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Das Theater als Lebensschule. Christian Weises Schriften zu Pädagogik und Theater
Claudia Brinker-von der Heyde

1. Lehrer und Dramendichter aus pädagogischer Überzeugung
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„Denn er war erstlich von sehr kleiner Statur: hatte aber einen ungemein großen Bauch: er blinckerte mit den Augenliedern in einer Stunde mehr als 1000. Mahl; war auch insgemein an den Augen […] incommodiret. Er netzte die Lippen ohn Unterlaß mit Speichel und spuckte fast so viel mahl aus, als commata in der Rede waren: Seine Stimme war ein heller Discant, welcher desto wiederwärtiger klang, weil er hefftig schnarrte. Mit den Fingern machte er in währender Rede wunderliche Grimacen; die Füße aber war er gewohnet, so zu setzen, daß die Zehen harte zusammen, und die Versen weit voneinander stunden. In summa, Er hatte alles an sich, was einen Redner ridicul machen konnte […]“. (Hübner, zit. nach Horn, S. 189)

Wer würde anhand dieser Beschreibung vermuten, dass dieser Mann nicht nur „das Glücke [hatte], daß dieses alles an seiner Person verwundert ward“ (ebd.) und als „zu der Zeit beste Schulmann im gantzen Land“ (Altmann 1721, zit. nach Horn, S. 135) galt, sondern ein Pädagoge war, der die Fähigkeit eines sicheren, öffentlichen Auftretens seiner Schüler zum obersten Lernziel erhob und die Theaterbühne zu deren bedeutendstem Übungsort erklärte. Fünfzig bis siebzig Theaterstücke dürfte Christian Weise, denn um ihn handelt es sich hier, zu Ausbildungszwecken geschrieben haben. Die Zahlen in der Forschung schwanken dabei deutlich (Eggert, Groeben, Roloff 2009). Nicht zuletzt deshalb, weil Weise selbst nicht einmal den vierten Teil seiner Theaterproduktion zum Druck befördert hat, zum einen, damit ein „ungleicher Censor“ nicht auf die Idee kommen könnte, er hätte sein ganzes Leben „mit nichts als mit solchen Eitelkeiten zu thun“ gehabt (Weise 1976, Vorrede zu Lust und Nutz, S. 424, zugleich Weise 1690, unpag.), zum anderen aber, weil Weise überzeugt war, und darauf wird noch zurückzukommen sein, dass bei wechselnden Schülern die erneute Aufführung einer Komödie geradezu zwangsläufig scheitern müsse (Weise, Curieuser Körbelmacher, S. 101, zugleich Weise 1705, unpag.; Weise, Freymüthiger und höfflicher Redner, S. 431, zugleich Weise 1693, unpag.). Immer wieder begegnet er allfälliger Kritik mit dem Hinweis, er verstehe das Stückeschreiben lediglich als „Neben-Werk“ (Weise, Curieuser Körbelmacher, S. 102, zugleich Weise 1705, unpag.). Vierzig seiner Dramen sind dennoch im Druck überliefert, fünfzehn noch als Handschriften vorhanden, die restlichen gelten als verloren. Neben dieser intensiven Dramenproduktion verfasste Weise aber auch eine Vielzahl von Schriften, Vorreden und Kommentaren, in denen er sich ausführlich zur Bedeutung, Form und Funktion seines Theaterspiels äußert und dessen Einsatz im Unterricht immer wieder legitimiert. Die vor allem Ende des 17. Jahrhunderts sehr laut werdende Kritik aus Pietistenkreisen gegenüber dem Schauspiel bringt ihm „etliche difficulitäten“ (Weise, Freymüthiger und höfflicher Redner, S. 432, zugleich Weise 1693, unpag.). In einem Brief klagt er über den Ärger, den er wegen seiner Komödien immer wieder erleidet (Weise, zit. nach Horn, S. 118f.). Möglicherweise ist die Aufführungspause zwischen 1689-1701 dieser Kritik geschuldet (Wels; Caemmerer). Sie muss für Weise unerwartet gewesen sein, denn zumindest für das Jahr 1689 hatte er bereits die Dramen geschrieben (Weise, Vorrede zu Lust und Nutz, S. 421, zugleich Weise 1690, unpag.). Weder an seiner Überzeugung noch an seiner Praxis vermochte diese Kritik aber etwas zu ändern (Weise, Curiöser Körbelmacher, S. 101, zugleich Weise 1705, unpag.). Und er begegnet denen, die „eine verdrießliche Mine machen“ (ebd., S. 100, zugleich Weise 1705, unpag.) mit einem Zitat Martin Luthers, der gegenüber einem Kritiker das Theaterspiel verteidigt hatte:

„Comödien zu spielen soll man um der Knaben willen in der Schule nicht wehren/ sondern gestatten und zulassen. Erstlich/ daß sie sich üben in der Lateinischen Sprache. Zum andern/ daß in Comödien fein künstlich erdichtet/ abgemahlet und fürgestellet werden solche Personen/ dadurch die Leute unterrichtet/ und ein jeglicher seines Amts und Standes erinnert und ermahnet wird/ was einem Knechte/ Herrn/ Jungengesellen/ und Alten gebühre/ wol anstehe/ und was er thun soll. Ja es wird darinn fürgehalten/ und für Augen gestellet/ aller Dignitäten Grad/ Aempter und Gebühr/ wie sich ein jeglicher in seinem Stande halten soll/ in euserlichem Wandel/ in einem Spiegel.“ (Weise, Freymüthiger und höfflicher Redner, S. 425; siehe Luther, S. 431f., zugleich Weise 1693, unpag.)

Und tatsächlich hatte das Schultheater ja eine jahrhundertelange Tradition und war bestimmend für die Entwicklung des barocken Trauerspiels. Gryphius konzipierte nachweislich einige seiner Schauspiele für die Bühne des Breslauer Elisabethgymnasiums, die Cleopatra des Daniel Caspar von Lohenstein wurde noch vor der Drucklegung dort ebenfalls aufgeführt (Gajek, S. 7*). In Zittau lassen sich Aufführungen bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts zurückverfolgen. Weise setzte genau diese Tradition fort: „Weil es auch eingefuehret ist/ daß man drey Tage nach einander was neues hat sehen wollen: So machte ich bald im Anfange die Eintheilung/ daß erstlich etwas Geistliches aus der Bibel/ darnach was Politisches aus einer curiösen Historie/ letztlich ein freyes Gedichte/ und in solchen allerhand nachdenckliche Moralia die Zuschauer bey dem Appetit erhalten möchten.“ (Weise, Vorrede zu Lust und Nutz, S. 418f., zugleich Weise 1690, unpag.).

