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Vorhang auf! Programme und Praktiken der frühneuzeitlichen Wissensliteratur im Widerspruch
Ulrich Johannes Schneider

1. Vor dem Theater
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Ob man die gelehrte Literatur der Frühen Neuzeit als wissenschaftliche Arbeit oder als Bildungsbemühung verstehen soll, ist eine Frage der Einlassung. Tut man gut daran, die vielen Werke des ausgearbeiteten Interesses und der unbestimmten Neugier als Stationen einer steten Verbesserung der Einsicht und der Problembeherrschung anzunehmen? Oder sollte man weniger die Rationalität im Wissen als vielmehr das Wissen im Blick auf Erziehung und Kommunikation in den Blick nehmen? Abhängig von der Art und Weise unserer Annäherung können die Werke frühmoderner Autoren in ihren Positionen kritisch geprüft oder kontextuell aus ihren Schreibstrategien verstanden werden.

Das Kontextuelle wird jedoch häufig genug auf das Textuelle reduziert, denn das Prinzip einer gewissen Sparsamkeit in der Rekonstruktion, einer strategischen Verengung des Rückblicks ist eben dort wirksam, wo man kulturhistorisch, literarhistorisch oder bibliophil in die Vergangenheit vordringt und die härteren Bandagen der Wissenschafts- oder Bildungsgeschichte gar nicht erst anlegt. Wo vieles kurios, komplex und reich, diffizil und anspielungsreich erscheint, werden Texte gleichsam zu Inseln des Wissens, denen wir uns einzeln nähern, sie vorsichtig umsegelnd wie Captain Cook, der aus der Distanz klären wollte, wie die Eingeborenen gesonnen waren. Gelingt uns das Manöver dieser Annäherung, holen wir Vergangenes als Trophäe singulärer Bewunderung in die Gegenwart und begeben uns freiwillig der Aufgabe, daraus dasjenige zu präparieren, was auch andernorts und zu anderen Zeiten Wissen heißen kann. Wie einst in den barocken Wunderkammern Stücke aus fernen Gegenden gesammelt und nebeneinander gelegt wurden, ohne die Zusammenhänge aus der Provenienz zu rechtfertigen, bleiben wir oft genug bei der Würdigung von Einzelstücken stehen.

Solange die Wissensbücher der Frühen Neuzeit als staunenswerte Produkte einer fremden Kultur gelten, rücken wir sie in das Kuriositätenkabinett der Gegenwart. Uns selbst erlauben wir die Liebe zu den merkwürdigen Gegenständen auf dem Umweg einer – gelegentlich an Verständnislosigkeit grenzenden – Begeisterung für das Abweichende und Fantastische. Verzaubert schauen wir auf die Mönchsfische und die Einhörner der Tierbücher, die Seeungeheuer und Menschenfresser der Weltkarten; in solcher Kenntnis sehen wir profundes Unwissen kaschiert. Wir erklären uns das auf verschiedene Weise. Vielleicht waren Quellen verderbt oder wurden falsch gelesen, vielleicht haben sich religiöse und mythologische Vorstellungen bei den Gelehrten eingemischt. Sicher jedenfalls entgehen uns Fragestellungen und Problemzusammenhänge, die das Abgelegene und Absonderliche restlos begreifbar machen würden. Indem wir die Wissenswelt unserer Vorfahren gewissermaßen anerkennend verabschieden, entzaubern wir sie für die Ornamentierung unserer eigenen Wissenschaft und lassen uns nicht darauf ein, was die Texte an innerer Spannung enthalten bzw. aushalten.

Durch Distanzierung auf dem Weg der rationalen Rekonstruktion alter Wissensbestände wie durch Isolierung einzelner Texte als sonderbare Arbeitsproben einer nur weitläufig einholbaren Wissenswelt machen wir aus der gelehrten Literatur einen Gegenstand am eigenen Horizont, ein Gegenüber unserer Selbstversicherung, einen Spiegel aktueller Kenntnis. Durch solche Fixierung werden die Texte der Frühen Neuzeit innerlich starr; es besteht die Gefahr, ihre kontextuelle Dynamik und die im Schreiben und Veröffentlichen selbst wohnenden Spannungen zu übersehen. Diese Gefahr ist auch deshalb akut, weil die Wissensliteratur der Frühen Neuzeit oft ein programmatisches Pathos begleitet, das heutigen intellektuellen Bemühungen verwandt zu sein scheint: Ist nicht die Erforschung und Förderung des Wissens auch in der Frühen Neuzeit der alleinige Maßstab?

