Kristina Stöbener, Tübingen 2021 (Vorläufige Beschreibung)

Bremen, Staats- und Universitätsbibliothek, msa 0377

Graduale

Pergament · 148 Bl. · 51 x 34 · Nord- oder Nordwestdeutschland · 16. Jh., 1. Drittel

Lagen: 11 IV88 + (IV–2)104(!) + IV112 + III118 + IV126 + (IV–2)134(!) + (IV–1)141 + (IV–3)158(!) + IV182(!) + (IV–2)188. · Die gezählten Bl. 89–98, 130–131, 142–153 und 159–174 (3 Quaternionen) mit Textverlust entfernt, zu Beginn fehlen ebenfalls mindestens zwei Lagen (Kalendar ?), am Schluss zwei weitere Bll. mit dem Ende des Temporale · zeitgenössische Blattzählung in römischen Zahlen: ICLXXXVIII, dazu parallele Zählung des späten 16./17. Jh. (passend zum Inhaltsverzeichnis) in arabischen Ziffern: 1188. · an den vorderen unteren Blatt-Ecken stark abgegriffen, Pergament steif und wellig, im hinteren Teil des Codex erheblicher Wasserschaden mit Textverlusten, die beiden ersten vorhandenen Lagen sind lose. · Schriftraum: 44 × 22 · 9 Zeilen, über jeder Textzeile ein Notensystem aus fünf roten Linien mit C-Schlüssel und Quadratnotation · sehr regelmäßige Textualis rotunda, die wohl bewusst zeitgenössische Drucktypen imitiert · eine Hand · rubriziert; am Beginn der Introitus, Alleluia, Tractus, Offertorien und Communiones schlichte rote sekundäre Initialen in Unzialform mit Silhouettenornamenten, meist über eine Text- und Notenzeile reichend; die Psalmverse und alle Versikel werden von komplex und vielfältig gestalteten, sorgfältig ausgeführten Cadellen eingeleitet; insgesamt sieben sehr qualitätvolle Fleuronnéeinitialen in zwei Gestaltungsformen: 1) 1v (dominica I adventus): Fleuronnéeinitiale A in Unzialform über je zwei Text- und Notenzeilen, Buchstabenkörper als littera duplex in komplexen vegetabilen Schnitten von Rot und Blau geteilt, umgeben von einem quadratischen Rahmen aus zwölf eng parallel geführten Fadenranken in Rot und Blau, in deren Mitte komplexe Mäanderbänder in der Gegenfarbe eingelegt sind, der Rahmen ist außen mit einer wechselnd rot-blauen Perlreihe besetzt, Rahmenzwickel und Buchstabenhintergrund sind mit feinen roten Perlen gefüllt, auf denen sich komplex verschlungene, naturalistisch gestaltete Akanthusranken in schattierter Grisailledarstellung befinden; gleichartig gestaltet, allerdings mit schlichterem Rahmen ist auf Bl. 76v (dominica Resurrectionis) die Fleuronnéeinitiale R in Unzialform über je eine Text- und Notenzeile; 107v (Pfingsten): Fleuronnéeinitiale S in Unzialform über je eine Text- und Notenzeile, der Buchstabenkörper ist aus komplex gewundenen, plastisch gestalteten Akanthusblättern in Hellblau, Violettpurpur und Grün gebildet, die in der Mitte von einer vierpassartigen Blüte zusammengehalten werden, den Buchstaben umgibt ein schlichter, unverzierter Leistenrahmen, der wie bei den beiden anderen Initialen mit feinen roten Perlen gefüllt ist; 2) 11v (Missa I in festo nativitas domini): Fleuronnéeinitiale D in Unzialform über je eine Text- und Notenzeile, der rote Buchstabe mit Silhouettenornamenten ist identisch mit den übrigen sekundären Initialen, er befindet sich in einem hochrechteckigen Rahmen aus sieben eng parallel geführten blauen Fadenranken, der außen von einer breiteren, quaderartig geteilten Leiste begrenzt wird, Rahmenzwickel und Buchstabenhintergrund sind mit feinen blauen Perlen gefüllt, auf denen sich komplex verschlungene, naturalistisch gestaltete weiße Akanthusranken befinden; gleichartig gestaltete und gleich große Fleuronnéeinitialen finden sich auf den Bll. 16v (Missa III in festo nativitas domini, Initiale P), 116r (in festo sanctissimae Trinitatis, Initiale B) und 119v (in solemnitate Corporis Christi, Initiale C).

