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Theatrale Inszenierungen auf den Titelbildern der Theatrum-Literatur
Constanze Baum

1. Asiatischer Auftakt
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„Ein Schauplatz ist die weit und breite Welt, auff dem sich viel Persohnen præsentiren […]“ (anonym: Neueröffneter Schau-Platz von Asiatischen Nationen, Frontispiz), so liest man es als Bildunterschrift auf dem Frontispiz des Neueröffneten Schau-Platzes von Asiatischen Nationen (Abb. 1), der 1748 anonym in Erfurt erscheint und damit zu den späten Ausläufern der Theatrum-Familie gehört.

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Abb. 1: Anonym: Neueröffneter Schau-Platz von Asiatischen Nationen, Erfurt 1748, Frontispiz und Titelblatt (Montage C.B.).
Die theatrale Präsentationsformel findet sich auch andernorts in ähnlich lautender Formulierung, so in Misanders Theatrum Tragicum (1695). Dort heißt es: „Ein Schau-Platz ist die Welt/ worauf sich praesentiret/ Was alle Menschen thun/ bald sieht man Fröligkeit/ Bald wechselt diese sich in grosses Hertzeleid/ So daß an Lachens statt man nichts als Thränen spüret.“ (Vorrede Bd. 1, unpag. [S. Xv]) Angezeigt wird hiermit eine Theatralität von Welt, die auch das Wissen über diese Welt theatral erfahrbar macht. Mit der Verschränkung von Text und Bild bietet das Frontispiz dabei eine mediale Angebotsebene, den Wissensgehalt des Buches zu transportieren und zugleich zu transformieren.

Der zweite Teil der eingangs zitierten Bildunterschrift deckt die Einschränkung auf, unter der das Theatrum mundi hier verhandelt wird. Die „weit und breite Welt“ findet ihre Determinierung, wenn es weiter heißt: „[...] die auch zum Theil ein seltsam Leben führen/ Das wird auch hier im kleinern vorgestellt“ (anonym: Neueröffneter Schau-Platz von Asiatischen Nationen, Frontispiz). Der Beitext liefert demnach eine Art von epistemologischem Schrumpfungsprozess: die weit und breite Welt wird auf einen „Theil“ beschränkt, um am Ende der Sentenz schließlich nur noch „im kleinern“ vorgestellt zu werden (siehe die von Flemming Schock vorgestellte Kategorisierung von verdichteter Geographie in diesem Band). Zugleich bietet der Beitext Erklärung wie Kommentar zu der bildlichen Darstellung. Denn durch einen solchen Ikonotext (Wagner, S. 11; Remmert, S. 15) – die sichtbare, intermediale Verbindung und gegenseitige Durchdringung von Text und Bild – wird die Deutung der Welt als Schauplatz angezeigt, der in diesem Fall eine Präsentationsplattform für Personen, Sitten und Gebräuche meint. Ganz diesem Anspruch folgend stellt das Kupfer nicht namhafte, herausgestellte Persönlichkeiten oder allegorisches Personal vor, sondern zeigt dem Betrachter ein entgegengeklapptes Wimmelbild mit simultanen Genreszenen. Der Bildraum wird somit auf vielgestaltige Weise bespielt und knüpft in freilich stark reduzierter Qualität an Vorbilder in der Tradition Pieter Breughels d.Ä. (1520-1569) an. Auf dem unsignierten Kupfer werden verschiedene Sitten des asiatischen Kulturraums in Einzelszenen über den Bildgrund versprengt dargestellt.

Der Neueröffnete Schau-Platz von Asiatischen Nationen ist im Bild demnach ein topographisch wie szenisch verdichteter Handlungsort (siehe grundlegend zu diesem Ansatz Nagel). Er vereint Aspekte der ausgewählten Welt ohne hierarchische Ordnung und Logik als additiv zu verstehende, kleine Szenen im Bildraum. Im Gegensatz zu bildsimultanen Folgen auf Altarretabeln, die sich zu einer Geschichte zusammenfügen, lassen sich die hier dargestellten Szenen von Götzenanbetung, Hirschjagd, Kamelritt und anderen abentheuerliche[n] Lebens-Arte[n] jedoch nicht in einen chronologischen Verlauf bringen. Durch eine solchermaßen induktive Bestandsaufnahme von Einzelszenen lässt sich das abgesteckte Wissens- und Informationsspektrum des Werks visuell erschließen und Disparates, wie die „bisher am wenigsten bekannt gewesenen Bewohner des grossen Welt-Theiles Asien [...], deren blosse Namen vielen schon fürchterlich vorkommen dürfften“ (anonym: Neueröffneter Schau-Platz von Asiatischen Nationen, „Einleitung“, S. 6f.), in einen gemeinsamen Bildraum überführen. Die Präsentation etabliert so einen artifiziellen, theatralen Darstellungsraum. Der Neueröffnete Schau-Platz von Asiatischen Nationen bietet damit eine Möglichkeit theatraler Inszenierung von Wissensgehalten.

2. Die Titelbilder der Theatrum-Literatur
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Die visuellen Präsentationen der Theatrum-Literatur auf Titelbildern bilden die Grundlage der folgenden Analyse. Darunter fallen sowohl Frontispize wie illustrierte Titelkupfer. Erstere lassen sich weiter spezifizieren: zum einen finden sich einseitige Kupferstiche, die dem Titel linksseitig beigeordnet sind, zum anderen – jedoch weitaus seltener – zweiseitige Darstellungen, die zum Teil ausklappbar sind (beispielsweise bei Kartenmaterial). Neben diesen eigenständigen, ganzseitigen Gestaltungen zeigen einige Theatra auch illustrative Umsetzungen des Titels selbst, in dem dieser beispielsweise in eine illusionistische Scheinarchitektur mit flankierenden allegorischen Figuren gesetzt wird, so prominent auf dem Titel von Giulio Camillos frühem L’Idea del Teatro (1550). In solchen Fällen muss von illustrierten Titelkupfern gesprochen werden. Die Autorschaft der Kupferstiche ist in vielen Fällen nicht gesichert, da eine Signierung häufig fehlt und im Text selbst selten explizit auf den Kupferstecher Bezug genommen wird. Die Frage nach der Zusammenarbeit zwischen Autor respektive Kompilator und Stecher respektive Zeichner sowie nach der Rolle von Drucker und Verleger kann deshalb nur in wenigen Einzelfällen hinreichend geklärt werden. Wo eine Signatur gegeben ist, wie im Fall von Georg Andreas Böcklers Theatrum Machinarum, ist der Verfasser des Theatrum mitunter selbst als Erfinder der Vorlage auszumachen (siehe die Signaturen „GABöckler Inven:“ und „VSommer f.“ am rechten und linken unteren Bildrand des Kupfers). Für die Bewertung des Zusammenspiels von Text und Bild ist dies ein relevanter Sonderfall.

Ein theatraler oder performativer Gehalt als Mittel der Darstellung – das Vorstellen, Zeigen und Präsentieren auf einer medialen Plattform – ist den illustrierten Werken dieses Korpus, wie Titelbildern überhaupt, grundsätzlich eigen. Er ist in besonderem Maße durch die Positionierung vor dem eigentlichen Haupttext bedingt. Das Bild oder der Ikonotext steht dem eigentlichen Text damit als visuelle Exposition vor.

Im Fokus sollen hier vor allem jene Titelbilder stehen, die sich in der Gestaltung – im Gegensatz zum Neu eröffneten Schau-Platz von Asiatischen Nationen – an frühneuzeitlichen Bühnenräumen als Orten theatraler Inszenierung orientieren. In welchem Maße der konkrete Theaterraum auf den Titelbildern der Theatrum-Literatur verhandelt wird, was die Bedingungen für sein Auftauchen sind und wie er im Einzelfall modelliert wird, sind dabei Leitfragen der folgenden Überlegungen, die auf einer systematischen Analyse des Theatrum-Korpus beruhen.

Zunächst muss festgestellt werden, dass Illustrationen als Bildgattung in einer konkreten Abhängigkeit zum Text stehen, der für sie den meist alleinigen Referenzpunkt bildet. Sie sind keine autark funktionierenden Kunstwerke – was ihren Wert jedoch nicht schmälern soll – und stellen somit einen Sonderfall für die bildende Kunst dar. Die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Text kann aber in den implizierten Ansprüchen auch über diesen hinausweisen und weitere Konnotationen offerieren. Als eine Form des Paratextes vermag das Bild so die Rolle des Kommentars zu übernehmen, der sich auch kritisch zu seinem Gegenstand verhalten kann (siehe auch Remmert, S. 15). Dies muss auch und gerade für Titelbilder geltend gemacht werden, die durch ihre herausgehobene Stellung besonders geeignet scheinen, paratextuelle und metareferentielle Funktionen zu besetzen.

