inne.

Göttingen 1, S. 19-20. — Jostmann, Sibilla, Nr. 32, S. 465.

Ir-v leer.

1r-9r Vaticinium Sibyllae Erythraeae. Extrakt ›Extracta de libro qui dicitur Vasilographus idest imperialis scriptura que Herithea Sibylla Babilonica ad peticionem Graecorum tempore Priami regis edidit quem de Caldeo sermone Dotapater [!] peritissimus in Graecum transtulit Tandem de errario Emanuelis imperatoris eductum Eugenii regis Siciliae ammiratus de Graeco transulit in Latinum‹. Titelinschrift in Capitalis auf elf Zeilen. Exquiritis a me o illustrissima turba Danaum … — … Hos autem in sortem demonum voret Avernus.Explicit liber Sybille Herithee [!] Babilonice‹. Diese Explicit-Doppelzeile ist in blauer Tinte in Capitalis geschrieben worden. Feine Verzierungen mit der Feder am Ende der letzten Zeile und am Fußsteg als Ausläufer der Diagonale des Buchstabens N.

9v Leer bis auf Nachtrag (wahrscheinlich 18. Jh.) auf zwei Zeilen in brauner Tinte: MODER VADER SÜSTER BRODER / MATER PATER SOR ERATER [!] (Niededeutsch/Latein). Es folgt einige Zeilen später in Kursive: Deest.

10r leer.

10v leer, bis auf bibliothekarische Erwerbungsnotiz (schwarze Tinte). Siehe oben.

Edition: O. Holder-Egger, Italienische Prophetieen des 13. Jahrhunderts. I., in: Neues Archiv der Gesellschaft für Ältere Deutsche Geschichtskunde 15 (1890), S. 143-178, hier S. 155-173, ohne Berücksichtigung dieser Handschrift. Jostmann, Sibilla, ediert S. 512-527 die Rezension L2. Nach Jostmann gehört die Göttinger Handschrift zur Textgruppe L1, um 1248/49 entstanden, einer der zwei Rezensionen der längeren Fassung des Textes (vgl. S. 26). Die Göttinger Handschrift weist ausführlichere Glossen als andere Codices auf und ist mit folgenden Handschriften verwandt: Budapest, Universitätsbibliothek, Collectio Prayana Tomus XLIX lat. 13899; Firenze, Biblioteca Medicea Laurenziana, Ashb. 690; Firenze, Biblioteca Nazionale. Magl. XXV 626.

Literatur: V. Falkenhausen, Art. Eugenio da Palermo, in Dizionario Biografico degli Italiani 43 (1993), S. 502-505. CALMA 3, S. 293-294. C. Jostmann, Die Sibilla Erithrea. Eine historiographische Skizze, in: Florensia 15 (2001), S. 109-141. Jostmann, Sibilla, bes. S. 47-48, 51, 55, 465. A. Holdenried, De oraculis gentilium and the Sibilla Erithea Babilonica: Pseudo-Joachimite Prophecy in a New Intellectual Context, in Joachim of Fiore and the influence of inspiration. Essays in memory of Marjorie E. Reeves (1905 - 2003), hrsg. von J. E. Wannenmacher, Farnham 2013 (Church, faith and culture in the medieval west), S. 253-281.


Abgekürzt zitierte Literatur

CALMA C.A.L.M.A. Compendium auctorum latinorum medii aevi, hrsg. von M. Lapidge u.a., Bd. 1–, Firenze 1999–
Göttingen 1 Die Handschriften in Göttingen, Bd. 1: Universitäts-Bibliothek: Philologie, Literärgeschichte, Philosophie, Jurisprudenz, beschrieben von W. Meyer, Berlin 1893 (Verzeichniss der Handschriften im Preussischen Staate, Abt. 1: Hannover. Bd. 1: Die Handschriften in Göttingen 1)
Jostmann, Sibilla C. Jostmann, Sibilla Erithea Babilonica. Papsttum und Prophetie im 13. Jahrhundert, Hannover 2006 (MGH. Schriften 54)