Lukas Wolfinger: In Vorbereitung: Katalog der mittelalterlichen volkssprachigen Handschriften der SUB Göttingen, beschrieben von Lukas Wolfinger. (Vorläufige Beschreibung)
Göttingen, Staats- und Universitätsbibliothek, 8° Cod. Ms. Uffenb. 51 Cim.
Göttinger Musterbuch
Pergament — 11 Bl. — 15,8 × 10,5 cm — Mainz (?) — um 1440-1460
Pergament. Lagen: Neben zwei Doppelbl., die dem Musterbuch bei der jüngsten Restaurierung zum Schutz als Vorsatz- und Nachsatzbll. beigefügt wurden, besteht dieses aus: III+5 (11); in die drei Doppelblätter eines Ternio sind in der Lagenmitte fünf Einzelbl. eingefügt (es ist eher nicht davon auszugehen, dass hier Einzelblätter weggeschnitten statt hinzugefügt wurden; der Text des Göttinger Musterbuchs entspricht in den betreffenden Passagen nämlich jenem der Berliner Parallelüberlieferung); die alte Foliierung, die auf den Bl. 4-5 einerseits der aktuellen Blattfolge zuwiderläuft (V vor IV) und andererseits auf den Bl. 7-8 aussetzt, um dann auf 9r mit VI einfach weiterzulaufen, wirft jedoch die Frage auf, ob bzw. inwieweit die Zusammenstellung der Lage/Blätter oder des Textes eine Störung erfahren hat (s. dazu unter Inhalt). Bleistiftfoliierung (modern): 1-11; zudem - wohl aus der Entstehungszeit stammende - Blattzählung in römischen Zahlzeichen auf 2r (II), 3r (III), 4r (V), 5r (IIII) – fehlend hingegen auf 6r-8v – 9r (VI), 10r (VII) und 11r (VIII). Schriftraum: 11,2 × 7,5 cm, einspaltig, 30-36 Zeilen (je nach Anzahl der eingefügten Illustrationen auch weniger Textzeilen); Text beinahe durchgängig von einer Hand in Bastarda geschrieben; allerdings auf der gesamten Seite 5r und der ersten Seitenhälfte von 5v erkennbar abweichende Buchstabenformen bzw. Schrift, die von anderer Hand stammen könnte (ebenfalls Bastarda, insgesamt ähnliche Formen; jedoch abweichende Gestaltung, etwa bei w oder r, zudem stärker aufrecht oder sogar linksgeneigt; parallele kleine Striche über u und ü). Am Seitenrand finden sich mehrfach Nota-Vermerke. Rubriziert; rote Unterstreichungen und Paragraphenzeichen. Zudem einfache Initialen in Rot (zumeist zweizeilig). Zwischen die Textpassagen eingefügt sind bildliche Darstellungen, die die beschriebene Anfertigung von Ornamentik illustrieren. Es handelt sich um Vorlagen/Muster: I.) für drei ähnliche Arten von gewundenem 'Laubwerk' bzw. Lambrequin (auf 1r-2v, in grün und dunkel- bzw. purpurrot; dabei Abbildungen von sechs Arbeitsschritten; auf 2v-3r, in blau-rot; dabei Abbildungen von fünf Schritten; auf 3v-4r, in gelb/gold-blau; ebenfalls Abbildungen von fünf Herstellungsschritten); II.) für vier Arten von buntgemusterten Bildhintergründen bzw. Ornamenten (alle auf Vierecken und Blüten beruhend und in denselben Farben, mit Gold, aber in unterschiedlicher Ausgestaltung; a: auf 7r-8r, Abbildungen von zehn Schritten der Herstellung; b: auf 8v, sechs Stadien sind dargestellt; c: auf 9r, sechs Stadien; d: auf 9v, nur zwei Musterdarstellungen); III.) auf 10v, für die ornamentale Gestaltung von Initialen; IV.) auf 10v, für eine Knospe /Rose; V.) auf 11r-v für drei Stabwerk-Ranken bzw. Lambrequin. Die Muster bei Nr. I-II bieten eine didaktische Aufbereitung in Bildern bzw. illustrieren die Herstellung der betreffenden Ornamente, indem sie mehrere Stadien derselben darstellen (in diesem Exemplar des Göttinger Musterbuchs allerdings in weniger Arbeitsschritten als im Berliner Exemplar dieses Musterbuchs; vgl. etwa , S. 181 und S. 187-210).