2. Künstlereingang
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Gegen die Verfahren der Hermeneutik und Kritik, gegen Erklären und Verstehen, haben wenige Leser der frühneuzeitlichen Wissensliteratur so prominent argumentiert wie Michel Foucault. Sein Verfahren der Verständlichmachung durch Verfremdung erlaubte Foucault, in den Texten des 16., 17. und 18. Jahrhunderts Diskurse und Dispositionen zu eruieren, die jenseits wissenschafts- und kulturhistorischer Kategorien Realität besitzen. Anders als zuvor der Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn hat der Wissensarchäologe Foucault im epistemischen Grundgerüst alter Weltverständnisse keine Paradigmenwandel, sondern Kontinuitätsbrüche im Denken entdeckt. Im Rückgang auf Wissensbücher der Frühen Neuzeit hat Foucault die Feststellung von Unverständlichkeit nicht mit dem Pathos des überwindenden Fortschritts oder dem Verdacht alter Untauglichkeit belegt, sondern über die Einsicht in fehlende Zusammenhänge Sprungmarken denkender Tätigkeit ausgemacht. So ist beispielsweise der im 17. Jahrhundert manifest werdende Unterschied zwischen einem magischen Naturverständnis und einer diskursiv aufgebauten Wissenschaftlichkeit bei ihm kaum vermittelbar, trägt vielmehr Züge epochaler Gewalt und wird durch die theoretischen Annahmen eines Medienwandels oder die Anerkennung heterogener Literaturgattungen nicht besser nachvollziehbar.

Viel von dem, was Foucault fruchtbar aus Diskrepanzen und Diskontinuitäten entwickelt hat, verdankt sich einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber Vorstellungen einheitlicher historischer Gegenstände im Bereich der Wissensliteratur. Seine Einklammerung traditioneller Erkenntnisvoraussetzungen wie beispielsweise derjenigen des ‚Autors‘ und derjenigen des ‚Werkes‘, haben ihm Steigerungsstufen der Lesbarkeit ermöglicht, die insbesondere im Bereich des Wissens neue Blickrichtungen freilegen. Sie haben erlaubt, in die Texte selbst einzusteigen und Aussagenzusammenhänge zu sehen, die sich einfachen Beurteilungen verweigern.

Bei der Erforschung der Wissensliteratur der Frühen Neuzeit kann solche Unterminierung feststehender Blickpositionen ebenfalls nützlich sein und voreingestellte Perspektiven entgrenzen. Es gibt methodische Verfahren der Kontextualisierung von dem, was ‚Werk‘ und ‚Autor‘ in der Philosophiegeschichte, der Literaturgeschichte, der Wissenschaftsgeschichte und der Ideengeschichte heißt, um zur Freilegung von Aussagenzusammenhängen zu gelangen. Wissen wird dann eher als verhandelbar denn als exponiert sichtbar; Texte erscheinen weniger als Thesengebäude denn als Schauplätze von Problematisierungen.

3. Im Foyer
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Zu den Eigenheiten eines beträchtlichen Teils der Wissensliteratur der Frühen Neuzeit gehört es, im Textproduzieren selbst die Kategorien ‚Autor‘ und ‚Werk‘ gewissermaßen nur instrumentell zu nutzen. Insbesondere die enzyklopädische Literatur der Wissensvermittlung – wiewohl sie Verleger- und Autornamen kennt, wiewohl sie als gedruckte Veröffentlichung unbezweifelbar auch Werkcharakter besitzt – ist durch Verfahren der Kompilation und der Redaktion gekennzeichnet. Textteile werden dabei zu dynamischen Elementen, die autoren- und werkunabhängige Geltung besitzen. Man könnte sogar so weit gehen zu behaupten, dass es seit der Antike ein enzyklopädisches Schreiben gegeben hat, das autorlos sein wollte und sich um die exklusive Verfasstheit seiner Produktionen wenig bekümmerte. In der Tat bezeugt die europäische Wissenskultur von der Historia naturalis des Plinius aus dem 1. Jahrhundert bis zur Wikipedia des 21. Jahrhunderts eine beständige Arbeit am allgemeinen Wissen.