Ein biblisches Drama steht also am ersten Tag auf dem Programm, ein Geschichtsdrama am zweiten und ein Lustspiel am dritten Tag (Weise, Von Verfertigung der Komödien, S. 129). Wie bereits seit dem 16. Jahrhundert üblich, waren zunächst die Tage um Fastnacht der Aufführungstermin (Weise, Vorrede zu Lust und Nutz, S. 419f., zugleich Weise 1690, unpag.; Weise, Auff dem Zittauischen Schau-Platze, Titelblatt), ab 1685 wechselte man in den November mit dem Martinstag als Abschluss (Groeben, S. 49; Caemmerer, S. 305f.). Weise reagiert auf diesen neuen Termin, indem er z.B. 1688 dem Lustspiel Die unvergnügte Seele noch ein Nachspiel von der Martinsgans folgen lässt (Ort, S. 163, Anm. 77). Gespielt wurde auf der Bühne im Rathaus, die bereits im 16. Jahrhundert bestand, 1646 umgebaut und 1664 „auf die neue Mode mit Wänden und einer dreifachen Scene“ (zit. nach Gärtner, S. 45) erweitert wurde.

Weise hatte aber auch in seiner Schule ein „kleines Theatrum“ eingerichtet, auf dem sich die Schüler im Unterricht „mit gantzem Leibe Praesentiren müssen“ (Weise, Curieuser Körbelmacher, S. 100f., zugleich Weise 1705, unpag.). Es dürfte ihm während der zwölfjährigen Aufführungspause die große Rathausbühne ersetzt haben.

2. Das Leben – ein Spiel
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Ausgangspunkt und Legitimation für seine Überlegungen zum Theater ist Christian Weise – und hier bewegt er sich auf den ersten Blick in traditionellen Bahnen − die Vorstellung des Theatrum mundi: „[W]eil das Menschliche Leben an sich selbst einer immerwährenden Comödie vergliechen wird/ so kan ich nicht besser thun/ als wenn ich die Partheyen bey guter Zeit abzuschreiben gebe/ welche sie anitzo in Kurtzweil versuchen/ bald aber im Ernste vor die Hand nehmen sollen.“ (Weise, Zittauisches Theatrum, Widmung und Vorrede, S. 600, zugleich Weise 1683, unpag.; auch Weise, Vorrede zu Lust und Nutz, S. 423, zugleich Weise 1690, unpag.)

Die Welt als immerwährendes inszeniertes Schauspiel – denn diese Bedeutung hatte Komödie im 17. und auch noch im 18. Jahrhundert – fordert dazu auf, ja verlangt es geradezu, dass man dieses lebenslange Spiel in kleinerem Rahmen einübt, und dieser Rahmen ist die Schulbühne. Im Titelkupfer der 1693 „bey Gelegenheit Gewisser Schau-Spiele“ vorgelegten Schrift Freymüthiger und höfflicher Redner (Abb. 1) wird diese Verschränkung deutlich aufgerufen und in der Vorrede auch erklärt:

Abbildung
Abb. 1: Frontispiz, Freymüthiger und höfflicher Redner (1693)
Vor einer Bühne, die sich perspektivisch bis ins Unendliche erstreckt, steht eine Personengruppe, die sich teilweise in einem von einem Satyr gehaltenen Spiegel auf der Bühne widerspiegelt. Ein Akteur auf der Bühne betrachtet dieses Spiegelbild, ein anderer spiegelt sich selbst in einem zweiten Spiegel. In der Erklärung des Kupffer-Blats werden die zuschauenden Personen als die „Curiöse Welt“ bezeichnet, die „mit Tritten und Figuren/ Mit schöner Eitelkeit/ mit stoltzen Posituren“ (Weise, Freymüthiger und höfflicher Redner, S. 449, zugleich Weise 1693, unpag.) spielt. Wer sich nun vertraut machen will mit diesem vielschichtigen, keineswegs immer durchschaubaren Spiel, wer „gerne besser“ sieht, wie über dem Betrachter der sich spiegelnden Figuren zu lesen ist, der bringe die „Kopie“, das Spiegelbild auf die Bühne, um den Habitus und das Verhalten der „Welt“ zu erkennen und im Nachspielen nicht nur zu lernen, sondern auch zu verbessern. Analog dazu – und dies zeigt sich an der zweiten Figur – erlaubt der eigene Blick in den Spiegel festzustellen: „ich sehe besser“, weil man sich selbst darin erkennt und sein Verhalten dementsprechend so anpassen kann, dass es „andern wohlgefällt“ (ebd.).

Die Theaterbühne wird also zur detailgetreuen Kopie der realen Welt. Auf ihr kann das Verhalten eingeübt werden, das die Welt von ihren Akteuren fordert. Gleichzeitig aber ist die Bühne auch Spiegel für die in dieser Welt Lebenden. Sie erkennen ihr wahres Gesicht und werden immer wieder angehalten, ihr eigenes Verhalten zu überprüfen und wenn nötig zu korrigieren. Somit avanciert das Bühnengeschehen sowohl zum Abbild wie zum Sinnbild von Welt, ist „Mittel zur Bewußtseinsbildung und zur Anleitung zur kritischen Weltsicht“ (Roloff 1994, S. 25). Die Grenze zwischen Spiel und realem Sein ist fließend. Beides ist lernbar, miteinander verknüpft und voneinander abhängig. So sehen die Zuschauer im Schultheater die Schauspieler ja keineswegs nur in der ihnen zugewiesenen Rolle, sondern nehmen sie auch als ihre Söhne, Neffen usw. wahr. Das heißt, sie konzentrieren sich nicht allein auf den Inhalt des Dargestellten, sondern warten auf den Auftritt ihres Kindes und sind gespannt, wie gut es die ihm zugeteilte Rolle spielen wird (Weise, Zittauisches Theatrum, Frontispiz).

Diese enge Verschränkung von Welt und Bühne zeigt sich auch in Weises Verwendung des Begriffs ‚Theater‘. Er benennt damit sowohl den gesamten Theaterbau mit Bühne und Zuschauerraum als auch nur die Schau- oder Vorderbühne (Eggert, S. 69), spricht aber ebenfalls vom „Theologischen oder Politischen Theatro“, auf dem sich die Schüler später zu bewähren haben (Weise, Curieuser Körbelmacher, S. 100f., zugleich Weise 1705, unpag.; Barner), und meint damit natürlich nicht eine Bühnenaufführung, sondern die reale Lebenswelt. Ein weiter, auf alle Bereiche der Wissensvermittlung und -darstellung angewendeter Theaterbegriff (Kirchner) ist im 17. Jahrhundert selbstverständlich. Wenn Weise ihn aber deutlich auf nur zwei Bedeutungen verengt, auf das gebaute Theater und die darin gezeigten Spiele einerseits und das öffentliche bzw. private Leben andererseits, dann werden beide als nahezu identisch, bestenfalls noch graduell verschieden wahrgenommen (Weise, Von Verfertigung der Komödien, S. 133). Der Einsatz theatraler Elemente im täglichen Schulunterricht wie auch die jährliche Aufführung dreier Schauspiele ist damit nicht nur gerechtfertigt, sondern als Mittel der Erziehung geradezu notwendig.