Spätgotischer Holzdeckelband (Bretter 2 cm stark), mit braungefärbtem, unverziertem Rindslederüberzug, vier Doppelbünde · zwei Riemenschließen mit Wulstlagern in Blattform, Schließenriemen und -haken unten verloren, nur noch Riemenreste am Hinterdeckel erhalten, der obere Riemen abgelöst erhalten, die blattförmigen Wulstlager aus Messing sind in reicher Durchbrucharbeit gestaltet und am Rand mit Krabben und Trifolien besetzt und von einer Kreuzblume gekrönt; die Schließenhaken sind identisch gestaltet · hinzu kommen als Beschläge 2 x 4 umgreifende, mit Eisennägeln befestigte Eckbeschläge aus Messing mit lang ausgezogener Spitze mit Kreuzblume und gleichartiger Durchbruchverzierung wie die Schließenlager und einem mittig ausgetriebenen Buckel; an den Ober- und Unterkanten 2 x 2 umgreifende Kantenbeschläge aus Messing in gleichartiger Gestaltung, dazu auf Vorderdeckel und Hinterdeckel je ein Mittelbeschlag aus kunstvoll zusammengefügten gotisierenden Doppeltrifolien, die an einem getriebenen Buckel befestigt sind; offenbar dienten die reichhaltigen Beschläge als einzige Verzierung des Einbandes.

Herkunft: Nach den Buchschmuck- und Schriftmerkmalen ist der Codex im ersten Viertel des 16. Jh. im nord- oder nordwestdeutschen Raum geschrieben worden; eine genauere Lokalisierung ist aufgrund fehlender Besitzeinträge und des insgesamt fragmentarischen Zustands nicht möglich. — Der Codex befand sich im späten 19. Jh. im Besitz des Juristen, sächsisch-altenburgischen Kammerherrn und Landtagsabgeordneten in Bückeburg, Börries Ernst Viktor Freiherr von Münchhausen-Moringen (1845–1931). Anschließend ist er in der Altkunsthandlung Goerke & Co., Georgsplatz 8, Hannover, nachgewiesen, vgl. dazu Handbuch des Kunstmarktes. Kunstadressbuch für das Deutsche Reich, Danzig und Deutsch-Österreich, Berlin 1926, S. 431. Dort erwarb ihn der Bremer Kaufmann, Kunstmäzen und Sammler Ludwig Roselius (1874–1943) zusammen mit anderen illuminierten Handschriftenfragmenten zum Preis von 3.000 RM (vgl. die entsprechenden Ankaufsunterlagen, die sich im Archiv der Museen Böttcherstraße Bremen befinden) und integrierte ihn in seine eigene Sammlung in der Bremer Böttcherstraße Nr. 6. Der Codex wurde dort unter der Inventarnummer B 4548 (vgl. Schildchen auf dem Spiegel des Hinterdeckels) aufbewahrt; ein rosa Exlibris mit der gedruckten Aufschrift Roselius-Haus Bremen und der hinzugeschriebenen alten Inventarnummer 2265 findet sich ebenfalls auf dem Spiegel des Hinterdeckels. — 2009 wurde der Codex zusammen mit fünf weiteren Handschriften der Kunstsammlungen Böttcherstraße der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen als Dauerleihgabe überlassen.

Ernst Wolfgang Mick, Das Roseliushaus in der Böttcherstraße. Begleitheft für den Besuch, Bremen 1975, S. 17. — Thomas Elsmann, Vom Wert des Beiwerkes: Eine Übergabe von historischen Handschriften- und Buchbeständen aus den Kunstsammlungen Böttcherstraße an die Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, in: Bremisches Jahrbuch 90 (2011), S. 11–24, hier S. 17 f. mit Abb. 2 und S. 20.

Vorderspiegel, Hinterspiegel Tabula (Inhaltsverzeichnis zur Handschrift). Auf die mit leeren Pergamentbll. beklebten Spiegel wurde vermutlich im 16. oder 17. Jh. jeweils ein Papierbl. aufgeklebt: 31 x 21, Schriftraum identisch, Kurrentschrift, 16./17. Jh., eine Hand, zweispaltig, vorn 35, hinten 30 Zeilen, Text: ein unbekannter Schreiber des 16. oder 17. Jh. notierte die einzelnen Rubriken, den Beginn der einzelnen Introitus und die Blattzahlen, die der von ihm selbst wohl zu diesem Zweck ergänzten neuzeitlichen Foliierung entsprechen.