In der enzyklopädischen Darstellung wird das Wissenswerte des allgemeinen Wissens grundsätzlich durch Enteignungsprozesse vermittelt, denen keine noch so modifizierte Idee der Autorschaft und erst recht kein modernes Urheberrecht etwas Positives wird abgewinnen können. Autornamen sind wenig mehr als Markierungen von Einsichten und Erkenntnissen und identifizieren nur selten autarke geistige Urheber, die für das Wissen exklusive Anerkennungsverhältnisse begründen. Geistige Urheberschaft ergibt sich im enzyklopädischen Schreiben auch nicht aus der Einheitlichkeit von Werken; diese sind höchstens gewisse Faktoren innerhalb der Auseinandersetzung mit Wissen. Die lange Tradition des enzyklopädischen Schreibens kann sich gerade deshalb im digitalen Zeitalter der netzförmig realisierten Textrezeption und -produktion bruchlos fortsetzen, weil auch hier die Idee des Autors und die Vorstellung des Werkes nicht vorab festliegen, sondern kontextuell bestimmt werden.

Ob nun Foucault‘sche Verfremdungsverfahren oder Erfahrungen der digitalen Textkultur für eine neue Perspektivierung der frühneuzeitlichen Wissensliteratur – hier im engeren Sinne: des enzyklopädischen Schreibens – motivieren, unsere Form der Annäherung ändert sich damit. Statt der traditionellen Lektüre zählt die Begegnung mit dem Text, seine Wahrnehmung als dynamisches Geschehen eher denn als statisches Faktum. Die in der Lektüre immer unterstellte Lesbarkeit des Textes, die wir in unserer Arbeit auf die eine oder andere Weise prüfen und damit immer wieder neu herstellen, wird gegen das Konzept der Aufführung gesetzt. Dabei kann Aufführung im theatralischen Sinne verstanden werden, weil damit eher ein Gegenüber als ein Gegenstand konstituiert wird, und zwar auf eine so komplexe Art und Weise, dass jedweder Text als Textur sichtbar wird, als Gewebe gelegentlich unterschiedlicher Schreibstrategien.

4. Im Parterre
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Wenn man nun versucht, der Wissensliteratur der Frühen Neuzeit zu begegnen, indem man darauf zugeht wie ein Zuschauer auf die Bühne, dann erleben wir Texte wie eine gewisse Anzahl von Figuren in einer Reihe von Konstellationen. Dabei können die Figuren zwar durch eine Handlung zusammengebunden sein, gehen aber niemals darin auf. So sind die in der Wissensliteratur durch Texte vermittelten Kenntnisse und Informationen wohl lesbar als Diskurs, der einheitlich rekonstruiert werden kann, genauer betrachtet aber werden sie im Innern der Bücher oft in einem gewissen Durcheinander aufgeführt. Alphabetische Enzyklopädien oder Lexika geben dafür gute Beispiele ab. Der Artikel eines Lexikons ist – in theatralischer Betrachtungsweise – wie eine Bühnenfigur mit eigener Geschichte, die wiederum mit den Geschichten anderer Figuren – der anderen Artikel – wenig verknüpft ist.

Hat man sich in die gespannte Erwartungshaltung eines aktiven Zuschauers des frühneuzeitlichen Wissenstexttheaters versetzt, stellt sich schnell ein Eindruck des Heterogenen ein, der – wie in Neil Stephensons Trilogie The Baroque Cycle (2003/2004) – viel Unterhaltsames enthält. Manche Wissensstücke sind wie in einer Galerie nach Kriterien der Ähnlichkeit präsentiert, andere werden zum Staunen dargeboten, nach dramaturgischen Kriterien, die Schrecken mit Lust verbinden. Die ruhige Erbaulichkeit von Muscheln, Seetieren oder Pflanzen in Büchern, die sich Raritäten- oder Schatzkammern nennen, trägt eine wiederum andere Art von Inszenierung. Unterschieden davon sind die auf bedeutsame Lebensereignisse zugespitzten Biographien in den zahlreichen Enzyklopädien, die sich Personen widmen. Endlich dienen geographische Enzyklopädien – in einer großen Vielfalt stadt- und länderbezogener Lexika – dem Reisen im Lehnstuhl und befriedigen die europäische Neugier auch mit Informationen über fernliegende Sitten und Gebräuche.