Unübersehbar ist allerdings die gegenüber dem traditionellen Theatrum mundi-Begriff erfolgte semantische Verschiebung. Weise begreift das ‚Welttheater‘ nicht als ein von Gott gelenktes Schauspiel, an dessen Schluss Gott selbst über die Qualität der gespielten Rolle entscheidet und die Belohnung festsetzt, sondern er versteht es als rein innerweltliches Geschehen, bei dem die im Leben gut oder schlecht gespielte Rolle lediglich darüber entscheidet, ob der Akteur bei seinen ‚Mitspielern‘, also seinen Mitmenschen, reüssiert oder nicht. Das Theatrum mundi wird zu einer dezidiert säkularen Angelegenheit und erfährt damit − analog zum „ent-allegorisierenden Verfahren“ (Ort, S. 155) im Niederländischen Bauern − eine Ent-Metaphorisierung. Nicht eine außerweltliche Instanz, sondern die Gesellschaft fordert dazu auf, ‚richtig‘ zu leben, nicht Engel sind unter den Zuschauern, sondern nur noch die Welt und die in ihr lebenden Menschen (1. Kor 4,19). Und jeder trägt selbst die Verantwortung für das Gelingen oder Misslingen des eigenen Lebens, ist – in Weises Worten – „sein eigner Körbelmacher“:

„Wer grosse Sachen hofft/ und nichts darvon erhält/ Der bleibt gemeiniglich ein Schauspiel vor der Welt. Hat er auff viel gedacht/ und wenig eingenommen/ So spricht man allerseits: er hat den Korb bekommen. Auch das Verhängniß treibt die Körbelmacher an/ Damit das grosse Volck sich recht betheilen kan. Kein Mensch/ kein hoher Mann vergnüget sich in allen/ Das heist/ er ist einmal auch durch den Korb gefallen. Wiewol ich habe stets dem Wercke nachgedacht/ Wie mancher unversehns vor sich ein Körbgen macht. Der übereilet sich/ der will zu langsam gehen/ Der will den schlauen Winck des Glückes nicht verstehen. […] Ein jeder ist vielmal sein eigner Körbelmacher.“ (Weise, Curieuser Körbelmacher, S. 97, zugleich Weise 1705, unpag.)

Selbstverantwortung aber kann nur übernehmen, wer die Formen möglichen und richtigen Handelns kennt. Wo aber könnte man dieses Wissen besser und leichter erwerben als an dem Ort, der als Kopie der Welt gilt, auf dem Theater.

3. Die Verschränkung von Rolle, Charakter, Stand
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Nicht jeder wird allerdings in der Welt dieselbe Rolle zu spielen haben, und selbst gleiche Rollen werden von unterschiedlichen Personen nicht identisch ausgeführt, weil – und dies führt Weise immer wieder aus – die natürlichen Anlagen eines jeden unterschiedlich sind. Deshalb ist es für ihn von besonderer Wichtigkeit beim Schreiben bzw. Diktieren seiner Texte bereits den Schüler vor Augen zu haben, dem die Rolle zugedacht ist, so dass sie dessen „Naturell“, also seine spezifische Veranlagungen, berücksichtigt:

„XXIX. Zwar wir sehen erstlich/ wie man gemeiniglich einem guten Naturel das meiste zu dancken hat. Der geneigte Leser wird mir dieses zugeben. Mancher hat von Natur einen liebreichen/ mancher einen ernsthafften/ mancher einen lustigen Accent. Und wir befinden es in der Conversation, wie mancher die Gabe hat/ was lustiges zu erzehlen/ daß alle vor Lachen zerspringen möchten: Und wenn eben die Sache von einem andern nachgesaget wird/ so weiß niemand/ warum er lachen solte. Ja man darf nur in das Catechismus-Examen gehen/ da sich die ungeübten Kinder öffentlich hören lassen/ wie manches so einfältig und verdrießlich/ manches hingegen mit einem manierlichen Accente die Kirche zu füllen weiß/ da sie doch alle die Lection von einem Schulmeister bekommen haben. […] XXXI. Also können wir nun von keinem Lehrmeister dieses fordern/ daß er aus allen ungeschickten Kerlen was geschicktes/ und also zu reden/ was lebendiges machen sol. Ja wir dürffen auch dieses nicht begehren/ daß er einen jungen Menschen wider sein Naturel zu etwas zwingen sol. Denn wer zu einem linden und weibischen Accent gebohren ist/ der wird sich nimmermehr zu einer männlichen und Gravitätischen Manier zwingen lassen. Ich habe es in meinen Comödien erfahren/ da gab ich keinem etwas zu Agiren/ darinn ich nicht alles nach der Person ihrem Naturel eingerichtet hatte.“ (Weise, Freymüthiger und höfflicher Redner, S. 402f., zugleich Weise 1693, unpag.)

Dem Schüler wird also nicht eine beliebige Rolle übergestülpt, die er einübt, ohne dass sie mit ihm selbst etwas zu tun hätte, sondern er spielt in seiner Rolle mehrheitlich sich selbst: „Waren sie munter oder schläfferich/ trotzig oder furchtsam/ lustig oder melancholisch/ so Accommodirte ich die Reden auf solche Minen/ und auff einen solchen Accent, daß sie nothwendig ihre Sachen wohl Agiren musten. Und wer dieses in acht nehmen will/ der mag die schlechtesten Kerlen auff die Bühne bringen/ wenn sie nach ihren Naturel zu reden haben/ wird es Propre und geschickt heraus kommen […].“ (Weise, Vorrede zu Lust und Nutz, S. 422, zugleich Weise 1690, unpag.).