Da die Theatrum-Literatur sich durch ihre bewegliche Metaphorik als eine Versammlung und Präsentation von Wissensformationen darstellt, die sich einer stringenten Systematik oder Gattungstopologie entzieht, zeichnen sich die unter diesem Titel firmierenden Texte und die dazugehörigen Kupfer auch durch einen entsprechenden Variantenreichtum aus. Eine eigene Ikonographie, so der erste Befund, entwickelt die Theatrum-Literatur nicht. Im Vergleich zu Spiegel, Chronik oder Enzyklopädie fallen eher Gemeinsamkeiten als Unterschiede in den Spielarten der bildkünstlerischen Arrangements auf. Hier wie dort finden sich beispielsweise Einfassungen des Titels in eine illusionistische Architekturrahmung oder die Gestaltung von inhaltlichen Aspekten in Vignetten und Kartuschen, die durch Ornamente zusammengebunden werden. Auch das immer wieder auftauchende allegorische Personal (z.B. Chronos) ist kein Alleinstellungsmerkmal der Theatrum-Titelbilder.

In der Theatrum-Literatur wird hinsichtlich des Abbildungsmaterials unabhängig vom Titel des Werks auf einen reichhaltigen Fundus zurückgegriffen, den Verleger und Drucker zur Verfügung hatten und der allzu gern eine Mehrfachverwendung fand (siehe dazu meinen Repertoriumsbeitrag zum Theatrum Adriaticum (1685)).

Auch der Vorhang – omnipräsentes Leitmotiv des Theatralen in der Malerei des 17. Jahrhunderts – ist kein zwingender Bestandteil der Theatrum-Titelbilder, wie das Beispiel des Neueröffneten Schau-Platzes von Asiatischen Nationen zeigt, auf dem er, wie auf anderen Frontispizen, fehlt. Wenn der Vorhang im Text beiseite gezogen wird, wie dies an einigen Stellen im Theatrum Europaeum der Fall ist, lässt sich andersherum aus der metaphorischen Formel nicht zwingend die Konstituierung eines performativen Raums ableiten (Schramm, S. 16f., 31; zum Begriff des Vorhangs siehe den Beitrag von Ulrich Johannes Schneider in diesem Band). Das Aufschlagen des Buches kann das Öffnen des Vorhangs als performativen Akt ersetzen und das Titelbild von der ikonographischen Verpflichtung diesen Vorhang darzustellen entbinden. Es gilt zu prüfen, ob das Titelbild den Inhalt des jeweiligen Theatrum präsentieren oder darüber hinaus die Theatralität im Verbund mit ihrem Ort, dem Theater, ausstellen will. Zeigt uns das Bild also ‚nur’ den Schauplatz des verhandelten Geschehens oder Wissens oder macht es auch dessen Zurschaustellung durch Elemente der Theaterbühne deutlich?

Die bereits angesprochene Vogelperspektive des Wimmelbildes im Neueröffneten Schau-Platz von Asiatischen Nationen eröffnet zwar eine Art von Bühne, muss jedoch in dieser Hinsicht viel eher als Prospekt – eine gemalte Aus- oder Ansicht – verstanden werden. Im Kontext von Theaterbühnen fand dieser bemalte Prospekt als Abschluss der Bühne Verwendung. Er wurde an der Bühnenhinterwand angebracht, um den Bühnenraum mittels des darauf Dargestellten optisch zu vergrößern. Tatsächlich beschränkte er den vorhandenen Spielraum jedoch ebenso wie der sogenannte Bühnenfall, der schräg ansteigende Boden der Hinterbühne, und setzte dem Spiel in die Raumtiefe Grenzen. Für sich genommen ist der Prospekt jedoch nicht geeignet, das Theater als Ort der Präsentation bewusst zu machen.

Im folgenden sollen jene Titelbilder verhandelt werden, die die Zurschaustellung selbst auf unterschiedliche Weise mit ins Bild setzen. Bühne meint daher im Folgenden nicht Podest oder Podium, auf dem Figuren und allegorisches Personal arrangiert sind, sondern Anbindung an das spezifische Raumgefüge des Theatergebäudes mit seinen Komponenten: Vorhang, Parkett, Proszenium, Sofitten, Kulissen sowie seinen Akteuren, den Schauspielern und Zuschauern.

3. Theatrum und Theaterbühne
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Trotz der etymologischen Nähe von Theatrum und Theater ist die Bühne selbst auf den Titelbildern und Frontispizen der Theatrum-Literatur insgesamt selten als konkret fassbares Element anzutreffen. Der Befund der Korpusanalyse zeigt: Die titelgebende Theatrum-Metaphorik der Texte bedingt keine bindende visuelle Umsetzung, die diesen inhaltlichen Aspekt in besonderer Weise betont. Die Titelbilder unterliegen damit zu Großteilen dem gleichen gedanklichen Metaphorisierungsprozess wie die Texte. Denn theatrale Inszenierungen, die eine konkrete Bühne bildkünstlerisch in Szene setzen, bilden die Minderheit in dem vorhandenen, gesichteten Material und müssen demzufolge als eine besondere und seltene Spielart im reichhaltigen Angebot der Titelillustrationen gewertet werden. Bislang konnte nur ein gutes Dutzend Belege gefunden werden (ca. 7% der mit Titelbildern illustrierten Digitalisate). Gesichtet wurden hierfür die bislang vorliegenden, ca. 270 Digitalisate der insgesamt 828 Titel umfassenden Gesamtkorpusliste. Darunter befanden sich zum Zeitpunkt der Analyse (Dezember 2011) ca. 190 Titelbilder.

Wie kann ein solcher Befund bewertet werden? Es erscheint angebracht, einige Überlegungen zum Bühnenverständnis der Frühen Neuzeit anzubringen. So hat beispielsweise Albrecht Schöne aufgezeigt, wie sehr der pictura-Charakter nicht nur Requisit und dramatische Figur bestimmt, sondern das Schauspiel als Ganzes betrifft (Schöne 1993, 223f.). Demnach wäre die Schaubühne mit Harsdörffer gesprochen als ein „lebendiges und selbstredendes Gemähl“ anzusehen (Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprechspiele, Bd. 5, S. 26). Die bis dato etablierten Bühnenformen mögen dies bestätigen: Aus der Bildbühne der Spätrenaissance entwickeln sich die Telari-Bühne mit drehbaren, dreiseitigen Prismen (Periaktenbühne) sowie die Kulissen- oder Gassenbühne, die ab 1628 ihren europäischen Siegeszug von Italien aus über ganz Europa antritt. Die Kulissenbühne bringt den Wechsel von fixen Bühnenaufbauten hin zu bemalten und verschiebbaren Kulissenelementen, so dass die gemalte Perspektive „gegenüber der Reliefperspektive erhöhte Bedeutung [gewinnt]“ (Schöne 1933, S. 50). Hinter einem vorgeblendeten, architektonischen Rahmen (Proszenium), der reich verziert und mit allegorischen oder mythologischen Figuren besetzt sein kann, setzt ein meist erhöhter Bühnenraum an, der über eine doppelläufige Treppe im Vordergrund mit dem Zuschauerraum verbunden ist. Am Proszenium ist der Hauptvorhang befestigt. Die dahinter liegende Bühne kann nur zu einem geringen Teil als Spielfläche genutzt werden, denn der hinter dem Podium liegende Teil wird von einem illusionistischen Bühnenbild bestimmt, dessen perspektivische Anlage es nicht erlaubt, dass sich die Schauspieler weit in die Tiefe der Bühne bewegen.

Die Kulissenbühne erscheint damit als Ort gebauter und gemalter Bilder und Prospekte. Ihr Hauptkennzeichen ist der Illusionismus. Und auch wenn diese Bühne ein Schauplatz zur Propagierung eines Verhaltenskodexes ist – und damit einem mimetischen Konzept verpflichtet erscheint –, repräsentiert sie durch ihre architektonische Fassung zugleich die Scheinhaftigkeit des Daseins.