Wir sind noch nicht so weit, diese Choreographie auftretender Inhalte, die Ereignisphänomenologie der Wissensgegenstände, das ganze Informationstheater der frühneuzeitlichen Fachbücher in angemessener Weise als Schauspiel nicht nur der Sachen, sondern auch des Denkens wahrzunehmen. Zu oft verderben wir uns mit den verbrauchten Kategorien der Ideengeschichte oder mit ästhetischen Qualifizierungen des Wunderbaren die strapaziöse Reise ins Innere der Texte. Wir retten uns aus der irritierenden Begegnung mit den Inhalten und Gegenständen der Wissensbücher voreilig durch ein die Texte vereinnahmendes Verstehen oder ein entschuldigendes Staunen, blenden dabei die wahrnehmbaren Muster der Textkompositionen aus.

5. Proszenium
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Als vorsichtige Probe auf künftige Forschungen geht es im Folgenden um einen besonderen Aufführungseffekt, der für die enzyklopädische Literatur insbesondere des 18. Jahrhunderts typisch wurde und der deutlich vor Augen tritt. Es geht um den ‚Vorhang‘, d. h. um Texte vor dem eigentlichen Text, um Prospekte im wörtlichen Sinne: Aussichten auf ein Textwerk, das als Ganzes annonciert und zugleich verborgen wird. Am Beispiel einiger prominenter Paratexte, die vorhanggleich dem Werktext selber vorgeschaltet sind, kann man zeigen, wie eine auf Begegnung sich einlassende Aufführungserwartung die auf gleichförmige Lesbarkeit spekulierende Lektüre ersetzen kann.

Wissensbücher, insbesondere Enzyklopädien, kennen werbende Textstücke, die eingangs eines Buches – wenn nicht schon auf der Titelseite – im Vorgriff auf das Ganze der Wissensdarstellung diese gewissermaßen rahmen und damit eine Distanz zum Leser-Zuschauer aufbauen. Dieser Einschnitt vor dem eigentlichen Text wird oft von Verlegern oder Autoren besetzt, um Vorreden oder Widmungen zu platzieren, die wiederum meist in einer Art Kommentarverhältnis zum übrigen Inhalt stehen. Das Buch als Kulturgegenstand und als Ware wird hier erkennbar, und die ersten Seiten konstituieren durchaus absichtlich den Eindruck, dass hier etwas in Szene gesetzt werden soll. So ist in vielen Wissenswerken des 16. und 17. Jahrhunderts der Textanfang eben diejenige Stelle, an der Herstellungsverfahren erläutert und Quellen aufgelistet werden, um Autorität zu heischen. Im 18. Jahrhundert wird die Vorrede prominent, um Auskünfte über Ziel und Zweck des Unternehmens zu geben und den Lesern Versprechungen zu machen.

Nun lässt sich mit nur wenig Aufwand beobachten, dass manche Vorreden eine vom Haupttext unabhängige Perspektive exponieren. Nicht nur bei politisch oder religiös engagierten Büchern findet hier ein absichtsvolles Vorbeireden statt, auch in der Wissensliteratur gibt es an derjenigen Stelle, an der noch die Gelehrten des 16. und 17. Jahrhunderts vor allem die eigene Arbeit qualifizierten, nun im 18. Jahrhundert eine Täuschungsoperation, die die tatsächlichen Arbeitsprozeduren nicht nur nicht ausweisen, sondern verschleiern und einen eigenen schönen Schein verbreiten, ganz wie ein bunt bemalter Vorhang, der einige im Spiel entfaltete Motive und Figuren in zeichnerischer Abstraktion festhält. Jedenfalls gilt dies für die folgenden beiden Beispiele.

Zwei Vorhänge sind es, die man kurz beschreiben und dann wegziehen kann, zwei bekannte Vorreden, die über den eigentlichen Text einen Schleier der Täuschung werfen, was aber wegen der Schönheit des Schleiers fast gänzlich unbemerkt blieb.

6. Der erste Vorhang: Chambers 1728
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Der erste Vorhang gehört zur Cyclopaedia von Ephraim Chambers (1728) und stellt im 18. Jahrhundert einen der ersten ausgemalten Vorhänge dar, die auf das dahinter aufgeführte Werk hinweisen und es zugleich verbergen. Chambers gibt mitten auf einer Seite des Vorworts ein graphisches Schema, schreibt ganz links den Begriff ‚Wissen‘ (Knowledge) hin, zieht dann einige Striche nach rechts und erreicht über verschiedene Zwischenstationen, bei denen sich die Striche immer weiter aufteilen, am rechten äußeren Rand die Benennung von 47 wissenschaftlichen Disziplinen. Es ist ein Tafelbild, das sich auch von rechts nach links lesen lässt: Alle Wissensdisziplinen sind Disziplinen des ‚Wissens‘, und alles hängt mit allem zusammen: Unser Horizont ist von eng geknüpften Deduktionen durchzogen, die eine Kontinuität nicht nur im Denken, sondern – daraus folgend – auch im Wissen suggerieren.

