Lukas Wolfinger: In Vorbereitung: Katalog der mittelalterlichen volkssprachigen Handschriften der SUB Göttingen, beschrieben von Lukas Wolfinger. (Vorläufige Beschreibung)

Göttingen, Staats- und Universitätsbibliothek, 8° Cod. Ms. theol. 294i

Geistlicher Sammelband

Papier — VII, 173 Bl. (davon Druck: 138 Bl.) — 13 × 9,5 cm — Köln — 15. Jh., 4. V.

Papier, jedoch ein Doppelbl. am Ende des Bandes aus Pergament (Bl. 171 u. 173); Wasserzeichen: Kelch (WZIS DE3270-theol294_i_148; die ähnlichsten Wasserzeichen stammen vom Ende des 15./Anfang des 16. Jhs.); Kelch (WZIS DE3270-theol294_i_144; die ähnlichsten Wasserzeichen Ende des 15./Anfang des 16. Jhs.). Lagen: Dem Druck – 16 IV (128). V (138) – sind ein ma. Vorsatzbl. sowie ein ma. Ternio vorangebunden sowie folgende Lagen nachgebunden: 4 IV (170). II-1 (173); gemeinsame Bleistiftfoliierung (modern) für den gedruckten wie den handschriftlichen Teil: 1-172 (Inkunabel: 1-137r bzw. 138v; Handschrift: 137v bzw. 139r-172); der Druck weist auf Bl. 9-137 auch eine ma. Foliierung auf (I-C, dann I-XXIXC); unterschiedliche Größe des Schriftraums bei den von verschiedenen Händen geschriebenen Teilen: auf 137v-138r Schriftraum: 9,5 × 6-6,5 cm; einspaltig, 18 Zeilen; auf 139r-170r Schriftraum: 8-8,7 × 5,6-6,2 cm; einspaltig, 16-18 Zeilen; auf 170v-171v Schriftraum: 8,3-9,3 × 5,7-7,5 cm; einspaltig, 14-16 Zeilen; der Haupttext des handschriftlichen Teils von einer Hand geschrieben (Nr. IV; gut lesbare aber anspruchslose schlaufenlose Bastarda); der Besitzvermerk auf IIv und die kleineren textlichen Beigaben wohl von 4 weiteren Händen: I: IIv; II: VIv-VIIr; III: 137v-138r und 170v-171r; IV: 139r-170r; V: 171v; der Haupttext des handschriftlichen Teils rubriziert; nur ganz schlichte Initialen oder Lombarden in Rot.

Spätmittelalterlicher Einband aus der Kölner Werkstatt 'Sankt Katharina I', die für den Zeitraum von 1477 bis 1506 nachgewiesen ist (vgl. dazu EBDB w002492); braunes Leder über Holzdeckeln; ehemals zwei Metallschließen; Streicheisenlinien und sieben Blindstempel (1.: Heilige - Katharina, EBDB s017471; 2.: Löwe - schreitend - steigend - springend, EBDB s017485; 3.: Blüte - Vierblatt - mit Zwischenblättern - zwei Blattkränze, EBDB s017478; 4.: Einhorn - stehend - laufend, EBDB s017477; 5.: Blatt - einteilig, mit gerader Mittelrispe, gefiedert oder gezähnt, EBDB s017491; 6.: Lilie - Mittelblatt rhombisch - unterer Abschluss lilienförmig, EBDB s017486; 7.: Kreuz, EBDB s017484); das Leder an der Außenseite des hinteren Deckels erheblich in Mitleidenschaft gezogen; der Einband kann frühestens im Jahr 1486, dem Erscheinungsjahr des Druckes, angefertigt worden sein; am Rücken unten das Signaturenschildchen der SUB Göttingen (Cod. MS. theol. 294i). Der aktuelle VS und HS wurden bei der Restaurierung neu eingefügt, die Pergamentbl. des ma. VS und HS wurden dabei vor bzw. nach dem Buchblock eingebunden; auf dem neuen VS oben mit Bleistift eingetragen die moderne Göttinger Signatur Cod. Ms. theol. 294i; darunter – gleichfalls mit Bleistift – ein Verweis auf den Eintrag im Gesamtverzeichnis der Wiegendrucke: GW 7144; auf dem ma. VS ebenfalls in Bleistift eingetragen die moderne Göttinger Signatur; zudem zwei Signaturen älterer Provenienz: L. 4. n. 22 (gestrichen) sowie – darunter – L. 4. n. 47. (s. dazu unter Herkunft); auf dem ma. HS rechts oben der Eintrag 12578 (?) (die 5 könnte auch als s oder 8 zu lesen sein); rechts unten in Bleistift vermerkt die ältere Göttinger Signatur Theol. Mor. 202 b.