Die barocke Kulissenbühne wie die Telaribühne etablieren neben dem vermittelten Illusionismus zudem das Ephemere als immanentes Stilprinzip: Denn ihr Vorzug ist der schnelle Wechsel und Umbau von einer in die andere Szene. So gesehen untersteht das Bühnengeschehen strukturell einem Prinzip von Unbeständigkeit, Flüchtigkeit und Verwandlung. Weitergedacht ließe sich die These aufstellen, dass durch die bildkünstlerische Übernahme der Bühne im Theatrum das kompilierte Wissen einer solch ephemeren Form des Theaters unterstellt wird. Die Frage nach der Scheinhaftigkeit allen Daseins würde damit aufgeworfen und stünde dem „Traum vom totalen Überblick“ (Gormanns, S. 35) und einem weltbeherrschenden Einblick in die Ordnung der Dinge diametral gegenüber, wenn man dies als Ziele der Theatrum-Literatur in Anschlag bringt. Eine visuelle Destabilisierung des Wissensbestands wäre die Folge. Insofern würde der Wahrheitsanspruch nachgerade unterlaufen. Dies liefert vielleicht eine Erklärung dafür, dass Referenzen auf tatsächliche Bühnenräume so selten auf den Titelbildern der Theatrum-Literatur anzutreffen sind. Die Schaubühne, auf der Wissen präsentiert wird, ist demzufolge an ihre Metaphorizität gebunden. Da dennoch konkrete Bühnen auf Titelbildern auftauchen, stellt sich im Folgenden die Frage, wie sie sich in eine solche Argumentation einfügen lassen.

4. Maskeraden
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Zwei Frontispize der Theatrum-Literatur nehmen sich der Frage der Scheinhaftigkeit explizit als Thema an und binden es an das Thema von Identität und Maskerade. Sie finden sich zum einen in Vincent Placcius’ zweibändigem, in Latein verfassten Theatrum Anonymorum Et Pseudonymorum (Hamburg 1708) und zum anderen in Peter Dahlmanns Schauplatz der masquirten und demasquirten Gelehrten (Leipzig 1710). Nicht von ungefähr stehen sich diese beiden Werke auch inhaltlich nah. So versteht Dahlmann sein Werk, wie er es in seiner ausführlichen Vorrede ausführt, als Fortsetzung von Placcius’ Theatrum Anonymorum Et Pseudonymorum (Dahlmann, Vorrede, unpag. [S. 6]).

Der Stich bei Placcius inszeniert die Maskierung und Demaskierung von Autoren, die unter Pseudonymen oder als Anonymi ihre Schriften veröffentlicht haben deutlich als theatralen Akt (Abb. 2):

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Abb. 2: Vincent Placcius: Theatrum Anonymorum Et Pseudonymorum, Hamburg 1708, Frontispiz.
In einem nach hinten fluchtenden, tonnengewölbten Raum, der in der räumlichen Anlage den Kulissentheatern der Zeit entspricht und als privater oder öffentlicher Bibliotheksraum gestaltet ist, sind die Personen wie auf einer Theaterbühne platziert. Der mit schwerem Damast verhängte Tisch im Vordergrund weist auf die erhöhte Situation des geschilderten Raumes. Eine Treppenanlage fehlt, am rechten Bildrand ist ein stark beschnittener Pilaster auszumachen, der eine Proszeniumsarchitektur andeutet und einen markanten Schlagschatten auf den Bühnenrand wirft. Im Hintergrund wird der Blick durch den von einer Assistenzfigur weggerafften Vorhang in die Tiefe der Flucht verlängert. Der reich ornamentierte Türbogen fungiert als Schwelle in einen anderen Raum oder eine andere Welt. Deren Illusionscharakter steht außer Frage, lässt sich doch schemenhaft eine tanzende Teufelsfigur erkennen. Ein Bezug zur Szene im Vordergrund ist nicht auszumachen. Vorstellbar ist, dass ein Einblick in die Welt der Fiktion, das Innenleben der im Vordergrund gezeigten Bücherwelten, gegeben wird.

Wissensraum (Bibliothek) und Bühnenraum werden in diesem Frontispiz in ein kompositionelles Verhältnis gesetzt. In der Durchdringung von Realraum und theatralem Raum liegt die Spannung, die mit dem Inhalt des Theatrum Anonymorum Et Pseudonymorum korrespondiert. Nicht die Scheinhaftigkeit des Wissens, sondern die Scharade der Wissenden wird hier zur Schau gestellt. Ihre Maskerade markiert Illusion. Das Verfahren der Demaskierung wird so ins Bild gesetzt und zugleich in Analogie zur Schauspielkunst gestellt. Anstelle des Vorhangs oder der Sofitte setzt der Kupferstecher eine Maskengirlande, die von einer Kartusche mit der programmatischen Aufschrift „Suum Cuique“ (Jedem das Seine) gehalten wird.

Als Autorfigur kann die Rückenfigur identifiziert werden, die gerade im Begriff ist, zwei Figuren Masken auf- oder abzusetzen. Nicht zu erkennen ist, ob der zweite, auf der Szene anwesende Gelehrte eine Maske trägt. Das Spiel mit Schein und Sein wird dadurch weiter vorangetrieben. Was sich als Schreibakt der Aufdeckung im Text dieses Theatrum artikuliert, ist im vorangestellten Titelbild ein simultaner Bühnenakt. Dort wird die Autorfigur theatral gefasst und zum Akteur wie zum Regisseur gleichermaßen.

Dahlmanns Frontispiz aus dem Schauplatz der masquirten und demasquirten Gelehrten (Abb. 3) betont dagegen das Sammelsurium möglicher Maskierungen und Demaskierungen und ist nicht in einem konkreten Bühnenraum angesiedelt.

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Abb. 3: Peter Dahlmann: Schauplatz der masquirten und demasquirten Gelehrten, Leipzig 1710, Frontispiz.
Mit der Vielfalt der im Bildraum versammelten Scharaden wird die Möglichkeit offeriert, dass sich hinter jeder Schrift – gelehrt wie galant – nur ein scheinbar nachweisbarer Autor verbirgt. Der Autorbegriff wird hier bildhaft in Verhandlung gestellt, wo es dem Werk doch gerade um eine Eindeutigkeit der Zuschreibung geht (Dahlmann, Vorrede, unpag. [S. 1]). Der visuelle Paratext liefert in diesem zweiten Fall demnach eine über das Textverfahren der Entlarvung hinausweisende Konnotation. Denn die bildliche Darstellung lässt keine verlässliche Aussage darüber zu, ob die dargestellte Person ihre Maske bereits abgelegt hat oder möglicherweise eine weitere trägt: ein spielerisches Verfahren, dass auch schon im Frontispiz des Theatrum Anonymorum Et Pseudonymorum anklingt. Buch und Maske treten bei Dahlmann in ein anders geartetes Korrespondenzverhältnis. Manche Masken liegen direkt auf aufgeschlagenen Büchern und symbolisieren den Verbund mit der verborgenen Identität, die sich widernatürlich auf die Schrift legt. Die Aufdeckung dieser widernatürlichen Scheinhaftigkeit ist der formulierte Anspruch des Werks. Das vermittelte Wissen lässt sich so nahtlos in die illusionistische Bühnenpräsentation einbinden, denn Maskierung und Demaskierung als Chiffren des theatralen Spiels sind auf beiden Titelbildern deutlich in Szene gesetzt. Die Schauspielerei als Kunst der Verstellung bildet hierfür in beiden Fällen die geeignete Grundlage.

5. Publikum und Bühne
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Angesichts seiner paratextuellen Positionierung kann ein Titelbild grundsätzlich ein visuelles Angebot zur Betretbarkeit des Buchs machen. Durch die Darstellung einer Bühne, die der Zeit entsprechend erhöht gegeben wird, wird aber eine bewusste Schwelle oder Grenze gesetzt. Die Distanz zum Dargestellten, die dadurch erreicht wird, bedingt eine reflexive Haltung des Betrachters, dem das Zurschaustellen durch diese Grenze optisch vor Augen gestellt wird. Noch deutlicher wird dies akzentuiert, wenn Publikum mit in das Bild integriert wird und der Betrachter damit nicht nur zum Zuschauer einer Szene, sondern zum Zuschauer von Zuschauern einer Szene wird. Ein Beispiel hierfür findet sich in dem von Aegidius Sadeler 1608 in Prag gedruckten Theatrum Morum, einer Ausgabe äsopischer Fabeln.