Das gegliederte und gestufte Tafelbild-Schema findet bei Chambers noch eine Weiterung; es setzt sich in einem zweiten Bild fort: Nachdem die 47 Disziplinen als Ergebnis einer gedanklichen Differenzierung sichtbar gemacht wurden, werden sie wie Säulen des Wissens einzeln vorgestellt. Als Begriffscontainer gebieten sie über den Inhalt des folgenden Werks und teilen die Gesamtmenge der Artikel anteilig unter sich auf. Jede einzelne im Schema dargestellte Disziplin wird eigens noch einmal angeführt, von der Theologie bis zur Heraldik, in einer Art Fließtext, der eine Aufzählung von Lemmata enthält. Die Leser begreifen auf diese Weise: Disziplinen sind aus Kernbegriffen zusammengebaut, sie werden aus dem Mauerwerk von regierenden Substantiven errichtet, die beim Lesen der Cyclopaedia aus der unendlichen Weite der Buchstabenwelt die Vision eines gefügten Bauwerks zaubern. So schön kann ein Vorhang sein. Es werden Zusammenhänge geschaut, und es werden Disziplinen gebaut, auf beide Weisen engste Beziehungen im Reich des Wissens gestiftet.

Dieser Vorhang lässt sich allerdings ohne Konsequenzen wegziehen. Einmal offen, erblickt man im Text der Cyclopaedia selbst eine nach dem Alphabet der natürlichen Sprache gegliederte Artikelfolge, in die hinein sämtliche Begriffe sämtlicher Disziplinen versprengt und nur durch dünne Fäden der Verweisungen gelegentlich verbunden sind. Diese Fäden zeigen sich an vielen Stellen als brüchig, denn etwa nur jedes zweite Lemma verweist auf eine Disziplin. Zudem gibt es zahlreiche Worterklärungen zu Sachen, die keiner Disziplin in Chambers‘ virtueller Akademie angehören und sich daher auch nicht auf das auf den Eingangsvorhang gemalte Schema beziehen. So ist beispielsweise die Geschichte (History) im Werk mit Einträgen vertreten, nicht aber im Wissensdiagramm aufgeführt. Dieses erscheint wie eine Aufführung aus eigenem Recht, weitgehend unverbunden mit den Textfiguren, die auf der Wissensbühne auftreten. Chambers beschwört also eingangs einen fachlichen Zusammenhang, produziert im Werk selber jedoch ein Alphabet des vielfältigen Wissens. Die Leser werden jenen Vorhang als schönen Schein der Systematizität wie eine Erinnerung präsent halten können, in der Aufführung des Wissens selbst aber nicht als vernehmbare Stimme erleben.

Chambers‘ Cyclopaedia ist – wie generell das enzyklopädische Schreiben seit dem 18. Jahrhundert – eine redaktionelle Kompilation von Textelementen und zersprengt das Wissen in Einzelfiguren, die als Lemmata höchst unterschiedlichen Disziplinen zugeordnet sind. Ein Zusammenhang wie der vorab schematisierte muss hier fehlen, weil das enzyklopädische Werk als Abbild alles Lernbaren nicht in allen Einzelheiten Zusammenhang stiften kann. Solcher Zusammenhang ist in früheren englischsprachigen Werken wie dem Lexicon technicum von John Harris (zuerst 1704, zuletzt 1736) oder in der späteren Cyclopaedia von Abraham Ree (zuerst 1778, zuletzt 1820) weit besser repräsentiert.

7. Der zweite Vorhang: Diderot 1751
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Was an Chambers Werk Eindruck machte, war im Blick der Zeitgenossen durchaus auch sein Vorhang, und so wird das dort skizzierte Wissens-Schema in der französischen Encyclopédie Diderots und d’Alemberts direkt imitiert. Diderot schreibt im ‚Prospekt‘ zur Ankündigung seiner Encyclopédie 1750 über Chambers: „Wir finden, dass Plan und Anlage des Lexikons hervorragend sind“– und vor allem das, Plan und Anlage, findet sich bei seinem Werk ebenfalls vorab entworfen.