Herkunft: Die handschriftlichen Teile dürften im nahen zeitlichen Umfeld des Kölner Drucks von 1486 entstanden sein, dem sie beigefügt sind; gleiches gilt für den Einband, der anhand der verwendeten Blindstempel der so genannten Kölner Werkstatt 'Sankt Katharina I' zuzuweisen ist, die für den Zeitraum von 1477 bis 1506 belegt ist. Damit dürfte der gesamte Band aus Köln oder seinem Umfeld stammen. Für diese Herkunft sprechen auch die ripuarische Schreibsprache sowie vor allem die weitere Geschichte des Bandes und die Parallelüberlieferung der auf 139r-170r enthaltenen Passionsharmonie (s. unter Inhalt). — Nicht nachweisbar ist zwar fraw Gehult, die auf IIv in einem Eintrag – wohl des 17. Jhs. – als Vorbesitzerin genannt wird. Der Besitzvermerk Liber Bibliothecae novit. Carmeli Colon. auf Iv sowie mehrere Altsignaturen ebd. und auf dem ma. VS belegen jedoch, dass der Band längere Zeit zum Buchbestand des Kölner Karmeliterklosters gehörte, genauer gesagt zur Bibliothek von dessen Novizenhaus – wenigstens zeitweise (dass die Altsignaturen aus dem Kölner Karmeliterkloster und nicht aus einem anderen Kontext stammen, zeigen analog gebildete Signaturen in anderen Büchern dieses Konvents; vgl. dazu etwa Darmstadt 6, S. 59, Nr. 31 oder Köln HA 6,1, S. 87-89, Sign. W 203, hier S. 87). Zu vermuten wäre, dass er bis 1802, als das Karmeliterkloster im Zuge der französischen Herrschaft aufgelöst wurde, in demselben verblieb. Nur wenig später, am 14. Nov. 1804, wurde er nämlich auf einer Auktion in Köln zum Verkauf angeboten (s. dazu das Manuale der UB Göttingen zu diesem Jahr, S. 42 ff., hier S. 46-47, wo der Druck und der handschriftliche Teil des Bandes getrennt aufgelistet und die entsprechende Seitenzahl und Nummer im Auktionskatalog genannt werden: Pag. 284 bzw. N°. 3019). Auf dieser Auktion wurde er für die Bibliothek der Georgia Augusta erworben (s. dazu den Eintrag im Manuale der UB Göttingen zum Jahr 1805, hier S. 46-47); dazu passend der etwas kleinere, ab ca. 1765 verwendete Besitzstempel der UB Göttingen auf 1v.

Göttingen 2, S. 476. — Handschriftencensus.

Iv leer, abgesehen von dem Besitzvermerk Liber Bibliothecae novit. Carmeli Colon. auf Iv sowie der dazugehörigen Alt-Signatur F/ Lin: i: N: 17 darunter.

IIv-VIr leer, abgesehen von dem Besitzvermerk Diß buch hort zu fraw Gehult; wer es find der gib es wieder oder bock stus in der nider auf IIv.