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Abb. 4: Aegidius Sadeler: Theatrum Morum, Prag 1608, illustriertes Titelkupfer.
Das signierte illustrierte Titelkupfer stammt von Sadeler selbst (Abb. 4) und lässt sich mit einer ganz ähnlichen Darstellung vergleichen (siehe den Repertoriumsbeitrag von Smith): dem deutlich früheren Esbatiment Moral, Des Animavx (Anvers 1578). Bei letzterem handelt es sich um eine französische Übersetzung derselben äsopischen Fabeln, die von Marcus Gheeraerts dem Älteren (1520-1590) mit einem aufwendigen Titelkupfer versehen wurde und dessen von Tiermedaillons und Sinnsprüchen umgebenes Mittelstück eine Theaterszene darstellt, in der die Tiere als Mimen auftreten (Abb. 5).
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Abb. 5: Marcus Gheeraerts d.Ä.: Titelkupfer, in: Esbatiment Moral, Des Animavx, Anvers 1578.
Beiden Werken ist in der illustrativen Aufarbeitung eigen, dass es sich nicht um Frontispize, sondern um bildkünstlerische Bearbeitungen des Titelblatts handelt, sie können demnach als illustrierte Titelkupfer bezeichnet werden.

Auf beiden Drucken sind Tiere dargestellt, die von einem menschlichen Publikum betrachtet werden. Die Position von Publikum und Bühne wandelt sich aber in den Fassungen: Im Esbatiment erinnert die Raumanlage an Schaustellerbühnen mit einfachem Vorhang auf erhöhtem Holzpodest. Der Löwe sitzt mit mächtiger Mähne, die an eine Allongeperücke der Zeit erinnert, in menschlicher Haltung und Geste auf einem Kissen, umringt von anderen Tieren. Die Zuschauer recken von unten ihre Köpfe zu der dargestellten Szene hinauf. Auf dem Titelkupfer des Theatrum Morum kehrt sich die Raumsituation dagegen um: Das Publikum blickt zum Teil recht beiläufig, von einer Balustrade geschützt, auf die Tiere herab, die hier in animalischen Haltungen lagern und keine explizit darstellerischen Fähigkeiten zeigen. Für den Fiktionalitätsgehalt dieser Tierschau spricht allein die Zusammenstellung der Tiere, die natürlicherweise nicht in friedvoller Koexistenz leben, so wie sie hier auf einem Tableau zusammengeführt werden.

Die Umkehr der Sehgewohnheiten hat ihren konkreten Anlass vielleicht in der Prager Architektur, wie Sylva Dobalová herausgestellt hat (Dobalová, S. 207-220): Ulrico Avortalis legte am Schloss auf dem Hradschin in Prag, dem Druckort des Theatrum Morum, im späten 16. Jahrhundert unter Ferdinand I. von Habsburg einen Löwenhof an, ein Gehege für wilde Tiere, die dem König zum Geschenk gemacht worden waren. Diese Tiere konnten von einer höher gelegenen Galerie besehen werden. Das Theatrum Morum steht möglicherweise mit diesem Löwenhof in einem Zusammenhang, jedenfalls spiegelt sich die räumliche Anlage des Geheges im Arrangement des Titelkupfers wider.

Das Bild gibt als paratextueller Kommentar der Aussagerichtung der äsopischen Fabeln aber eine neue Stoßrichtung: Dadurch, dass die Zuschauer auf die Tiere herabblicken, wird die Vorbildlichkeit und Lehrhaftigkeit der Fabel zur Disposition gestellt, auch wenn es unter dem Titel ergänzend heißt: Artliche gesprach der thier mit wahren historien den menschen zur lehr. In der Vorrede verweist Sadeler mit Hinweis auf die entsprechende Bibelpassage auf die Didaxe der Texte: „Wie vns dann die Heilige Schrift zu den Creaturen, von ihnen weißheit vnnd vorsichtigkeit zu lernen/ weiset. Als Job am 12. Capittel mit diesen worten frage doch das Vieh/ das wirdt dichs Leren/ vndd die Vögel vnder dem Himmel die werden dirs anzeigen/ oder rede mit der Erden/ die wirdt dichs Leren/ vnnd die Fisch im Meer werden dirs sagen. Wer weiß nicht das solches alles des Herrn Handt gemacht hat.“ (anonym [Sadeler], „An den Freundtlichen Leser“, unpag. [S. 1])

Das illustrierte Titelkupfer unterläuft diese Ausdeutung des Textes in seinem Arrangement, in dem die Tiere weniger als Vorbilder fungieren, denn als zoologische Objekte bestaunt und beobachtet werden. Obschon Künstler und Herausgeber identisch sind, stehen Titelbild und Text damit bei Sadeler in einem Widerspruch. Gestützt wird diese Beobachtung durch die auf dem Kupfer mittig gesetzte alttestamentarische Parole: „Gen. I: Vnd Gott sagt: Herrschet vber die fisch im Meer vnd vber die vögel vnder dem Himel vnd vber alle thier die sich auff erde bewegen“ (anonym [Sadeler], Titelseite). Der Mensch wird damit deutlich als Herrscher über die Tiere exponiert, was im Bild eine räumliche Entsprechung findet.

Darüber hinaus hat diese Lösung auch ihren kompositorischen Reiz, denn durch die veränderte Ausrichtung von Publikum zu Bühne lassen sich untersichtige Physiognomien wiedergeben, während Gheeraerts auf dem Titelkupfer des Esbatiment Moral, Des Animavx nur Rückansichten stechen kann. Der Betrachter des Theatrum Morum nimmt Publikum und Bühne simultan von einer dritten, kaum zu definierenden Position des Gegenüber wahr.

Das Thema von Schein und Sein ist hier im Rahmen der Fiktion gegeben: Tiere, die sich auf eine Bühne stellen und somit zu Protagonisten einer Geschichte werden, gehören in das Reich der Fabel. Der lehrhafte Gehalt unterliegt damit einer textinhärenten Transformation. Der fiktionale Pakt, der für den Betrachter intendiert ist, erlaubt somit den ausgestellten, bühnenwirksamen Illusionismus und das scheinhafte Spiel von Tieren als Mimen. Im Fall des Prager Titelkupfers unterläuft der Ikonotext des Blattes diesen Illusionscharakter bereits, wenn die Fabeltiere als zoologisches Tableau vorgestellt werden und Text und Titelkupfer damit in Widerspruch zueinander stehen, der auch in der Vorrede nicht thematisiert wird.

In Christoph Zeißelers Neu-eröffnetem Historischen Schau-Platz (Leipzig 1695) und der Fortsetzung Des Neu-eröffneten Historischen Schau-Platzes Vorstellung (Wittenberg 1700), beide innerhalb von fünf Jahren beim selben Verleger, Johann Christian Weidner, an unterschiedlichen Publikationsorten veröffentlicht, findet sich jeweils ein Titelblatt mit rückansichtigem Publikum und einer zeitgenössischen Gassenbühne. Deutlich sind die Theaterräume in beiden Kupfern kompositionell gleich aufgebaut und zentralperspektivisch organisiert.

Das ebenfalls in Leipzig im gleichen Zeitraum, allerdings bei einem anderen Verleger (Gleditsch) gedruckte Frontispiz von Christian Weises Freymüthigem und höfflichem Redner (1693) weist in Ikonotext und Bühnenanlage deutliche Parallelen zu Zeißelers Blättern auf. Möglicherweise zeichnet der gleiche anonyme Kupferstecher hierfür verantwortlich. Auch stilistisch ließen sich hierfür Argumente finden (Für den Hinweis auf dieses Blatt danke ich Claudia Brinker-von der Heyde.).

Zeißeler bezieht sich im Text seines Neu-eröffnetem Historischen Schau-Platz und dessen Fortsetzung nicht explizit auf die Titelbilder. Auffällig auf diesen ist dagegen, dass das Markensigel des Verlegers deutlich unter dem Kurztitel prangt, das dem Bühnenraum in einer Kartusche vorgesetzt ist (Abb. 6).

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Abb. 6: Christoph Zeißeler: Neu-eröffnetem Historischen Schau-Platz, Leipzig 1695, Frontispiz.
Dies ist vielleicht ein Indiz dafür, dass die Illustrierung der beiden Schau-Plätze auf den Verleger zurückgeht. Dafür spricht auch, dass in den Vorreden zu beiden Bänden mehrfach von Zeißeler angeführt wird, der Verleger habe ihn zur Publikation gedrängt.
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Abb. 7: Christoph Zeißeler: Des Neu-eröffneten Historischen Schau-Platzes Vorstellung, Wittenberg 1700, Frontispiz.