Das Eröffnungsdiagramm der Encyclopédie verspricht im 1751 erschienenen ersten Band eine Verkettung der Einzelkenntnisse über eine planmäßige Verzeichnung aller Wissenschaften, anders als bei Chambers verkompliziert der zweite Vorhang jedoch die Ausdifferenzierung des Wissens, indem er zusätzlich die menschlichen Erkenntnisfähigkeiten kartiert. Ein schöner, viel gerühmter und oft studierter Vorhang mit einer sowohl systematischen wie zugleich anthropologischen Vorzeichnung des Wissens. Nur ist auch dieser Prospekt ganz irrelevant für die folgende Artikelvielfalt, und die Encyclopédie erscheint nicht anders als die Cyclopaedia in einer Spannung aufgehoben zwischen einerseits der Erwartung, die der zugezogene Vorhang verspricht, und andererseits der Erfahrung, die man als Leser macht, sobald er fortgezogen ist.

Die Leser der Encyclopédie nämlich erfahren ein ‚editorisches Chaos‘ schon in Bezug darauf, was die den Herausgebern so wichtige Kategorienzuordnung betrifft: Selbst dort, wo die Zuordnung eines Eintrags zu einer Kategorie gegeben wird, sind der Ort und manchmal auch der Begriff dafür schwankend. Die Gründe für eine weitgehende Abwesenheit systematischer Struktur im Textkorpus selbst sind vielfältig. Einmal ist es die große Anzahl der Autoren – ca. 200 eigenwillige Schreiber, die kein noch so gut bemalter Vorhang in ihrer eigenen Sicht der Dinge prägen konnte – und zum anderen die große Anzahl der Artikel – ca. 71.000 –, die im Redaktionsprozess durch kein noch so feines Netz von Fäden stringent miteinander verbunden werden konnten. Die Textur des Vorhangs wird nicht zur Struktur des Werks, wie man etwa an zahllosen ins Leere gehenden Verweisungen erkennen kann.

Auch ist das Eingangsdiagramm – genannt „Système figuré“ – für die Encyclopédie gar nicht recht brauchbar, da die meisten im Schema genannten Disziplinen von den Autoren tatsächlich nicht genutzt werden. Umgekehrt werden in vielen Einträgen Rückverweisungen auf Disziplinen getätigt, die im Eingangsdiagramm gar nicht enthalten sind (wie etwa „Calendrier“, „Draperie“, „Gouvernement“, „Sucrerie“, „Topographie“). Auch die dem Herausgeber Diderot so wichtige Disziplin ‚Philosophiegeschichte‘ kommt im anfangs skizzierten Schema der menschlichen Kenntnisse gar nicht vor. Das Schema des „Système figuré“ auf dem Vorhang der Encyclopédie kündigt ein ganz anderes Stück an als das tatsächlich aufgeführte.

Man kann noch weiter gehen: Die Encyclopédie enthält als allgemeine Enzyklopädie ganz unvermeidbar mehr Text als sich aus dem vorangestellten System der menschlichen Kenntnisse ergibt. Das ganze Feld des empirischen Wissens, das kaum systematisierbar ist – wie die Einträge im Bereich der ‚speziellen Geographie‘, oder die Einträge aus Geographie, Geschichte und Biographie belegen –, zeigt eine große Uneinheitlichkeit in der Durchführung. Einer der wichtigsten Artikelverfasser, Louis de Jaucourt, hat etwa biographische Artikel zu berühmten Persönlichkeiten geschrieben und sie in geographischen Artikeln gewissermaßen versteckt, wie beispielsweise einen Text zu Shakespeare im Artikel zu dessen Geburtsstadt Stratford. Die Herausgeber Diderot und d‘Alembert wollten biographische Artikel explizit vermeiden.