Das Göttinger Musterbuch war bis zur jüngsten Restaurierung eingebunden in einen Umschlag aus festem, dunklem bzw. blaugrauem Papier (mit Leinenverstärkung am Rücken; wohl 19./beginnendes 20. Jh.); außen auf dem vorderen Blatt desselben aufgeklebt zwei bedruckte Papierschildchen, eines davon mit der Göttinger Signatur (Cod. MS. Uffenb. 51), das andere mit der Angabe Cim sowie dem handschriftlichen Eintrag Panzerschrank; innen mit Bleistift ebenfalls vermerkt die Göttinger Signatur: Cod. Uffenb. 51; darunter - gleichfalls in Bleistift, aber gestrichen - (963.); quer eingeklebt die gedruckte Beschreibung von Wilhelm Meyer; am unteren Rand zudem – partiell auf die eingeklebte Beschreibung übergreifend – ein Besitzstempel der SUB Göttingen (Niedersächs./ Staats- u. Univ./Bibliothek/Göttingen). Das in diesen Umschlag eingebundene Musterbuch wurde darüber hinaus noch in einer Mappe aufbewahrt: blau-grau gemustertes Papier über Karton, am Rücken und den Ecken dunkelblaues Leinen; auf dem vorderen Deckel mittig auf grauem Schildchen die gedruckte Inhaltsangabe Anleitung zum Ornamentmalen auf Pergament/ Pergament; aufgeklebt auf dem VD zudem das gedruckte Papierschildchen mit der Angabe Cim. (mit dem handschriftlichen Eintrag Panzerschrank) sowie ein Papierschildchen, auf dem handschriftlich die Signatur eingetragen ist (Cod. Ms. Uffenb. 51). Auf der Innenseite des VD am unteren Rand der bereits genannte Besitzstempel der Göttinger Bibliothek (Niedersächs./ Staats- u. Univ./Bibliothek/Göttingen); zudem am oberen Rand eingeklebt das gedruckte Formular Auch als Mikroform vorhanden unter Sign.: mit dem handschriftlichen Eintrag MR 8° Cod. Ms. Uffenb. 51 Cim.. Sowohl der innere Umschlag als auch die äußere Mappe, von denen das Musterbuch früher geschützt war, sind nun als Beilage bei demselben verwahrt. Das Musterbuch selbst wurde bei der letzten Restaurierung in einen neuen Einband aus weißem Leder eingebunden; der VS und HS sind leer, allerdings ist auf der Versoseite des zweiten Vorsatzblattes, das im Zuge dieser Neubindung eingefügt wurde, die moderne Göttinger Signatur eingetragen (8° Cod. Ms. Uff. 51 Cim.).
Herkunft: Das Göttinger Musterbuch dürfte im Kontext einer Buchmaler-Werkstatt entstanden sein, die in Mainz tätig war. Dafür spricht neben der rheinfränkischen Schreibsprache vor allem eine Gruppe von aus Mainz stammenden Handschriften und Inkunabeln, die nach den Anweisungen des Musterbuchs verziert sind und einer gemeinsamen Werkstatt zuzuordnen sein könnten, worauf nicht zuletzt Übereinstimmungen in den verwendeten Farben hindeuten. Auch das Göttinger Exemplar der Gutenberg-Bibel weist, wie naturwissenschaftliche Untersuchungen der verwendeten Farbmaterialien zeigen, so starke Analogien zum Göttinger Musterbuch auf, dass man "beide Handschriften mit sehr großer Wahrscheinlichkeit einem Skriptorium zuweisen kann" (BIBLIOTH. GEORG. AVGVST. DONAT. UFFENBACH 1769.). Das Musterbuch fand hier vorerst keine größere Beachtung, auch dann noch, als Wilhelm Meyer es in seinem Handschriftenkatalog beschrieben hatte ( , S. 298-299). Die Bedeutung der Handschrift "wurde erst Mitte der 1940er Jahre von dem damaligen Göttinger Bibliothekar Dr. Edmund Will [...] erkannt [...]. Aufgrund der Notizen von Edmund Will konnte Hellmuth Lehmann-Haupt 1972 seine Beschreibung des Musterbuchs erarbeiten." ( , S. 63).