1r [Officium in festo Corporis Christi (Schluss)]. Von dem im späteren 16. Jh. nachgetragenen Offizium ist nur der letzte Teil mit der Vesperantiphon CANTUS 204127 und der Magnificatantiphon CANTUS 203554 erhalten; der Beginn befand sich offenbar auf den verlorenen Bll. Die Notation der Nachträge entspricht der des Haupttextes.

1r 188v Graduale Romanum (Proprium de tempore per circulum anni). ›Proprium de tempore. Dominica prima Adventus ad missam introitus‹. (1v) Ad te levavi animam meam deus meus in te confido non erubescam … — … Amen dico vobis quidquid orantes petitis cre|| (Text bricht ab). Das heute unvollständige Graduale enthält die Introitus, Psalmen mit Versikel, Alleluia mit Versikel (bzw. in der Fastenzeit Tractus mit Versikeln), Offertorien und Communiones für die Messen der Sonntage und einiger Festtage des Jahreskreises. Die Offizien in vigilia nativitatis domini, in festo Innocentum, in dominica Palmarum und in Letaniis maioribus sind ausgelassen, ebenso diejenigen der vier Quatemberzeiten sowie fast aller Wochentage des Weihnachts- und Osterfestkreises mit Ausnahme des Aschermittwochs und jeweils der ersten beiden Tage nach Ostern und Pfingsten. In allen vorhandenen Offizien sind die Gradualresponsorien mit den zugehörigen Versikeln offenbar bewusst weggelassen. Im einzelnen sind folgende Formulare vorhanden: (1r4r) ›Dominica prima Adventus ad missam‹, (4r6v) ›Dominica II Adventus‹, (6v9r) ›Dominica III Adventus‹, (9r11v) ›Dominica quarta Adventus‹, (11v13v) ›In Nativitate Domini ad primam Missam in nocte‹, (13v16r) ›Ad secundam Missam in aurora‹, (16r18v) ›Ad tertiam Missam in die Nativitatis‹, (18v21v) ›In festo sancti Stephani Protomartyris‹, (21v24v) ›In festo sancti Joannis Apostoli et Evangeliste‹, (24v26v) ›Dominica infra Octavam Nativitatis Domini‹, (26v27v) ›In Circumcisione Domini et Octava Nativitatis‹, (27v30r) ›In Epiphania Domini‹, (30r32v) ›Dominica infra Octavam Epiphanię‹, (32v36r) ›Dominica II post Epiphaniam‹, (36r38r) ›Dominica III post Epiphaniam‹, (38r42r) ›Dominica IIII, V et VI post Epiphaniam omnia ut in Dominica III precedenti. Dominica in Septuagesima‹, (42r45v) ›Dominica in Sexagesima‹, (45v49r) ›Dominica in Quinquagesima‹, (49r50r) ›Feria Quarta Cinerum ante Missam benedicantur cineres‹, (50v53r) ›>Completa benedictione cinerum canitur sequens‹, (53r57r) ›Deinde dicitur Missa‹, (57r61r) ›Dominica prima [in] Quadragesima‹; von den im Missale Romanum enthaltenen 12 Tractusversikeln sind nur die ersten fünf aufgenommen. (61r65r) ›Dominica secunda in Quadragesima‹, (65r69r) ›Dominica III in Quadragesima‹, (69r72v) ›Dominica IIII in Quadragesima‹, (72v76v) ›Dominica de Passione‹, (76v80r) ›Dominica Resurrectionis ad Missam‹ mit (78v79r) ›SequentiaAH 54 Nr. 7, hier nur Str. 1–4. (80r82v) ›Feria secunda‹, (82v85v) ›Feria tertia‹, (85v88r) ›Dominica in Albis in Octava Paschę‹, (88rv) ›Dominica II post Pascha‹; der Offiziumstext bricht aufgrund von Blattverlust im Versikel CANTUS 909000 zum Psalmvers ab, ebenso fehlen die auf den entfernten Bll. 89r–98v befindlichen Offizien der anschließenden Sonntage III und IV post Pascha. (99r101v) Dominica V post pascha. Von dem durch Blattverlust fragmentierten Offizium sind die beiden Alleluia-Versikel CANTUS g01068 und g01069, das Offertorium