Wie ernst es Weise war, die Bühnenfiguren dem Habitus und Können des jeweiligen Schülers anzupassen, zeigt sich darin, dass er seine Texte laut diktierte, denn nur auf diese Weise fühlte er sich imstande, „die lebendige Pronunciation“ (Weise, Von Verfertigung der Komödien, S. 128) zu hören und damit zu erkennen, ob der Text den Fähigkeiten des für die Rolle vorgesehenen Schülers entsprach (Weise, Curieuser Körbelmacher, S. 101, zugleich Weise 1705, unpag.). Auch berücksichtigte er den Stand und die spätere Bestimmung des Schülers. So übernahmen laut Spielplan des Masaniello von 1682 die beiden Söhne eines der beiden Herren von Schweidnitz, denen die drei Stücke gewidmet sind, die Rollen der adeligen Hauptfiguren Roderigo und Leonisse. Wichtiger als das Geschlecht war offensichtlich der Stand. Alle anderen adeligen Figuren spielten ebenfalls Adelige, die Bürger und Bauern dagegen Nichtadelige. Sogar die eigentliche Hauptrolle des Aufsteigers und Rädelsführers Massaniello wurde einem aus dem Bürgertum stammenden Schüler übertragen. Das Lustspiel des dritten Tages mit seinen derb-komischen Elementen verzichtet dann ganz auf adelige Darsteller. Dasselbe ist auch im biblischen Spiel zu beobachten. Dort übernahm der erst vierjährige Sohn von Weise die Rolle eines Schäfers (Weise, Auf dem Zittauischen Schau-Platze, Personenverzeichnis; dazu Groeben, S. 50f.).

Mit wenigen Ausnahmen agierten also adelige Schüler auch auf der Bühne als Adelige, bürgerliche Schüler spielten Bürger, Bauerskinder Bauern. In der gespielten Rolle ist damit bereits die spätere gesellschaftliche Position des Rolleninhabers angelegt, ein deutlicher Hinweis darauf, dass es in erster Linie darum ging, sich selbst spielen zu lernen.

Ein nicht unerhebliches Problem für Weise war die große Anzahl der Schüler. Bis zu hundert Personen musste ein Part in der Komödie eingeräumt werden, wenn Weise seinen Anspruch einlösen wollte, das Schauspiel als Lehr- und Lerneinheit im Unterricht zu verankern. Vor allem bei sehr jungen Schülern behalf er sich mit stummen Rollen, etwa, wenn im Masaniello Narren gesät werden, die dann munter auf der Bühne herumtollen und „stumme Bürger“ sowie „stumme Bauren“ und „kleine neapolitanische Kinder“ Masaniello als Gefolge begleiten (Weise, Masaniello, Personenverzeichnis). Auch die Kleinsten sollten bei den fünfstündigen Aufführungen den Anspruch auf Unterhaltung erfüllen und gemäß ihrem Alter agieren können: „Ja weil manche Scenen vor gantz kleine Knaben eingerichtet sind/ welche so wohl den vornehmen Eltern zur Vergnügung/ als ihnen selbst zur Excitation mit eingeschoben werden/ so läst sich das Decorum wol nicht besser heraus bringen/ als daß sie nach ihrem Alter was kindisches/ und doch was lustiges vorbringen/ und sich wohl mit der lustigen Haupt-Person zu einem Schertze einlassen.“ (Weise, Vorrede Komödien Probe, S. 444)

Für die meisten aber galt es spezifische Szenen zu entwickeln und Texte zu schreiben, was zu vielen Nebenfiguren und Nebenhandlungen führte. Wiederholungen von Aufführungen sind mit all diesen „auf den Leib geschneiderten“ Rollen nahezu unmöglich, denn – so Weise – „wenn ich nur die Personen hätte verwechseln sollen/ die sonst ihre Partheyen alle vor sich selbst gar ungezwungen Repraesentirten/ so würde man den Unterscheid und den Mangel sehr gespürt haben“ (Weise, Freymüthiger und höfflicher Redner, S. 403, zugleich Weise 1693, unpag.; Horn, S. 117; Ort, S. 166). Und der eigentliche Zweck des Theaterspielens, dem jungen Menschen situationsadäquates und gleichzeitig natürlich wirkendes Verhalten und Agieren beizubringen, wäre verfehlt.

4. Die Bühne als Übungsraum für das Leben
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Zweifellos verändert sich mit einer derart „pädagogische[n] Dramaturgie“ (Zeller, S. 109) markant die Wirkabsicht des Dramas. Es geht nicht vorrangig darum, ein Publikum unterhaltsam zu belehren, sondern den Akteuren, also den Schülern, Handlungswissen zu vermitteln. So ist denn auch für Weise eine Schulkomödie durchaus etwas anderes als eine Aufführung am Hof mit professionellen Schauspielern, nämlich „eine Accurate Vorstellung und Interpretation einer gewissen Begebenheit. [...] Inmassen die Principal-Intention bey solchen Exercitiis nicht durchgehends zur Pracht/ wie etwan zu Hofe geschiehet/ nicht zur blossen Ergötzlichkeit und zur politischen Curiosität wie bey den ordentlichen Comoedianten erfordert wird/ sondern auch zur Auffmunterung der ungeübten und furchtsamen Jugend abgerichtet ist […]“ (Weise, Vorrede Komödien Probe, S. 431f., 445).

Angeregt werden soll diese Jugend zu „einer Curieusen Betrachtung Menschlicher und Politischer Begebenheiten“ (Weise, Widmung und Vorrede des Zittauischen Theatrums, S. 600, zugleich Weise 1683, unpag.), um sich politische Klugheit anzueignen, die nicht zuletzt in der Kunst der natürlich wirkenden Verstellung besteht: „Mit einem Worte/ wer die Kunst recht gebrauchen will/ der muß sich in das rechtmässige simuliren und dissimuliren finden lernen. Das heist/ wir müssen uns offt anders von aussen stellen/ als wir sind; und was wir sind/ das dürffen wir nicht mercken lassen.“ (Weise, Politische Fragen, S. 439)

Gleichsam als „Existenzfrage für einen Politicus“ (Horn, S. 67; Barner, S. 180) gilt Weise diese Fähigkeit, die noch im Zedler – wenn auch bereits mit kritischem Unterton – als die zentrale Kategorie der Politik benannt wird: „Politick […] nach dem gemeinen heutigen Gebrauch […] eine besondere Klugheit, die Vortheile eines Fürsten oder Staats wohl auszusinnen, durch verdeckte Wege zu suchen und auf alle mögliche Weise zu erlangen. In solchem Verstand wird es offt auch auf Privat-Händel und Geschäffte gezogen“ (Zedler, Bd. 28, Sp. 1526 [lies: Sp. 1226]).

Wohl von Gracians Theorien beeinflusst, die unter ‚Politik‘ das anwendungsorientierte Wissen über den Umgang mit Menschen verstehen, geht es Weise also darum, den Schülern die Strategien beizubringen, mit denen sie erfolgreich auf der Weltbühne ihre Karriere vorantreiben können. Weise kennt diese Strategien genau, hat er doch jahrelang als Erzieher am Hof und danach als Lehrer an einer Ritterakademie gelebt und sich vornehmlich in seinen lateinischen, aber auch manchen deutschen Schriften intensiv zu ihnen geäußert (Weise, Politische Fragen; Weise, Politischer Redner). Dieses Wissen vermittelt er nun aber nicht länger theoretisch, sondern verarbeitet es in seinen Komödien, so dass die Schüler es auf der Bühne – und damit in einem noch geschützten Raum – spielerisch handelnd erwerben können.