, S. 66; s. auch , S. 67-72). Das handliche, für die alltagspraktische Verwendung günstige Format des Göttinger Musterbuchs, sein stark didaktischer Charakter, der in dieser Form ungewöhnlich ist, und der Umstand, dass es mit dem 'Berliner Musterbuch' – auch 'Lappwerck' genannt - eine weitgehend übereinstimmende Parallelhandschrift gibt ( Berlin, Staatl. Museen - Kupferstichkabinett, Cod. 78 A 22; vgl. dazu etwa ; 3, Sp. 183-184), legt eine Einordnung des Göttinger Musterbuchs in die damals aktuellen Entwicklungen der Buchherstellung in Mainz nahe: Einerseits bot es „eine Art Übungsbuch für angehende Miniatoren" und andererseits „eine Vorlagensammlung für die rationalisierte Arbeit in einem Buchmaleratelier" ( , S. 184). Es erlaubte eine Erhöhung der Geschwindigkeit, sowohl was die Ausbildung von spezialisierten Fachkräften als auch, was die Ausführung von Buchschmuck betraf. Beides war wohl gerade vor dem Hintergrund der Möglichkeiten und Erfordernisse relevant, die stärker rationalisierte Formen der Buchherstellung im Allgemeinen und der Buchdruck im Speziellen mit sich brachten: Die ungleich größere Menge an Büchern, die damit innerhalb eines kurzen Zeitraumes erzeugt werden konnte, machte es nötig, diese innerhalb kurzer Zeit mit Buchschmuck versehen zu können (wenigstens sofern das nachgefragt wurde). Der außergewöhnliche Umstand, dass von dem vorliegenden Musterbuch, das als Hilfestellung bzw. Lehrbuch für 'Anfänger' bzw. unerfahrene Maler diente, zwei aus ca. derselben Zeit und ca. demselben Raum stammende Exemplare vorhanden sind, passt zu einer solchen Einordnung der Handschrift in die Phase des technologischen Wandels um 1450 ebenso gut wie die größere Zahl von erhaltenen Handschriften und Drucken, die mit Buchschmuck nach den darin enthaltenen Mustern gestaltet sind. — Die mittelalterliche und frühneuzeitliche Besitzgeschichte des Musterbuchs ist nicht nachvollziehbar. Erst im 18. Jahrhundert ist es im Besitz des Frankfurter Patriziers Johann Friedrich Armand von Uffenbach (1687-1769) nachweisbar, der als Kupferstecher, Ingenieur, Sammler, Architekt, Forscher und Ingenieur eine große Bibliothek besaß. Bereits 1736 überschrieb er diese der Göttinger Universitätsbibliothek für den Fall seines Ablebens, der 1769 eintrat. — Trotz Streitigkeiten mit den Erben Uffenbachs gelangten die Bestände seiner Bibliothek - und damit auch das Musterbuch - im selben Jahr nach Göttingen, wo sie entsprechend den Vereinbarungen mit Uffenbach als Einheit erhalten und aufgestellt wurden (auf 1r und 1v dementsprechend der spezielle Besitzstempel, der in Göttingen für diesen Bestand angefertigt und verwendet wurde und die Aufschrift trägt:, S. 298-299. — 3, Sp. 183-184. — . — . — . — . — . — , S. 63-101. — . — . — .