CANTUS g01070 und die Communio CANTUS g01071 erhalten. (101v104v) ›In die Ascensionis Domini‹, (104v107v) ›Dominica infra Octavam Ascensionis‹, (107v112r) ›Dominica Pentecostes‹ mit (110r111r) ›SequentiaAH 54 Nr. 153 Str. 1–6. (112r113v) ›Feria II post Pentecosten‹, (113v116r) ›Feria III post Pentecosten‹, (116r119r) ›In festo Sanctissimę Trinitatis‹, (119r) ›Dominica prima post Pentecosten Introitus‚Domine in tua misericordia‘et omnia alia ut infra CXXIII‹, (119r123v) ›In Solemnitate Corporis Christi‹ mit (121r122v) ›SequentiaAH 50 Nr. 385 Str. 1a, 1b, 2a, 2b und 3a, (123v126r) ›Dominica I post Pentecosten‹, (126r128v) ›[Wasserschaden: Dominica infra octavam] corporis Christi secunda post Pentecosten‹, (128v129v) Dominica III post Pentecosten, Introitus CANTUS g01145 durch Wasserschaden unleserlich, bricht aufgrund von Blattverlust nach dem Versikel CANTUS 909000 zum Psalmvers ab und reichte ursprünglich bis zum verlorenen Bl. 131v. (132r134r) Dominica IV post Pentecosten, der Text setzt aufgrund von Blattverlust im Introitus CANTUS g01151 ein und begann ursprünglich auf dem verlorenen Bl. 131v. (134r137r) ›Dominica V post Pentecosten‹, (137r140r) ›Dominica VI post Pentecosten‹, (140r141v) ›Dominica VII post Pentecosten‹, bricht aufgrund von Blattverlust im Offertorium CANTUS g01165 ab; die Offizien der Sonntage VIII–XI post Pentecosten auf den entfernten Bll. 142r–153v fehlen ebenfalls; von letzterem ist auf Bl. 154r nur noch der Schluss der Communio CANTUS g01187 erhalten. (154r157v) ›Dominica XII post Pentecosten‹, (157v158v) ›Dominica XIII post Pentecosten‹, bricht aufgrund von Blattverlust im Alleluia-Versikel CANTUS g01197 ab; die Offizien der Sonntage XIV–XVIII post Pentecosten auf den verlorenen Bll. 159r–174v fehlen ebenfalls. (175r177v) Dominica XIX post Pentecosten, setzt aufgrund von Blattverlust am Schluss des Introitus CANTUS g01233 ein. (177v180r) ›Dominica XX post Pentecosten‹, (180r183v) ›Dominica XXI post Pentecosten‹, (183v186r) ›Dominica XXII post Pentecosten‹, (186r188v) ›Dominica XXIII post Pentecosten‹, Text bricht aufgrund von Blattverlust in der Communio CANTUS g01258 ab. Die Texte entsprechen bis auf geringe Ausnahmen dem vortridentinischen Missale Romanum, hier verglichen mit dem Druck Missale Romanum. Rom: Stephan Plannck, 27.X.1494 (GW M23988). Da das Kalendarium und das Sanctorale fehlen, ist eine genaue Lokalisierung der Hs. allein anhand des Temporales nicht möglich; aufgrund der Unterschiede in einzelnen Offizien ist es eher unwahrscheinlich, dass das Graduale als Ergänzung des 1511 gedruckten Missale secundum ritum ecclesiae Bremensis (Missale secundum ritum ecclesie Bremensis [Nortmann, Heinrich; Rode, Johannes]. Straßburg: Kaspar von Mellerstadt, 1511, VD 16 M 5563, hier verglichen mit dem Exemplar Bremen, SuUB, Brem.a.0167) gedient haben könnte.


Abgekürzt zitierte Literatur

AH Analecta hymnica medii aevi, hrsg. von G. M. Dreves und C. Blume, Bd. 1–55, Leipzig 1886–1922, Registerbd. 1–3, hrsg. von M. Lütolf, Bern u. a. 1978
CANTUS CANTUS: A Database for Latin Ecclesiastical Chant. Indices of chants in selected manuscripts and early printed sources of the liturgical Office (http://cantus.uwaterloo.ca//)
GW Gesamtkatalog der Wiegendrucke, Bd. 1–, Leipzig 1925–1938, Stuttgart 1978–