VIv Sinnspruch. Dytd swych mydt, all dynck hait syn tzijt, laiss ouer gaynn woilt du altzijt vryden haynn.

VIIr Hl. Bernhard (zugeschrieben): Gebete (dt.). Vnse hilge vader sent Bernardus sprycht: O soisse Jhesus als ich hoeren noemen dich all mynn hertz dat ervroewet sich … — … wat mach myr dan lieuer gescheynn als ich dich yntgaynnwordich seynn. Ouch spricht der selue: O Maria yt is dyr so leyfflich kussen … — … vnd vruntlich vmb helfenn so dycken wyr sprechen gegroit sijstu Maria.

1r-138v Dietrich Coelde: Christenspiegel (Druck). Dyt sint schone suuerliche leren wie ein mynsche wayl leuen ind wail steruen sal. Es handelt sich um den 1486 zu Köln erschienenen Druck dieses Werkes (GW 07144); auf Bl. 9-137 mittelalterliche Blattzählung; von derselben Hand überdies im Inhaltsverzeichnis auf 3v-8r am Rand eingetragen die Seitenzahlen zu den entsprechenden Kapiteln. (137v-138r) Ablassgebet , handschriftlich eingetragen. Dit nageschreuen gebet is zo Rome in Sent Johannes kyrchen vssgehuwen yn eynen steyn ind wart gegeuen allen kyrsten mynschen de dit sprechen vp eren kneen XXIIII M iair wairachtich afflais doitlicher sunden. [O] Here alre gnedichste vader ich bidden dich dat du dorch der lyefften der vreuden de dyn leue moider hatte do sy dich sach ind du yr dich offenbardes yn der alre hillichsten paisnacht … — … vp dat ich dynen willen moge vollenbrengen alle dage myns leuens amen. Pater noster. Druck (fehlerhaft) bei: Drees Der Christenspiegel, S. 20*; mndl. auch überliefert in: Brüssel, Koninklijke Bibliothek, Ms 12079 (vgl. Rudy Rubrics S. 193).

139r-170r Passionsharmonie (dt.). (139r-140v) Vorrede. ›Dit is eyn vurrede van der passien vns herren‹. Dat leuen ind de lere ind dat liden vns herren Iehsu Christi zo ouerlesen ind niet zo ouerdencken vordert wenich ind zo ouerdencken ind niet zo vulgen vordert ouch seir wenich … — … die groisse mynne Christi de her zo dir hadde ind nach hait ind dyns selues onminne onlidsamkeit ind vndancksamheit. (140v-170r) ›Hyr begint de passie vns heren Iehsu Christi na der concordancien der vier euengeliisten vnder eyn ander geconcordiert ind is gedeilt zo articulen de men mit sunderheit ouerdencken mach ind in VII getzide gescheiden; viler dat mit rodem vnderstrichen is dat en schriuent die euengelisten nyet. Dit is die metten.Do Ihesus dit gespochen hadde, doe gienck he mit synen iongeren in eyn dorp dat heisth getzemeni ouer eyn wasser dat heisth cedron da was eyn hoff da er ginck he in mit synen iongeren … — … Do gyngen sy en weich ind lachten hoeder by dat graff ind besegelden den steyn ind beualen den hoedern dat graf wol ze hoeden. laus deo. Hyr endet die passie vns heren Ihesu Cristi etc. Diese Variante der niederländisch-deutschen Passionsharmonie (überliefert auch in einer Handschrift aus dem ersten Viertel des 16. Jahrhunderts, die wohl aus dem Augustinerinnenkloster St. Maria Magdalena in Köln stammt und gleichfalls in ripuarischer Schreibsprache geschrieben ist; heute Darmstadt, Hessische Universitäts- und Landesbibliothek, Hs. 1933; der Text der Passionsharmonie hier auf 368r-394v; vgl. dazu Darmstadt 1, S. 205-209, Nr. 51 sowie Meyer schone historie, S. 134-136) ist um eine Vorrede und mehrere andere Texteinschübe ergänzt, die Anweisungen zur Lektüre und Andachtspraxis sowie Ergänzungen zur Passionsgeschichte der Evangelien enthalten – betreffend die Entkleidung Christi und seine Verhöhnung an der Säule, das Aufsetzen der Dornenkrone und das Durchbohren der Hände und Füße mit den Nägeln sowie die Aufrichtung des Kreuzes (auf 158v, 159r und 160v-162r; diese Textpassagen jeweils rot unterstrichen); überdies ist der Text in Abschnitte nach den Tagzeiten eingeteilt (140r-150v: Mette; 150v-154v: Prim, 154v-160v: Terz, 160v-165r: Sext, 165r-167r: Non, 167r-169r: Vesper, 169r-170r: Complet). Allgemein zur niederländisch-deutschen Evangelienharmonie siehe die Edition bei: Meier Het leven (hier S. 216, Cap. 223 bis S. 234, Cap. 233 zu der daraus entnommenen Passionsharmonie); zudem 2VL 2, Sp. 646-649, Nr. I.