1r-11v Göttinger Musterbuch. (1r-4r) Anleitung zur Anfertigung von Blatt-Ornamentik bzw. 'Laubwerk'. ›laupp werck‹. Daz laupp sal man zu dem ersten mit eim blij oder mit eim stifft entwerffen dar nach sal man daz lapp usz rissen mit einer federn … — … vnd lant es stan ein trie tage oder vier vnd ie lenger er stat so er besser ist vnd wirt etc. (4v-6v) Anleitung zur Herstellung und Verwendung von Farben. ›Wie du alle varbe temperieren vnd riben sullent etc.‹ Blo sullent ir nit riben es sij dan gar grop is; ist es gropp so ribent es uff eim ribestein der vast glatt sij … — … Merckent daz ir daz gummy wasser nit zu starck machen sullent vnd sullent es auch alle zijt suber vnd rein halten stopp vnd nit deckent es. (6v-9v) Anleitung zur Anfertigung von Schachbrett- und Rauten-Ornamenten. (6v-8r) 1. Ornamentform bzw. 'Feldung'. Vier feldu[n]g dar usz gan daz merteyl alle feldung etc. Hye sullent ir mircken so ir wollent ein feldung machen in buchstaben odir in bildung so sullent ir ... (8r-8v) 2. Ornamentform bzw. 'Feldung'. Dysz ist die ander feldung die sullent ir lingeren anstrichen vnd vergulden also hie in diesen zwey ringel stat ... (9r) 3. Ornamentform bzw. 'Feldung'. ›Die dritte feldung‹. Dysz ist die dritte feldung die lingerent vnd strichent sie an vnd verguldent sie also ir daz in dysse zwerer nach gemachten ringelin findent etc. ... (9v) 4. Ornamentform bzw. 'Feldung'. ›Dye vierde feldunge‹. Disz ist die vierde feldung die lingerent und verguldent also ir die forder feldung gemacht hant … — … vnd machent in daz blo wisz odir rot dupffel vnd in daz rosel wisz odir rot dupffel also hie stott. (9v-10r) Anleitung zur Anfertigung von Goldfarbenersatz bzw. 'aurum musicum'. ›Nota aurum musicum‹. Nement II lot zin der do wol ist gelutert vnd dunt den in ein goltsmyd tygel vnd lant en wol zugan uff kalen vnd nement dan II lot quecksilber … — … so hant ir ob got wil gut aurum musicum daz aurum musicum ribent vnd temperieren also do vornan geschrieben stott etc. (11r-v) Musterbilder für Initialen, Blüten und Laubwerk/Ranken. Das Göttinger Musterbuch zeichnet sich im Vergleich zu anderen Musterbüchern besonders durch seine didaktische Aufbereitung aus, die eine Schritt-für-Schritt-Anleitung für die Anfertigung von ornamentalem Buchschmuck in Wort und Bild bietet, mit zahlreichen praktischen Tipps; in seinen Illuminationen ist es qualitätvoller gearbeitet als seine Schwesterhandschrift, das Berliner Musterbuch (s. unter Herkunft), das aus derselben Zeit und einem vergleichbaren – wenn nicht demselben - Kontext stammt wie die Göttinger Handschrift (rheinfränkischer oder elsässischer Raum). Beide Handschriften wurden, wie unterschiedliche Abschreibfehler zeigen, nicht direkt „voneinander abgeschrieben, sondern gehen auf eine gemeinsame Quelle zurück" ( , S. 64; zu den Unterschieden im Text der beiden Musterbücher s. , S. 182, mit Anm. 24). Allerdings ist das Berliner Musterbuch etwas umfangreicher, da es mehr Illustrationen bzw. Muster beinhaltet und überdies einen zusätzlichen Abschnitt über die Gestaltung von Goldgründen besitzt (vgl. ebd., S. 181 und S. 196-197). Zu fragen wäre, inwieweit das Fehlen dieses Abschnitts in der Göttinger Handschrift das Ergebnis bewusster Auswahl oder eines Versehens war. Wie die gerade in dem betreffenden Abschnitt falsche und partiell fehlende, bislang aber offenbar nicht beachtete alte Foliierung und die unregelmäßige Zusammensetzung der Lage sowie der Schrift- oder Handwechsel auf 5r-v andeuten (s. dazu unter Foliierung, Lagen und Schrift), könnte es bei der Erstellung des Göttinger Musterbuchs nämlich unbeabsichtigt zu einem Fehler bzw. einer Fehlstelle gekommen sein. Ein mit dem Göttinger Musterbuch verwandtes, aber deutlich umfangreicheres Lehrbuch bietet das sogenannte Colmarer Kunstbuch, das laut Kolophon 1478 zwar tatsächlich in Colmar vollendet wurde, gleichwohl aber auch eine enge Verbindung zu Mainz aufweist (vgl. etwa , S. 185). Druck bzw. Edition und Faksimilia: ; , S. 81-101; (der Text ist ebd. parallel gedruckt zu dem des Berliner Musterbuchs und den entsprechenden Textpassagen des Colmarer 'Kunstbuchs').
Abgekürzt zitierte Literatur