5. Alltagssprache als Bühnensprache
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Und weil in der wirklichen Welt niemand lateinisch miteinander kommuniziert, ist es für Weise die vordringliche Aufgabe schlechthin, die Schüler in ihrer Muttersprache, die keineswegs „gantz angebohren wird“ (Weise, Vorrede zu Lust und Nutz, S. 424, zugleich Weise 1690, unpag.) zu „trainieren“, das heißt ihnen beizubringen, sich gut auf Deutsch ausdrücken zu können: „Derohalben ist dieses mein Rath/ man setze so wol die gelehrte/ als die gemeine Muttersprache zusammen/ und gedencke/ wir lernen nicht darum/ daß wir in der Schule wollen vor gelehrt angesehen seyn;/ sondern daß wir dem gemeinen Leben nütze werden. Vielleicht würden auch die Gelehrten an vielen Orten nicht so veracht seyn/ wenn sie mit ihren Thun erwiesen/ daß die Welt ihrer nicht entrathen könnte.“ (Weise, Nothwendige Gedanken, zit. nach Zeller, S. 56). Und er weiß sich mit diesem Postulat durchaus im Einklang mit seinen Zeitgenossen, klagt doch zum Beispiel auch Balthasar Kindermann, „daß man die hochedle deutsche Sprache/ bey so hellem und klaren Liecht/ in den Schulen/ so gar üblich und bößlich unter die Banck stecket“ (Kindermann, S. 716, § 7).

Im Unterricht hatte Weise die Zittauer Schulordnung von 1594 übernommen und damit auch Latein weiterhin als Unterrichtssprache gepflegt. Aber er ergänzt diese Bildungssprache um die Handlungssprache Deutsch, so dass überall dort, wo Sprache der actio zugehört, die Übungen in Deutsch und auf einer Bühne stattfinden. Und nicht Verse werden deklamiert, sondern Prosa gesprochen, denn es gibt „keinen casum im menschlichen Leben, da die Leute mit einander Verse machen“ (Weise, Von Verfertigung der Komödien, S. 131). Mit all dem setzt sich Weise deutlich von anderen Schultheatern ab, in denen häufig die Dramen auf Latein oder – wenn auf Deutsch – zumindest in gebundener Rede aufgeführt wurden (Gajek, S. 29*f.). Und er geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er nicht Hochdeutsch zum Standard erhebt, sondern den Dialekt als lebensweltliche ‚Realie‘ anerkennt.

„Denn es sind viel Personen/ welche nicht den hochdeutschen Accent, wie er im Buche stehet/ behalten dürffen/ sondern sie müssen sich nach dem Dialecto richten/ der bey uns auch unter Galanten Leuten in acht genommen wird. Wo sie das nicht thun/ so kommen die meisten Sprüchwörter und andere scharfsinnige Reden gar todt und gezwungen heraus. Es ist bekand/ daß man insgemein dafür hält/ die Niedersächsischen Possen-Spiele Praesentiren sich besser als die Hochdeutschen. Und wer die Ursache wissen will/ der mag nur dieses bedencken. Die Nieder-Sachsen bleiben bey ihrer familiären Pronunciation, damit ist alles lebendig und Naturell: hingegegen die Hochdeutschen reden offt/ als wenn sie Worte aus der Postille lesen solten/ damit werden dem Auctori die besten Inventiones verdorben. Soll das Sprüchwort wahr bleiben: Comoedia Est Vitae Humanae Speculum, so muß die Rede gewißlich dem Menschlichen Leben ähnlich seyn.“ (Weise, Vorrede zu Lust und Nutz, S. 423, zugleich Weise 1690, unpag.).

Allerdings verlangt das Auftreten alltäglicher Figuren auch den Akteuren viel ab, denn im gedruckten Text finden sich nur wenige dialektale Formen. Deshalb dürfen die Schüler nicht so reden, wie sie es lesen, „sondern es muß alles nach dem gewöhnlichen Dialecto manierlich ausgesprochen werden“ (Weise, Curieuser Körbelmacher, S. 102, zugleich Weise 1705, unpag.), ist es doch etwas gänzlich anderes, „wenn man junge Leute die Postillen oder sonst ein Buch lesen lässet, da sie nur bei dem Buchstabieren bleiben und alles nach der vorgeschriebenen Mode zu pronuncieren pflegen“, als „wenn sie zum Erkenntnis gebracht werden, wie sie selbst in gemeinen Diskursen ihre Worte setzen“ (Weise, Verfertigung der Komödien, S. 131f.).

Die Aufgabe der Schüler ist es also, die Schriftsprache selbst in die jeweils ihnen eigene, dialektal gefärbte Sprechsprache zu transportieren, das heißt ihr Erfahrungs- bzw. Alltagswissen auf der Bühne einzusetzen, um sozusagen als Gegenleistung über das Theaterspiel neues Handlungswissen zu erhalten. Als Lesetexte, so Weises Überzeugung, eignen sich die Dramen daher kaum. Einzige Ausnahme ist die Complimentierkomödie von 1677 (Barner, S. 183; Michel), die Weise noch vor seiner Zittauer Zeit als einprägsames Beispiel seinem Politischen Redner beifügte und explizit zum Lesen bestimmte (Weise, Vorrede zu Lust und Nutz, S. 418, zugleich Weise 1690, unpag.), auch wenn er sich einzelne, zu Übungszwecken aufgeführte Szenen durchaus vorstellen kann (Weise, Politischer Redner, S. 292f.). Auf beinahe 200 Seiten werden in der „Lesecomödie“ sämtliche Gesprächssituationen durchgespielt, denen sich die Schüler später werden stellen müssen: zwischen verschiedenen Ständen, zwischen verschiedenen Berufen, zwischen Frauen und Männern, zwischen Feinden und Freunden usw. „Als wichtigste verbale Mittel der Beziehungs- und Image-Pflege“ (Michel, S. 485) galt für Komplimente als oberstes Prinzip die Beachtung sprachlicher Normen und gesellschaftlicher Regeln bei gleichzeitig ‚natürlichem‘ Benehmen. „Aufrichtigkeit und die Wahrheit/ oder doch eine kluge Vorsichtigkeit“ waren in jedem Fall besser als „studierte Beredsamkeit“ (Weise, Neue Proben, S. 416). Ein perfekter homo politicus musste in allen Lebenslagen die mediocritas, das richtige Maß, finden. Das aber konnte je nach eigener Stellung und Funktion bzw. Gesprächspartner eben ganz unterschiedlich sein:

„XX. Ein Geistlicher/ der auff der Cantzel/ im Beichtstuel/ bey dem Altare/ ja wol auch bey dem Krancken-Bette zu reden hat/ dem stehen die andächtigen/ liebreichen und Gravitätischen Minen wol an; Denn er muß mit der andächtigen Mine weisen/ daß ihm die Rede von Hertzen gehet. Ja er muß erscheinen mit der liebreichen Mine/ daß er ein Diener Christi heisset/ welcher allen Menschen will geholffen haben; So denn auch mit der Gravitätischen Mine/ daß er sich der weltlichen Eitelkeit durchaus nicht anzunehmen gedencket. XXI. Hingegen ein Politicus muß sich schon in seinen Complimenten nach der Mode richten/ nur daß er nicht des Bückens und des Außstreichens gar zu viel macht/ wie etliche Complimentisten/ die keinen Unterscheid halten/ ob sie mit einem Fürsten oder mit einem Kammerdiener reden. Wenn sie mit einem höhern zu schaffen haben/ so Moderiren sie die Stimme und erweisen in den Minen zwar etwas demüthiges und auffwartsames/ doch mit so einem klugen Temperament, daß man kein Sclavisches Gemüthe bey ihnen suchen darff. Wenn sie mit ihres gleichen/ oder auch mit einem geringeren zusammen kommen/ so muß alles mit einer Gratiösen Mine geschehen/ daraus lauter Freundligkeit und Liebe zu erkennen ist/ doch also/ daß man nichts gezwungenes/ als ein unbetrügliches Merckmahl der Falschheit mit unterlauffen läst. Endlich wenn man im Nahmen eines Obern mit den Untern zu reden hat/ so ist ein Gravitätischer Accent und eine sachte Bewegung des Leibes am alleranständigsten.“ (Weise, Freymüthiger und höfflicher Redner, S. 399f., zugleich Weise 1693, unpag.)

6. Lernen durch Spielen
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Mit dem Sprechen korrelieren müssen stets aber auch Körperhaltung, Bewegung, Gebärde und Mimik. „[W]ie könte ich einen zukünfftigen Cavallier von meiner Hand wegziehen lassen/ wenn er zwar das Gemüthe mit Lateinischen Gedancken/ hingegen aber die Zunge mit keiner anständigen Beredsamkeit/ viel weniger das Gesichte und den Leib zu keiner leutseligen Mine Disponirt hätte“ (Weise, Zittauisches Theatrum, Widmung und Vorrede, S. 600, zugleich Weise 1683, unpag.), schreibt Weise in seiner Widmung an die Herren von Schweidnitz. Und deshalb lernen die Schüler nicht nur ihre Texte, sondern üben bei Tanz- und Fechtmeistern die dazu gehörenden sichtbaren Körperzeichen und werden angehalten, die äußerlichen Ausdrucksformen für Affekte – Weinen, Lachen, Zürnen usw. – sich als „Vorrathe“ (Weise, Freymüthiger und höfflicher Redner, S. 401f., zugleich Weise 1693, unpag.; Zeller, S. 38f.) anzulegen, um sie in entsprechenden Situation sinnvoll einzusetzen, unabhängig davon, ob sie ‚echt‘ oder nur vorgetäuscht sind (Weise, Freymüthiger und höfflicher Redner, S. 421, zugleich Weise 1693, unpag.).

Spielerisch eignen sich die Schüler also den situationsadäquaten Habitus und die Sprache an, lernen perfekte Dialoge wie Monologe zu führen, erkennen Unterschiede von Stand, Hierarchien oder Geschlecht und verfügen damit über das Instrumentarium, das sie in ihrem späteren Leben einsetzen müssen, wollen sie Erfolg haben. Wissen allein – so Weises Credo – ist sinnloses Wissen, erst dessen richtige Anwendung im öffentlichen wie privaten Umfeld macht es lebendig und gibt ihm Sinn.

7. „Didaktische Poetik“
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Um eines solch pädagogischen Nutzens willen verletzt Weise ganz bewusst alle Regeln der barocken Dramentheorie: die Ständeklausel, den stilus, die Form. Doch selbstbewusst erklärt er, dass es sehr viel schwieriger sei, „gemeine Leute“ auf die Bühne zu stellen, weil deren Sprache vom Publikum beurteilt werden kann, was beim Auftreten „lauter hohe[r] Personen […]/ die vielmal kein Mensch in der gantzen Versammlung gesehen hat“, kaum der Fall sei (Weise, Curieuser Körbelmacher, S. 102, zugleich Weise 1705, unpag.). Und auch die vielen oft derb-komischen Elemente, die sowohl in den biblischen wie den historischen Dramen und selbstverständlich in den Lustspielen zu finden sind, legitimiert Weise damit, dass man beim ‚Blick ins gemeine Leben‘ eine Vielzahl solch komischer Situationen finden wird:

„Mein Stuben Camerade zanckte sich in der Cammer mit der Wäscherin/ die ein Hembde verlohren hatte; Die Wirthin vom Hause durchsuchte mit einer guten Freundin den Schranck/ da die Wäsche verschlossen war/ und hatte sich in etlichen Stücken verrechnet; Die Köchin fieng mit dem Holtzschläger unten im Hofe Händel an/ da wuste ich mir in meiner Ungedult nicht zu helffen/ und weil ich ohne dem mit dem studieren nicht fort kam/ so schrieb ich nur aus allen Discursen das kräfftigest nach/ und ich muß bekennen/ daß mir die Zeit meines Lebens nichts so lächerlich vorkommen ist/ als nachdem ich die wunderlichen Episodia mit guten Freunden überlesen wolte.“ (Weise, Vorrede Komödien Probe, S. 436, auch S. 435)

Lachen gehört zum Menschsein und ist als Affekt von Gott gegeben worden (Vorrede zu Lust und Nutz, S. 426, zugleich Weise 1690, unpag.). Deshalb darf Komik auf der Bühne eingesetzt werden, zumal sich oft „grosse Klugheit“ (ebd., S. 427) hinter ihr verbirgt. Zu beachten sind nur, die „Poetologien der Mischung“ (Strässle), das heißt das richtige Verhältnis von Vergnügen und Nutzen. Die Schale darf vergnüglich und wohlschmeckend sein, wenn nur „ein nützlicher Kern darinne anzutreffen“ ist, meint Weise, ein im Barock überaus beliebtes Bild für das horazische prodesse und delectare. An anderen Stellen nimmt Weise Bezug auf Lukrez, der von überzuckerten Pillen spricht, was die bittere Medizin, sprich die Lehre, schmackhaft macht. Allerdings verändert er dessen Aussage zu einer pädagogisch-didaktischen Prämisse, die sich nicht ausschließlich, aber doch vornehmlich an die Akteure, nämlich die Schüler richtet. Im Lustspiel Zweyfache Poetenzunft singen diese denn auch gleich zu Beginn folgendes Lied:

„I. Heran/ wer Lust zu freyen Schertzen/ Und einen Sinn zu Lachen hat. Hier ist ein Spiel nach seinem Hertzen/ Da lach‘ er sich vor dißmahl satt. Denn wem ist Cato so verwandt/ Daß er die Freude gantz verbannt? II. Was helffen uns die herben Speisen/ Wo sich kein Zucker unterstreut? Wil uns ein Mensch viel Arbeit weisen/ So zeig er auch die Fröligkeit/ Dadurch der abgezehrte Muth Sich wieder was zu gute thut.“ (Weise, Von einer zweyfachen Poeten-Zunfft, unpag.)