170v-171r Acht Verse St. Bernhards (dt.). Here erluchte myne ougen dat ich niet entslayffe in dem doide … — … ind sprach, du bist myne hoffenunge ind myn teil is in der erden der leuendigen. Druck: Stammler Spätlese S. 13 f.; zu diesem Text und seiner reichen Überlieferung in deutscher und lateinischer Fassung vgl. etwa Wiederkehr Das Hermetschwiler Gebetbuch, S. 105; Ochsenbein Bernhard von Clairvaux, S. 213-218; Park Johann Arndts Paradiesgärtlein, S. 128-129.

171v Sixtus IV. (zugeschrieben): Mariengebet (dt.). Got grussze dich du aller heiligest Maria eyn muter gotes eyn konigen der hymmel eyn phorte desz paradises … — … erlosze mich ven allen vbel vnnd bith vor meyn sundt. Amen. Deutsche Übertragung des lat. Ablassgebets 'Ave sanctissima Maria / mater Dei regina coeli / porta paradisi domina mundi ...'; zu diesem Gebet, seiner Rezeption und seinem Text siehe etwa: Blackburn The virgin sowie Rudy Rubrics, hier speziell S. 164. (172r-173v) leer.


Abgekürzt zitierte Literatur

Darmstadt 1 Deutsche und niederländische Gebetbuchhandschriften der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, beschrieben von G. Achten und H. Knaus, Wiesbaden 1959 (Die Handschriften der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt 1)
EBDB Einbanddatenbank (http://www.hist-einband.de/, besonders die Sammlung Wolfenbüttel)
Göttingen 2 Die Handschriften in Göttingen, Bd. 2: Universitäts-Bibliothek: Geschichte, Karten, Naturwissenschaften, Theologie, Handschriften aus Lüneburg, beschrieben von W. Meyer, Berlin 1893 (Verzeichniss der Handschriften im Preussischen Staate, Abt. 1: Hannover. Bd. 1: Die Handschriften in Göttingen 2)
Handschriftencensus Handschriftencensus. Eine Bestandsaufnahme der handschriftlichen Überlieferung deutschsprachiger Texte des Mittelalters. Online-Datenbank: https://handschriftencensus.de/
Stammler Spätlese W. Stammler, Spätlese des Mittelalters. Bd. 2: Religiöses Schrifttum. Berlin 1965 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 19)
2VL Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 1–12, hrsg. von K. Ruh u. a., 2., völlig neu bearbeitete Aufl., Berlin, New York 1978–2005, Ergänzungsbde.: Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon, Bd. 1–3, hrsg. von F. J. Worstbrock, Berlin, New York 2005–2015
WZIS Wasserzeichen-Informationssystem. Landesarchiv Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart (http://www.wasserzeichen-online.de/wzis/index.php)