Der Ikonotext des Frontispiz besteht aus den Komponenten Text, Vorhang, Publikum und Bühne. Die Bühne selbst ist ganz im Sinne der zeitgenössischen Gassenbühne als langer Gang mit einer illusionistischen Verlängerung gestaltet, eingeschobene seitliche Kulissen dürfen angenommen werden. Linkerhand lugt ein Narr hervor. Der zentralperspektivisch organisierte Bühnenraum weist zwei weitere Figuren auf: einen adeligen Mann mit Allongeperücke, Federhut und Degen in Pose mit ausgestreckten leeren Händen im Vordergrund und ein fast nacktes Kind im Bühnenmittelgrund, das eine Kerze in der Hand hält. Die gemalten Prospekte zu beiden Seiten zeigen schemenhafte Vegetation und angedeutete Grotten. Das Publikum ist in mehreren Reihen im Parkett stehend angeordnet. Eine explizite inhaltliche Anbindung an den Text des Neu-eröffneten Historischen Schau-Platzes vermittelt sich nicht. Das Frontispiz des zweiten Teils (Abb. 7) zeigt nur leichte Varianzen in der räumlichen Komposition: So fallen die Damenfrisuren deutlich pompöser aus, zudem ist das Publikum nun verschattet. Dieses Frontispiz kennzeichnet jedoch auf gleicher Bühne eine gänzlich veränderte Szene. Der Bühnenraum wird nun von einem Skelett bespielt, welches eine Blumenwiese senst. Auf einem runden Tisch im Mittelgrund, auf dem ein Schädel mit Knochen liegt, sitzt ein schwarzer Rabe. Zwei Beschriftungen deuten den Lauf der Zeit an: „Hodie“ (heute) und „Cras“ (morgen). Die Präsenz des Todes offenbart sich auch in der Ikonographie der floral bemalten Prospekte, die Rosen, Dornen und Nelken zeigen.

6. Moralia und Bühne
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Zeißeler will mit seinen Theatra den „rechten Tugendweg“ weisen: „Abscheuliche Laster und rühmliche Tugenden“ sollen vorgestellt werden (Zeißeler, 1700, Tl. 2, „Vorrede“, unpag. [S. 1]). In der Vorrede zum ersten Teil schreibt er, dass der belehrende Charakter seines Werks den Leser jeden Alters erbauen werde, „weil keine Possen und Narren-Fratzen/ sondern wahre Geschichte und Begebenheiten darinnen zubefinden seyn“. Und er fügt hinzu: „und solte ja ein oder die andere Historie vor unwahr gehalten werden/ so giebt sie dennoch ihr Morale und Anweisung zu der Tugend/ oder Ablehnung der Laster.“ (Zeißeler, 1695, Tl.1, „Vorrede“, unpag. [S. 3f.]). Die Ausrichtung auf einen moralischen Gehalt, der im Zweifelsfall dem Wahrheitsgehalt der Geschichte übergeordnet werden kann, ist damit eindeutig gesetzt. Eine Verbindung dieser zentralen inhaltlichen Aussagen zu dem Frontispiz lässt sich kaum herstellen, im Gegenteil: der Narr, der aus den Kulissen herauslehnt, erscheint wie ein höhnischer Kommentar zur Behauptung Zeißelers, dass Possen und Narren-Fratzen aus seiner Schrift verbannt seien.

Der theatrale Charakter, welcher der Historie innewohnt, kann aber mit folgender Äußerung in Einklang gebracht werden: „Denn es reden die Historien eben so frey/ und sagen uns unter die Augen/ was ein anderer/ so keck uns ins Angesicht zu sagen/ sich nicht unterstehen darff“ (Zeißeler, 1695, Tl. 1, „Vorrede“, unpag. [S. 10]). Demnach darf die unverhohlene Wahrheit in der Maske der Historie auf der Bühne als Exempel reüssieren.

Zeißelers Werke lassen sich unter die Gruppe moralischer Theatra subsumieren. Die Welt als Bühne wird einem Publikum vorgeführt, dass sich der Scheinhaftigkeit allen Daseins bewusst werden soll, um mittels reflektierter Erkenntnis zu tugendhaftem Leben zu gelangen. Der einzelne Mensch mit leeren Händen, wie auf dem Frontispiz von 1695 gezeigt, kann diesbezüglich als Sinnbild der allgemeinen Beschränktheit menschlichen Daseins begriffen werden. Zugleich lassen sich die Titelbilder beider Werke aber auch als Abfolge menschlichen Daseins lesen: vom Kind, zum Mann, zum Tod, der hier in einer Doppelrolle, als Personifikation einerseits und als der Tote andererseits, auftritt. Demnach wäre der bespielte Bühnenraum als eine mehrere Bände übergreifende Zeitleiste lesbar, als theatraler Raum mehrerer Vorstellungen des Lebens, wie es auch im Titel von 1700 anklingt. Die Tragödie oder Komödie des Lebens wird auf den Frontispizen nicht gespielt, nur deren allgemeingültige Haupt-Stationen von Kindheit-Alter-Tod ins Bild gesetzt. Die Füllung des Bühnenraums mit Requisiten und Bedeutung bleibt absichtsvoll dem Betrachter überlassen, der die erzählten Historien des Textes als eine Exempelsammlung menschlichen Daseins hierfür heranziehen kann.

In ähnlicher Weise ist das Titelbild von Jacob Daniel Ernsts Neuer historischer Schaubühne der menschlichen Thorheit und Göttlichen Gerechtigkeit (Leipzig 1696) zu verstehen (Abb. 8).

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Abb. 8: Jacob Daniel Ernst: Neue historische Schaubühne der menschlichen Thorheit und Göttlichen Gerechtigkeit, Leipzig 1696, Titelbild.
Auch hier findet sich die erhöhte Kulissenbühne mit der zentralperspektivischen Gasse und dem Vorhang, in dieser Variante jedoch ohne Publikum. Den Abschluss der Bühne bildet deutlich ein gemalter Prospekt, der weitere Tiefenillusion andeutet. Anstelle der Darsteller schwebt eine Fama über dieser Bühne, die den Titel des Theatrum auf einer Schriftrolle in ihrer Linken haltend präsentiert. Die Bühne selbst ist leer, denn den auf der gegenüberliegenden Seite im Titel genannten menschlichen Torheiten soll hier kein theatraler Platz eingeräumt werden. Ob die Fanfare, in die die Figur bläst – gewissermaßen als Prolog der Titelseite – den Beginn des Textes oder aber als metareferentielle und vorweggenommene conclusio den Sieg der göttlichen Gerechtigkeit als Strafgericht über alle Torheit bedeuten soll, bleibt offen. Die leere Bühne des Frontispiz und das textuelle Angebot des Titelblatts stehen in einem antipodischen Verhältnis. Der Betrachter scheint auch hier aufgerufen, die Bühne kraft seiner Imagination mit den im Titel genannten Exempeln zu bespielen, darunter die gerechte Allmacht Gottes der thörichten Menschen fürgenommene Boßheit/ unreine Liebe/ Hochmuth/ Mordthaten/ Wollüste/ Geitz und Untreue/ Kirchen-Raub und Dieberey/ Jachzorn/ Entheiligung des Sonntags/ Verrätherey/ Meineyd/ und dergleichen andere grobe Sünden und Laster [...]. Im Vorwort heißt es unter Berufung auf Psalm 50, Vers 21, aber ohne explizite Bezugnahme auf das Frontispiz: „Ich will dich straffen, und will dirs unter die Augen stellen.“ (Ernst, Vorrede, unpag.) Bestraft wird der Betrachter des Frontispiz hier demnach dadurch, dass er die Bühne, die Vergnügen und Illusionismus bereithält, selbst füllen muss. Er wird durch diese gesetzte Leerstelle somit auf den ernsten und moralischen Gehalt des folgenden Textes aufmerksam gemacht und entsprechend eingestimmt.

Auch Ivo Hueber lässt auf dem Frontispiz seines Theatrum Annuum Historico-Morale Heroinarum (Augsburg 1717) Publikum auftreten (Abb. 9).