Die Belustigung der Schüler führt diese aus der Schule als einem „schattichten Ort/ da man dem rechten Lichte gar selten nahe kömt“, hin zu diesem Licht und macht sie vertraut mit dem menschlichen Leben als einer „immerwährenden Comödie“ (Weise, Widmung und Vorrede des Zittauischen Theatrums, S. 600). Und das Publikum wird ebenfalls bei Laune gehalten, damit es nicht „der ernsthafften Verstellungen überdrüssig werden möchte“ (Weise, Neue Proben von der vertrauten Redens-Kunst, S. 419). Nicht bittere Pillen werden deshalb überzuckert, sondern harte und damit schwer verdauliche Speisen, mithin also komplexe und schwierige Sachverhalte, um sie auf diese Weise leichter verständlich und damit unterhaltsam zu machen.

8. Schultheater als Wissenstheater
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Das Schultheater Weises ist in hohem Maß ein Wissenstheater, wobei die Wissensvermittlung und -aneignung in erster Linie den darstellenden Schülern und erst in zweiter Linie auch den Zuschauern gilt. Gleichzeitig aber bedarf das Theater selbst des Wissens um die lebensweltliche Realität, um diese auf der Bühne kopieren zu können, und es bedarf des Wissens von Seiten des Autors, muss er sich doch geeignete Stoffe suchen. Für die geistlichen Spiele findet er diese in der Bibel, für die historischen Dramen bedient er sich der Wissensliteratur seiner Zeit, allen voran des Theatrum Europaeum, in dem er z.B. die Vorlage für den Masaniello gefunden hatte (Groeben). Wie Weise dieses ‚Buchtheater‘ auf die Bühne bringt, welche Transformationen er vornimmt, ist bisher allerdings nur sehr kursorisch angesprochen worden und bedürfte einer eigenen Untersuchung. Dem Credo, dem sich Weise verpflichtet hat und das in all seinen Ausführungen immer spürbar bleibt, scheint er allerdings auch dabei treu geblieben sein:

„Ich suche was möglich ist. Ich suche was nützlich ist Ich glaube nichts/ was der Möglichkeit und der Nutzbarkeit zu wieder ist. [...] Ich tadle keinen/ der meiner Gedanken nicht ist.“ (Weise, Curiöse Fragen über die Logica, S. 568, zit. nach Horn, S. 133f.)

Unbeirrt hat Weise zeitlebens sein erklärtes pädagogisches Ziel verfolgt, junge Menschen zu lebenstüchtigen und lebensgewandten Menschen heranzubilden. Das Theater erschien ihm für die Erreichung dieses Erziehungsziels die geeignete Lebensschule.

9. Bibliographische Nachweise und Forschungsliteratur
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9.1. Quellen
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  • Balthasar Kindermann: Der deutsche Poet. Nachdruck der Ausgabe Wittenberg 1664, Hildesheim New York 1973 [gbv]
  • Martin Luther: Werke. Weimar 1912, Nachdruck Stuttgart 2000, Bd. 1: Tischreden 1531-1546 [gbv]
  • Christian Weise: Anhang eines neuen Lust-Spieles Von Einer zweyfachen Poeten-Zunfft praesentiret in Zittau/ den 6. Mart. MDCLXXX Leipzig 1683 [opac]
  • Christian Weise: Auff dem Zittauischen Schau-Platze Sollen [...] Unterschiedliche Lust-Spiele vorgestellet werden; Als [...] den 10. Februarii Von Jacobs Heyrath/ [...] den 11. Februarii Von dem Neapolitanischen Haupt-Rebellen Masaniello; [...] den 12. Februarii [...] Von der Beschützten Unschuld Nebenst einem Neuen [...] Nach-Spiele/ [...] Auf Bitte C.W.R. Zittau 1682 [gbv]
  • Christian Weise: Christian Weisens Curieuser Körbelmacher: Wie solcher auff dem Zittauischen Theatro den 26. Octobr. MDCCII. von Etlichen Studirenden præsentiret worden; Anietzo aus gewissen Ursachen herausgegeben, in: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. John D. Lindberg und Hans-Gert Rolof. Bd. XV: Schauspiele II. Berlin, New York 1986, S. 92-314 [gbv]
  • Christian Weise: Christian Weisens Politische Fragen/ Das ist: Gründliche Nachricht Von der Politica Welcher Gestalt Vornehme und wolgezogene Jugend hierinne Einen Grund legen/ So dann aus den heutige[n] Republiquen gute Exempel erkennen/ Endlich auch in practicabl [...]/ Dresden 1698 [opac]
  • Christian Weise: Christian Weisens Zittauisches Theatrum Wie solches Anno M DC LXXXII. præsentiret worden. Zittau 1683 [opac]
  • Christian Weise: Der Grünen Jugend Nothwendige Gedancken/ Denen Uberflüßigen Gedancken entgegen gesetzt Und Zu gebührender Nachfolge/ so wol in gebundenen als ungebundenen Reden/ allen curiösen Gemüthern recommendirt. Leipzig 1675 [unpubl.] [opac]
  • Christian Weise: Freymüthiger und höfflicher Redner/ das ist/ ausführliche Gedancken von der Pronunciation und Action, Was ein getreuer Informator darbey rathen und helffen kan. Bey Gelegenheit Gewisser Schau-Spiele […] entworffen. [Leipzig ]1693 [opac]
  • Christian Weise: Freymüthiger und höfflicher Redner. Erklärung des Kupffer-Blats, in: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. John D. Lindberg und Hans-Gert Roloff. Bd. VI: Biblische Dramen III. Berlin, New York 1988, S. 449 [opac]
  • Christian Weise: Freymüthiger und höfflicher Redner. Vorrede, in: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. John D. Lindberg und Hans-Gert Roloff. Bd. XII/2: Lustspiele III. Berlin, New York 1986, S. 392-456 [gbv]
  • Christian Weise: Lust und Nutz der Spielenden Jugend, bestehend in zwei Schau=und Lust=Spielen vom Keuschen Josepf und der Unvergnügten Seele/ Nebenst einer ausführlichen Vorrede/ darinnen von der Intention dergleichen Spiele deutlich und aus dem Fundamente gehantelt wird. Dreßden und Leipzig 1690 [opac]
  • Christian Weise: Masaniello. Stuttgart 1972 [opac]
  • Christian Weise: Neue Proben von der vertrauten Redens-Kunst. Vorrede, in: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. John D. Lindberg und Hans-Gert Roloff. Bd. III: Historische Dramen III. Berlin, New York 1971, S. 413-420 [opac]
  • Christian Weise: Politischer Redner/ Das ist: Kurtze und eigentliche Nachricht/ wie ein sorgfältiger Hofmeister seine Untergebene zu der Wolredenheit anführen soll [...]. Alles mit gnugsamen Regeln/ anständigen Exempeln/ un[d] endl. mit einem nützlichen Register ausgefertiget. Leipzig 1679 (ED 1696) [Complimentierkomödie: S. 292-434] [opac]
  • Christian Weise: Von einer zweyfachen Poeten-Zunfft, in: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. John D. Lindberg und Hans-Gert Roloff. Bd. XI: Lustspiele II. Berlin, New York 1976, S. 160-245 [gbv]
  • Christian Weise: Von Verfertigung der Komödien und ihrem Nutzen, in: Fritz Brüggemann (Hg.): Aus der Frühzeit der deutschen Aufklärung. Christian Thomasius und Christian Weise. Leipzig 1938, S. 128-133 [gbv]
  • Christian Weise: Vorrede Komödien Probe, in: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. John D. Lindberg und Hans-Gert Roloff. Bd. VIII: Biblische Dramen V. Berlin, New York 1976, S. 430-446 [gbv]
  • Christian Weise: Vorrede zu Lust und Nutz (der spielenden Jugend), in: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. John D. Lindberg und Hans-Gert Roloff. Bd. VIII: Biblische Dramen V. Berlin, New York 1976, S. 417-429 [gbv]
  • Christian Weise: Widmung und Vorrede des Zittauischen Theatrums, in: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. John D. Lindberg und Hans-Gert Roloff. Bd. I: Historische Dramen I. Berlin, New York 1971, S. 599-601 [gbv]
  • Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste. 68 Bde. Halle, Leipzig 1732-1754 [opac]