Durch ihre Wirkungsgeschichte ist die französische Encyclopédie mehr als eine Enzyklopädie in der Tradition der Wissensbücher. Innerhalb der französischen Literatur- und Wissensgeschichte kann man sie als den Versuch verstehen, die redaktionelle Form des enzyklopädischen Schreibens zu überhöhen und in Richtung Essay zu treiben. Zum Projekt der literarischen Reform gehört auch die im Vor-Bild des Eingangsdiagramms exponierte Systemidee, die die enzyklopädische Arbeit an Maßstäben der Wissenschaft und Philosophie zu entlehnen verlangt. Gegen die mühselige Arbeit am kleinteilig konsumierbaren Wissen behauptet sich – nachvollziehbar besonders im Einleitungtext von d‘Alembert – eine Sehnsucht nach einem Schema, in dem die vielfältig auseinanderstrebenden Bereiche des Wissens sich als effektiver Zusammenhang präsentieren.

So kam es, dass gerade dieser Vorhang, der in seiner bildhaften Qualität die Utopie des Unbewegten auch in der Welt des Wissens darstellt, eine separate Wirkungsgeschichte erfahren hat. Er steht uns heute noch vor Augen, wenn es um frühneuzeitliche Wissensliteratur geht. Der vergleichsweise kurze Moment philosophisch überhöhter Enzyklopädistik hat bewirkt, dass unsere Auseinandersetzungsformen mit dem enzyklopädischen Schreiben von textbegegnungsunabhängigen Visionen geprägt sind und wir im rekonstruierenden Tun einen Begriff von Wissen annehmen, der in jedem Falle etwas Disziplinierbares darstellt und erst dadurch formal als Erkenntnis gilt.

Dabei scheint es, dass wir feste Kriterien dafür in Anschlag bringen, ganze Wissenswerke beurteilen zu können, und dass sich dabei die Hoffnung bestärkt, lesend und verstehend alle Textfiguren in einer Handlung zu begreifen. Die Problematik solcher Rekonstruktion liegt hauptsächlich im Ignorieren von Schreibstrategien und wird jeweils dann deutlich, wenn wir von dem, was wir in alten Lexika und Enzyklopädien lesen, vieles als im emphatischen Sinne unwichtig, als Digression, Beiwerk, Ballast, Rest oder Ruine abtun.

8. Ohne Vorhang: Zedler 1732
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Ein drittes enzyklopädisches Werk des 18. Jahrhunderts, zeitlich zwischen der Cyclopaedia und der Encyclopédie platziert, hat keinen Vorhang mehr: Das deutsche Universal-Lexicon des Leipziger Verlegers Johann Heinrich Zedler. Dass der Vorhang absichtlich weggelassen wurde, kann man an Bemerkungen des leitenden Redakteurs Carl Günther Ludovici erkennen, der in den Bänden 21 und 23 einleitend eine systematische Zusammenschau nach Abschluss des Alphabets verspricht. Dass dies allerdings nie realisiert wurde, ist pragmatische Konsequenz einer Enzyklopädie, die sich ganz den Leserinteressen beugt und nicht mehr Fachartikel bringt, sondern Sachartikel, die weitgehend ohne Verweisungen und also selbstständig gelesen werden können.

Statt eines eigenständigen Vorhangs gibt das Universal-Lexicon mit der Vorrede des Historikers Peter von Ludewig in Band 1 einen vergleichsweise durchsichtigen Text, der als Paratext mit den folgenden Artikeln harmoniert, jedenfalls nicht dazu in Spannung steht. Von Ludewig bezeichnet das Alphabet der Einträge als besten Weg, das zu finden, wozu man Informationen benötigt. Für Diderot und d‘Alembert stellt das Alphabet eine Provokation systematischen Denkens dar, für die Macher des Universal-Lexicon ist es eine gut funktionierende Suchmaschine für jedermann. Die gewöhnliche Sprache wird hier ganz unproblematisch zum Leitfaden für die (bis heute unbekannten) Autoren und Redakteure dieses Lexikons, weil darin nicht nur akademisch Vorgebildete erfolgreich fündig werden können. Von Ludewig bekennt daher ohne Scham, dass das Universal-Lexicon eine Kompilation und redaktionelle Bearbeitung vieler einzelner Fachlexika darstellt. Er benennt damit zu Beginn der Enzyklopädie deren Produktionsprinzip und evoziert keine darüber hinausgehende Hoffnung auf enge Verknüpfung aller Wissensarten, wie bei den Diagrammen und Schemata von Chambers und Diderot. Der durch die Vorrede des Historikers von Ludewig gegebene Vorhang ist also selber Teil der Bühne – anders gesprochen: Die Vorrede ist Teil des Werks, nicht seine Überhöhung. Aufführung muss hier nicht vorbereitet werden, Begegnung ist umstandslos möglich. Glättende Lektüreverfahren sind hier so wenig erfolgreich wie synthetisierende Diagramme. Jeder Leser ist aufgefordert, sein Wissen aus den umgangssprachlichen Benennungen zu fördern, und wird im Universal-Lexicon die eigenen Interessen und Aneignungsverfahren antizipiert finden.