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Abb. 9: Ivo Hueber: Theatrum Annuum Historico-Morale Heroinarum, Augsburg 1717, Frontispiz.
Der Augsburger Zeichner und Stecher Gottfried Rogg, der 1726 selbst ein dreibändiges, emblematisches Theatrum (Encyclopaedia, Oder: Schau-Bühne Curieuser Vorstellungen) vorlegt, liefert die Zeichnung für das Frontispiz. Das Bild ist durchgehend Frauen reserviert, sowohl Publikum als auch Bühnenpersonnage sind ausschließlich weiblich, was mit dem Inhalt des Theatrum korrespondiert (siehe dazu den Repertoriumsbeitrag von Roßbach). Der Bühnenraum, der sich wieder in einer langen Gasse öffnet, artikuliert sich als Verbindung zwischen sakraler Innenraumarchitektur und profanem Gartenraum. Das ikonographische Bildprogramm ist entsprechend uneinheitlich und stellt profane neben sakrale allegorische Gestalten. Die Protagonistin erscheint in ihrer Rüstung und umgeben von zahlreichen allegorischen Attributen selbst wie eine vom Postament gestiegene Figur. Es zeigt sich, dass eine Grenzziehung zwischen den auf Postamenten stehenden Skulpturen, der in der Bühnenmitte drapierten Darstellerin und dem Publikum durch die homogene Gestaltungsweise, die der Kupferstecher gewählt hat, kaum mehr auszumachen ist. Obschon also architektonisch Grenzen und Schwellen aufgebaut werden – der Vorhang, der erhobene Bühnenraum, Postamente, Torbögen – lässt sich die Illusion nicht mehr auf eine bestimmbare Darstellungsebene rückbinden. Die Verwischung dieser Ebenen spiegelt auch der Text wider. In der Widmung ist die Rede von einem „Grossen und Herrlichen Theatro, oder Schau-Bühne/ auf welcher sovil Actores, als vernünftige Innwohner“ sind. Schauspieler („Actores“) wie Zuschauer („Innwohner“), die sich hier in Kostüm und Gestalt der Erdteile auch als ‚Einwohner’ der Welt zu erkennen geben, gehören demnach derselben Bühnenwelt, einem dezidiert weiblichen Theatrum mundi, an. Der Tod wird allen Beteiligten die „Comoedi-Kleider ausziehen“, sie „von der Schau-Bühne abführen“ (Hueber, Widmung, unpag.) Er tritt hier in der Rolle des Theaterinspizienten auf. Es handelt sich auch bei Huebers Theatrum Annuum Historico-Morale Heroinarum um eine moralische Schrift.

Dass die Grenzen zwischen den Darstellungsebenen verschwimmen können, zeigt auch das Titelbild des Theatrum Affectuum Humanorum Sive Considerationes Morales (München 1717) von Franz Lang (Abb. 10).

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Abb. 10: Franz Lang: Theatrum Affectuum Humanorum Sive Considerationes Morales, München 1717, Titelbild (nach Gottfried Rogg).
Das Werk gehört zu einer Reihe von drei Theatra (Theatrum Solitudinis Asceticæ, Theatrum Affectuum Humanorum und Theatrum Doloris et Amoris), die der auch als Theaterpraktiker agierende Lang in kurzer Folge veröffentlicht (Dissertatio de Actione Scenica, posthum 1727). In dem mehr ins Sakrale tendierenden, zentralperspektivisch organisierten Raum lassen sich Darsteller und allegorische Statuen nur schwer voneinander trennen, das Verhältnis scheint nachgerade umgekehrt: die Nischenstatuen sind einer Verlebendigungsstrategie unterworfen, die Allegorien von Odium, Timor, Fuga und Ira werden dort im großem gestischen Furor gegeben, während die zentral platzierte Virtus in medio als Darstellerin in göttlich beseelter Pose erstarrt erscheint. Dies korrespondiert nicht nur mit dem Inhalt des Theatrum Affectuum, der Darstellung der Palette von menschlichen Affekten. Lang zeichnet seit 1687 für die Münchner Schulbühne verantwortlich. Auf sein Betreiben hin wird nur einige Jahre später, 1698, ein Oratorium erbaut, das auch als Theatersaal dient (Meid, S. 361). Langs dramatische Betrachtungen (considerationes), die er in seinen drei Theatra präsentiert, fußen dabei auf der Verwendung emblematischer Schaubilder (grundlegend hierzu Bauer). Gestik und Mimik sind demnach die zentralen Gestaltungsmittel, die Lang für das theatrale Spiel etabliert und die entsprechend auf dem Frontispiz allerorten zur Geltung kommen.

7. Wissensprospekte
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Zu diesen moralischen Theatra, die die Aufdeckung von Scheinhaftigkeit thematisch implizieren und die Bühne auf den Titelbildern als Reflexionsraum inszenieren, worunter im weiteren Sinne auch die Fabeln und Pseudonymen-Theatra zu rechnen sind, gesellen sich noch einige wenige Werke anderer Ausrichtung, die Bühnenräume auf Titelbildern zeigen, so das Theatrum Novum Politico-Historicum (Würzburg 1686) und Georg Andreas Böcklers Theatrum Machinarum (Nürnberg 1661).

Auf beiden Blättern wird die Vorbühne bespielt, der zurückgezogene Vorhang im Mittelgrund öffnet den Blick auf einen Prospekt, der mehr pictura als gebaute Kulisse ist (Abb. 11, 12).

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Abb. 11: Anonym: Theatrum Novum Politico-Historicum, Würzburg 1686, Frontispiz.
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Abb. 12: Georg Andreas Böckler: Theatrum Machinarum, Nürnberg 1661, Titelbild.
Als begehbarer Bühnenraum sind beide Hintergrundszenen kaum mehr vorstellbar, zumal sie perspektivisch eine starke Abbruchkante zeigen und ein Schauspieler regelrecht in einen Bühnengraben springen müsste, um Teil der dargestellten hinteren Szene zu werden. Die Prospekte haben hier eher den Charakter eines tableauhaften Fensterblicks. Sie geben Einblick in Panoramen einer je monokulturalen Welt, die im Fall des Theatrum Novum Politico-Historicum nur aus kriegerischen Handlungen, im Fall des Theatrum Machinarum nur aus Mühlen besteht. In beiden Szenarien stellt sich ein doppeltes Spiel ein: Die Figuren auf den Frontispizen, im Fall von Böckler lebendig gewordene Statuen, spiegeln den Sinngehalt des dahinter liegenden Prospekts auf einer höheren rhetorischen Ebene. Denn sie verhandeln den gleichen Gehalt in einem anderem decorum. Das ausschnitthafte Weltgeschehen – in einem Fall eine Mühlen-, im anderen eine Schlachtenlandschaft – kristallisiert sich im Theatrum Machinarum in den allegorischen Figuren von Archimedes und Mechanicus (studium und labor), im Theatrum Novum Politico-Historicum in Personifikationen der beteiligten Kriegsparteien, die sich dialogisch in Stellung bringen. Kann bei den Kriegstheatra der moralische Gehalt als Strategie verstanden werden, die Schlechtigkeit der Welt vorzuführen, so gestaltet sich eine solche Anbindung bei der Einordnung des Maschinentheaters schwieriger. Dass der Autor die Kunst des Mühlenbaus nicht dem Illusionismus unterstellen will, scheint einsichtig. Eine moralische Implikation, wie bei den vorangegangenen Beispielen, ist thematisch auszuschließen. Warum versieht also Böckler sein Theatrum Machinarum mit einem solchen Titelbild, welches von ihm selbst erfunden ist, wie die Bezeichnung links unten besagt? Im Vorwort heißt es: „Derohalben so wir etwas wider die Natur zu wegen bringen wollen/ muß solches durch scharffsinniges Nachdencken/ Kunst/ Mühe und sonderbahre Geschicklichkeit geschehen“ (Vorrede, unpag. [S. 1]). Der Mechanicus oder Ingenieur stellt seine Kunstfertigkeit über die Natur und betont damit den spektakulären Gehalt seiner künstlichen wie künstlerischen Maschinenwelt. Die Vorrede ist entsprechend an einen „Kunstliebenden Leser“ gerichtet. Vielleicht erscheint es demnach folgerichtig, dass die Kunst des Mühlenbaus hier in ihrer Artifizialität als Teil einer Theaterbühne erfasst wird, als deren Beherrscher Mathematik und Mechanik fungieren. Nur über deren vermittelte Doppelkompetenz ist ein tiefergehender, lebendiger Einblick in die vorgeführte Mühlen-Welt möglich, die andernfalls nur Schaubild bleibt. Freilich ließen sich auch die Mühlen selbst als neue Protagonisten, als Spieler in einem theatralen Raum verstehen. Zugleich wird mit dieser Art der Präsentation ein Werbeeffekt erreicht. Sieht man die dargestellte Mühlenlandschaft zudem als Prospektmalerei und nicht als Teil eines Theaterraums an, so kann das ganze Blatt auch als säkularisierte Version eines Retabels gelesen werden. Der Vorhang wäre dann als Auszeichnung der veritablen Landschaftsikone zu werten und das Mühlenpanorama als eine frühe Form industriellen Fortschrittsglaubens zu verstehen.