9.2. Forschungsliteratur
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  • Wilfried Barner: Aufrichtigkeit und „Lebendigkeit“ bei Christian Weise, pragmalinguistisch betrachtet, in: Claudia Benthien, Steffen Martus (Hg.): Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Tübingen 2006, S. 179-187 [opac]
  • Christiane Caemmerer: Christian Weises Stücke vom dritten Tag als praktischer Übungsteil seiner Oratorielehre, in: Peter Behnke (Hg.): Christian Weise. Dichter, Gelehrter, Pädagoge. Beiträge zum ersten Christian-Weise-Symposium aus Anlaß des 350. Geburtstages, Zittau 1992. Bern, Berlin [u.a.] 1994, S. 297-313 [opac]
  • Walther Eggert: Christian Weise und seine Bühne. Germanisch und Deutsch. Studien zur Sprache und Kultur. Berlin, Leipzig 1935 [opac]
  • Theodor Gärtner: Die Zittauer Schulkomödie vor Christian Weise, in: Uwe Kahl (Hg.): Christian Weise zum 290. Todestag am 21. Oktober 1998. Zittau 1998, S. 41-45 [gbv]
  • Konrad Gajek (Hg.): Das Breslauer Schultheater im 17. und 18. Jahrhundert: Einladungsschriften zu den Schulactus und Szenare zu den Aufführungen förmlicher Comödien an den protestantischen Gymnasien. Tübingen 1994 [opac]
  • Christiane Groeben: Masaniellos langer Weg von Neapel nach Zittau, in: Bibliotheksjournal der Christian-Weise-Bibliothek Zittau (1998), H. 1-3, S. 46-62 [gbv]
  • Hans Arno Horn: Christian Weise als Erneuerer des deutschen Gymnasiums im Zeitalter des Barock. Weinheim 1966 [gbv]
  • Thomas Kirchner: Der Theaterbegriff des Barock, in: Maske und Kothurn 31 (1985), S. 131-140 [opac]
  • Paul Michel: Christian Weises Complimentir-Comödie (1677), in: Peter Hesse (Hg.): Poet und Praeceptor. Christian Weise (1642-1708) zum 300. Todestag. 2. Internationales Christian-Weise-Symposium 21.-24. Oktober 2008 in Zittau. Dresden 2009, S. 485-503 [opac]
  • Claus-Michael Ort: Die Kontingenz des ‚Spiels‘ und das Ende der Allegorie. Zu Christian Weises „Schauspiel vom niederländischen Bauern“, in: Peter Hesse (Hg.): Poet und Praeceptor. Christian Weise (1642-1708) zum 300. Todestag. 2. Internationales Christian-Weise-Symposium 21.-24. Oktober 2008 in Zittau. Dresden 2009, S. 143-166 [opac]
  • Hans-Gert Roloff: Christian Weise – damals und heute, in: Peter Behnke (Hg.): Christian Weise. Dichter, Gelehrter, Pädagoge. Beiträge zum ersten Christian-Weise-Symposium aus Anlaß des 350. Geburtstages, Zittau 1992. Bern, Berlin [u.a.] 1994, S. 9-26 [opac]
  • Hans-Gert Roloff: Christian Weise – Poet und Praeceptor, in: Peter Hesse (Hg.): Poet und Praeceptor. Christian Weise (1642-1708) zum 300. Todestag. 2. Internationales Christian-Weise-Symposium 21.-24. Oktober 2008 in Zittau. Dresden 2009, S. 13-30 [opac]
  • Thomas Strässle: Poetologien der Mischung. Textmodelle im Barock, in: Andreas Gardt, Mireille Schnyder, Jürgen Wolf (Hg.): Buchkultur und Wissensvermittlung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin [u.a.] 2011, S. 261-274 [opac]
  • Ulrike Wels: Die Theaterpraxis am Zittauer Gymnasium im Zeitalter des Pietismus unter Christian Weise (1778-1708) und Gottfried Hoffmann (1708-1712), in: Peter Hesse (Hg.): Poet und Praeceptor. Christian Weise (1642-1708) zum 300. Todestag. 2. Internationales Christian-Weise-Symposium 21.-24. Oktober 2008 in Zittau. Dresden 2009, S. 167-187 [opac]
  • Konradin Zeller: Pädagogik und Drama. Untersuchungen zur Schulkomödie Christian Weises. Tübingen 1980 [opac]
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