Das Universal-Lexicon hat einen gigantischen, nie zuvor erreichten und erst viel später eingeholten Umfang von ca. 284.000 Artikeln auf ca. 68.000 Folioseiten. Mit seiner Titelseite, die gewissermaßen als Bildelement für die pragmatische Vorrede von Ludewigs fungiert, erhält der Leser-Zuschauer des 18. Jahrhunderts eine Art Besetzungszettel, welcher das Abenteuer der alphabetischen Aufführung nicht programmatisch umdeutet, sondern in allen Einzelheiten ankündigt. Auch wenn das Titelblatt 33 Wissensfelder absteckt, während man mit ein wenig Analyse dem Universal-Lexicon tatsächlich 72 attestieren kann, passt die aufzählende Inhaltsangabe zum Werk selbst, das Wissen nicht – wie in der gelehrten Tradition – hierarchisiert. Es finden sich im Universal-Lexicon zum ersten Mal in großem Umfang das geographische, das biographische und das disziplinäre Wissen gleichgeordnet: die drei Wissensdomänen machen zu jeweils ca. einem Drittel den Gesamttext aus. Die am Leitfaden der deutschen Sprache durchgeführte Findekultur des Wissens, die hier in zuvor niemals praktiziertem Umfang exponiert wird – unbeschadet der noch vorhandenen fremdsprachigen, vor allem lateinischen Lemmata –, befördert die Ausbildung einer enzyklopädischen Sprache, die Gelehrtenidiome und Reiseliteratur, Lexikographie und Zeitungsnachrichten zugunsten einer allgemein verständlichen Ausdrucksweise modifiziert.

Mit dem Universal-Lexicon erhält das enzyklopädische Schreiben im 18. Jahrhundert eine eigene Qualität. Artikel über Städte und Länder werden hier aus unterschiedlichen Quellen redaktionell erschaffen und etwa den Reiseberichten oder Kaufmannslexika entfremdet, denen einzelne Informationen entstammen. Artikel über Personen gewinnen eine völlig neuartige Qualität durch die Berücksichtigung noch lebender Zeitgenossen: Das Universal-Lexicon wandelt sich dadurch zu einem Spiegel der Gesellschaft seiner Leser. In diesem Sinne – damals ganz ungewöhnlich für Enzyklopädien und erst recht für eine so große – laden Herausgeber und Verleger interessierte Familien, Gesellschaften und Individuen ein, Selbstdarstellungen einzusenden. Nicht zuletzt in den Artikeln zu wissenschaftlichen Themen zeigt sich das von den Autoren antizipierte Leserinteresse, indem beispielsweise im Bereich der Medizin alle therapeutisch relevanten Details bevorzugt werden. Der Unterschied zu den zeitgenössischen Fachlexika der Ärzte ist gewaltig.

In dieser Enzyklopädie treten die Artikeltexte in einen latenten Dialog mit den Lesern; der Abstand zwischen Bühne und Zuschauerraum wird tendenziell minimiert. Mit dem Universal-Lexicon hat die Präsentation von Wissensliteratur im 18. Jahrhundert eine Stufe der Selbstverständlichkeit erreicht, die nicht nur keine Überzeichnung durch ein vorhangähnliches Textelement oder Diagramm nötig macht. Vielmehr emanzipiert sich die problemlose alphabetische Anordnung der Artikel – wie sie in den erfolgreichen Konversationslexika ab dem 19. Jahrhundert Standard werden – von jeglichen systematischen Ordnungsanstrengungen, wie sie akademisch üblich waren (und nicht selten innerhalb der Universitäten unter dem Titel der „Enzyklopädie“ propagiert wurden). Mit dem Universal-Lexicon ist ein Markt an Informationen, ein Austauschplatz für das Wissen eröffnet, worauf keine europäische Kulturgesellschaft mehr verzichten wird. Das enzyklopädische Schreiben dient nicht mehr einer Bühne vor Publikum, sondern direkt dem Publikum selbst und seiner Neugier. Auf einen Vorhang kommt es nicht an.

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