Auf dem Frontispiz des Theatrum Novum Politico-Historicum vermittelt sich ein ähnlich geartetes Wechselspiel zwischen Proszenium bzw. Vorbühne und Prospekt. Die Repräsentanten der Kriegsparteien posieren auf der erhöhten Vorbühne, auf deren Postament die Titelkartusche prangt. Der obere Bühnenrand ist durch verschiedene Wappen gestaltet. Auf der Stange eines dahinterliegenden Vorhangs, der von zwei Assistenzfiguren aufgehalten wird, sitzt ein Hahn, der einen auf der Vorbühne platzierten Löwen aus sicherer Distanz ankräht, Sinnbilder für die Kriegsparteien Frankreich und Venedig. Drei weitere Personen bespielen diesen Vorraum: ein kaiserlicher Militär in voller Rüstung, ein Tartar oder Türke und, dem Gewand nach zu urteilen, ein Spanier. Hinter dem Vorhang öffnet sich der Blick auf das Panorama eines Schlachtfelds, das hier ähnlich wie bei Böckler als gemalter Prospekt zu verstehen ist. Der Inhalt des Theatrum Novum Politico-Historicum besteht aber lediglich aus der Schilderung der kriegerischen Auseinandersetzungen mit Ungarn in der ersten Hälfte des Jahre 1686 und zeigt damit nur einen kleinen Ausschnitt von Weltgeschehen. Die Bedeutung dieses Theatrums liegt in der Aktualität der Ereignisse. Was hier als historisches Schlachtengemälde gezeigt wird, ist zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch tagespolitisches Geschehen. Bühnenhandlung und militärisches Vorgehen sind hinsichtlich des verhandelten Zeitraums nahezu deckungsgleich, der Ausgang des Spiels wie der Ausgang der Geschichte ist zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch ungewiss, und der Betrachter des Titelbildes erhascht einen Blick in die laufende Vorstellung.

Auch Hans Georg Hertels New eröffneter Geometrischer Schaw- und Mässe-Platz (Braunschweig 1675) gehört zu jenen nicht-moralischen Wissenstheatern, deren Titelblätter oder Frontispize eine konkrete Bühne darstellen und auf Aktualität abzielen (Abb. 13).

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Abb. 13: Hans Georg Hertel: New eröffneter Geometrischer Schaw- und Mässe-Platz, Braunschweig 1675, Titelkupfer.
Allerdings ist dieses Theatrum in einem völlig anderen Kontext der Wissensvermittlung angesiedelt. In einem der zahlreichen Ehrengedichte, die dem Text beigegeben sind und von dem darin vorgestellten Messinstrument handeln, welches Hertel nach sich selbst benennt, heißt es herausfordernd: „Kom,/ setz es auf die Prob“ (Hertel, unpag. [S. 22]). Nichts anderes als die Vermessung der Welt macht sich der New eröffnete Geometrische Schaw- und Mässe-Platz zur Aufgabe und liest sich als Anleitung oder Gebrauchsanweisung für die Benutzung eines geodätischen Messinstruments. Der Text gleicht in vielen Punkten einer Werbeschrift. Der Aspekt von Aktualität lässt sich also – abgesehen von neuesten Nachrichten des politischen Weltgeschehens, wie im Fall des Theatrum Novum Politico-Historicum dargelegt – auch in einem neu entwickelten Produkt der Wissensvermittlung wiederfinden. Der Aufforderung, das Gerät auf die Probe zu stellen, ist der theatrale Präsentationsakt quasi imperativisch eingeschrieben.

Der Theaterraum, der auf dem Titelbild als große Proszeniumsbühne vorgestellt wird, ist somit als Probe- und Verkaufsbühne zu verstehen. Ein Zusammenhang dieses Kupfers mit dem Opernhaus in Braunschweig, dem Publikationsort von Hertels Schrift, lässt sich nicht herstellen. Die Oper wurde erst ab 1690 für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht, fünfzehn Jahre nach Erscheinen von Hertels New eröffnetem Geometrischen Schaw- und Mässe-Platz. Es ist dennoch nicht auszuschließen, dass Hertel bzw. sein Kupferstecher Mertens sich in der hier gewählten Darstellungsform an diesem Bau orientiert haben. Entsprechendes Bildmaterial konnte bislang jedoch nicht ausfindig gemacht werden. Das Querformat dieses Theatrum eignet sich für die Präsentation der blattfüllenden Bühnenanlage: Auf einem erhöhten, vermauerten Postament, das über eine zentrale Treppe zu erreichen ist, öffnet sich hinter einem von Säulen gestalteten Proszenium und einem zu beiden Seiten weggerafften Hauptvorhang das Szenenbild. Das Messinstrument wird präsentiert, aber auch vor den Augen des Zuschauers ausprobiert. Wie im anfänglich vorgestellten Schauplatz von den Asiatischen Nationen bietet sich der hier von Theaterarchitektur umfangene, theatrale Raum auf diesem Titelkupfer als Wimmelbild dar. Auf der Bühne verteilt, flankiert von Berg und Wald auf der linken und Palastarchitektur auf der rechten Seite, sieht man acht bis zehn Protagonisten mit dem Hertel bei der Vermessung dargestellt. Vermessen werden Berge, Höhlen, Städte, Gestirne und Gebäude. Der Bühnenraum bietet sich dem Betrachter respektive Zuschauer als eine Art von Weltlandschaft dar. Das Titelbild kann darüber hinaus etwas leisten, was die reale Theatersituation nicht kann: Denn das Vermessen ist ein optisch-mathematisches Verfahren, das Entfernungen über die Erfassung von Winkelmaßen mittels eines Zielfernrohrs berechnet. Um diese Praktik sichtbar werden zu lassen, werden auf dem Bild feine Linien zwischen den dargestellten Landvermessern und ihrem Objekt gezogen, ein Effekt, der nur auf dem Papier, nicht aber auf der Bühne visualisierbar ist. Ohne die Linien stünden die Spieler mit ihren Geräten bezugslos im theatralen Raum (siehe hierzu Hertel, Nr. V, nach S. 20, wo die Relation nur durch die Buchstaben A und B angezeigt wird und nur durch den Begleittext einsichtig wird). Auch auf anderen Blättern des reich illustrierten New eröffneten Geometrischen Schaw- und Mässe-Platzes wird dieses Verfahren der Verdeutlichung des Messvorgangs durch Linienführungen vorgeführt (siehe beispielsweise Hertel, Nr. I, nach S. 4). Das Papier-Theatrum liefert in diesem spezifischen Fall ein relevantes surplus gegenüber jeder realen Inszenierung. Es schreibt die geometrischen Achsen, die der Berechnung zugrunde liegen, als Linien auf der Bildoberfläche fest. Das Titelbild erscheint als eine Referenz auf die bildlichen Darstellungen im folgenden Text. Es ist so gestaltet, dass der Theaterraum wie die wegklappbare Vorblende vor einer möglicher Abbildung aus dem Text erscheint, und bietet damit eine theatrale Rahmung für das Folgende - die Technik des Aufklappens wird im New eröffneten Geometrischen Schaw- und Mässe-Platz verwendet, siehe Hertel, Nr. X, nach S. 38 (geschlossener Zustand) und Nr. XI, nach S. 38 (aufgeklappter Zustand).

8. Intratheatrale Inszenierung
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Als intratheatrales Kabinettstück soll zuletzt Michael Valentinis Amphitheatrum Zootomicum (Frankfurt 1720) vorgestellt werden. Auf dem Frontispiz (Abb. 14) zeigt sich eine mehrfache Verschachtelung theatraler Ebenen.

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Abb. 14: Michael Valentini: Amphitheatrum Zootomicum, Frankfurt 1720, Frontispiz.
Auf einem von einem Eierstabfries beschlossenen Postament erhebt sich ein komplexer architektonischer Aufbau, der auf mehreren Ebenen – in einer Art Spiel im Spiel – Formen theatraler Inszenierung präsentiert. Zwei puttenartige Knabengestalten, die auf dem unteren Postament stehen, halten die beiden Enden eines weit aufgespannten Vorhangs. Dieses ‚äußere’ Proszenium wird von zwei oben aufsitzenden Vogelskeletten beschlossen, die rechts und links auf zwei Deckplatten positioniert sind. In der Mitte hängt über dem Vorhang das Skelett einer Schildkröte herab. Die Knaben sind eben dabei, den Vorhang aufzuziehen. Im Mittelpunkt der unteren Ebene ist ein Affenskelett auszumachen, welches stehend auf eines von zwei Medaillons mit Vogeldarstellungen weist, die hinter ihm angebracht sind. Das Affenskelett ist dabei in der ausgestellten Haltung eines Rhetors – man erinnere sich an die ausgestellte Pose des Löwen auf dem Titelbild des Theatrum Morum –, nicht in animalisch natürlicher Haltung gegeben. Über dieser Szene, die zoologisches Wissen theatral ausstellt, erhebt sich wiederum ein Postament, das einer darüber liegenden Szene als zweites, sozusagen intratheatrales Proszenium dient. Die flankierenden Figuren dieses ‚inneren’ Proszeniums stellen hier – in ähnlicher Pose wie Archimedes und Mechanicus auf Böcklers Theatrum Machinarum – zwei menschliche Figuren in unterschiedlichen anatomischen Stadien dar, linkerhand den Muskelaufbau, rechterhand den Skelettaufbau des Menschen vorstellend. Eingerahmt von diesen Figuren erkennt man in der Mitte die Darstellung eines anatomischen Theaters mit einer Leichenöffnung. Diese Darstellung ist, wie an den unteren Zierleisten und den Schattenführungen auszumachen, ein aufgestellter, gemalter Prospekt. Das Zurschaustellen wird auf diesem innersten Prospekt zusätzlich dadurch betont, dass im Hintergrund – wiederum erhöht, wie bei der architektonischen Form des anatomischen Theaters üblich – Publikum zu erkennen ist, das der Leichenöffnung beiwohnt, obschon es auf Setzkastenformat zusammengeschrumpft ist. Diese Zuschauer sind für den Betrachter des Titelbildes frontalansichtig gegeben. Er selbst kann sich in das amphitheatralische Kreisrund als Teilnehmer dieses Miniatur-Theaters mit hineindenken.

Die im Titelbild vorgeführten, ineinandergreifenden Bühnen bilden nicht nur verschiedene Aspekte des verhandelten Themas ab, sondern verweisen in ihrer kompositorischen Anlage auf die strukturelle Anlage des Buchs, auf seine textuelle Ordnung. Der eigentliche Text des Amphitheatrum Zootomicum führt die Anatomien verschiedener Tierarten vor, wie dies auf den äußeren Ebenen des Titelbilds abzulesen ist. Vorgebunden ist dieser Abhandlung aber ein Kurtzer Entwurff der anatomischen Übungen, wie solche das ganze Jahr durch auf dem Theatro Anatomico zu Berlin sollen fortgesetzet werden. Damit ist erklärt, wieso die Darstellung der menschlichen Leichenöffnung mitten ins Bild eines Amphitheatrum Zootomicum rückt. Der Kurtze Entwurff wird also im Text wie im Bild in ein äquivalentes Verhältnis zur der zoologischen Darbietung gesetzt. Durch die Technik der Verschachtelung gelingt die künstlerische Umsetzung der unterschiedlichen theatralen Präsentationsformen. Wissensraum (Zootomicum) und Bühnenraum (Theatrum Anatomicum) werden so, ähnlich wie auf dem Titelbild von Placcius’ Theatrum Anonymorum Et Pseudonymorum, in ein kompositionelles Verhältnis gesetzt.

9. Beschluss
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Vornehmlich in der letzten Hälfte des 17. Jahrhunderts – nach der Einführung der Kulissenbühne – werden tiefenräumliche Arrangements und konkrete Bühnen auf den Titelbildern dazu genutzt, den eröffneten Schauraum dem Betrachter zu entrücken, anstatt ihn einzuladen, Teil der Wissenswelt zu werden. Die Titelbilder zeigen damit eine bewusst inszenierte Barriere. Robert Felfe spricht in ähnlichem Zusammenhang von einem „Bildraum zweiter Ordnung“ (Felfe, S. 236). Sie führen dem Rezipienten die Zurschaustellung des Verhandelten bewusst vor Augen und haben als Paratexte eine wichtige Kommentarfunktion für den Text. Entsprechend finden sie nur dort Einsatz, wo dies der inhaltliche Anspruch des Theatrum auch rechtfertigt, wo sich Wissens- und Bühnenraum miteinander verschränken: in moralischen Theatra, die eine reflexive Wirkung implizieren, ebenso wie in solchen spezifischen Theatra, die die Scheinhaftigkeit von Welt oder Identität zum Thema haben oder den Wissensgehalt einer Verkaufsstrategie oder der Aktualitätsfrage nachordnen. Auch wenn der vermittelte Wissensgehalt an Darstellungsgrenzen stößt, kommt die Bühne als architektonische Bauform zum Einsatz auf den Titelbildern. Sie bleibt jedoch für die Gesamtheit theatraler Inszenierungen in der Theatrum-Literatur eine marginale Erscheinung.

10. Bibliographische Nachweise und Forschungsliteratur
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10.1. Quellen
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  • anonym: Esbatiment moral des animaux. Anvers 1578 [opac]
  • anonym: Neueröffneter Schau-Platz von Asiatischen Nationen. Erfurt 1748 [opac]
  • anonym: Theatrum Adriaticum. Augsburg 1685 [gbv]
  • anonym (Aegidius Sadeler): Theatrum Morum. Prag 1608 [gbv]
  • anonym: Theatrum Novum Politico-Historicum Würzburg 1686 [opac]
  • Johann Samuel Adami (Ps. Misander): Theatrum Tragicum. Dresden 1695 [opac]
  • Georg Andreas Böckler: Theatrum Machinarum. Nürnberg 1661 [opac]
  • Giulio Camillo: L’Idea del Teatro, Florenz 1550
  • Peter Dahlmann: Schauplatz der masquirten und demasquirten Gelehrten. Leipzig 1710 [opac]
  • Jacob Daniel Ernst: Neuer historischer Schaubühne der menschlichen Thorheit und Göttlichen Gerechtigkeit. Leipzig 1696
  • Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprechspiele. Fünfter Theil. Nürnberg 1645 [opac]
  • Hans Georg Hertel: New eröffneter Geometrischer Schaw- und Mässe-Platz. Braunschweig 1675 [opac]
  • Ivo Hueber: Theatrum Annuum Historico-Morale Heroinarum. Augsburg 1717 [opac]
  • Franz Lang: Theatrum Affectuum Humanorum Sive Considerationes Morales. München 1717
  • Vincent Placcius: Theatrum Anonymorum Et Pseudonymorum. 2 Bde. Hamburg 1708> [gbv]
  • Samuel Quicchelberg: Inscriptiones Vel Titvli Theatri. München 1565 [gbv]
  • Gottfried Rogg: Encyclopaedia, Oder: Schau-Bühne Curieuser Vorstellungen. 3 Bde. Augsburg 1726 [opac]
  • Michael Valentini: Amphitheatrum Zootomicum. Frankfurt 1720 [opac]
  • Christian Weise: Freymüthigem und höfflichem Redner. Leipzig 1693 [opac]
  • Christoph Zeißeler: Neu-eröffnetem Historischen Schau-Platz. Leipzig 1695 [opac]
  • Christoph Zeißeler: Des Neu-eröffneten Historischen Schau-Platzes Vorstellung. Wittenberg 1700 [opac]

10.2. Forschungsliteratur
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  • Barbara Bauer: Das Bild als Argument. Emblematische Kulissen in den Bühnenmeditationen Franciscus Langs, in: Archiv für Kulturgeschichte 64 (1982), S. 79-170 [gbv]
  • Sylva Dobalová: Theatrum morum: tygr, lev a divadlo na Pražkém hradě [Theatrum morum: a tiger, a lion and a theatre in Prague Castle], in: Beket Bukovinská (Hg.): Pictura verba cupit. Essays for Lubomír Konený. Prag 2006, S. 207-220 [opac]
  • Robert Felfe: Umgebender Raum – Schauraum. Theatralisierung als Medialisierung musealer Räume, in: Helmut Schramm, Ludger Schwarte, Jan Lazardzig (Hg.): Kunstkammer, Laboratorium, Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert. Berlin 2003, S. 226-264 [opac]
  • Andreas Gormans: "Das Medium ist die Botschaft". Theatra als Bühnen des wissenschaftlichen Selbstverständnisses, in: Flemming Schock, Oswald Bauer, Ariane Koller, metaphorik.de (Hg.): Dimensionen der Theatrum-Metapher in der Frühen Neuzeit. Ordnung und Repräsentation von Wissen. Hannover 2008, S. 21-53, zugleich in: metaphorik.de 14 (2008) [opac]
  • Volker Meid: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Vom Späthumanismus bis zur Frühaufklärung. München 2009 [opac]
  • Ivan Nagel: Gemälde und Drama. Giotto, Masaccio, Leonardo. Frankfurt/Main 2009 [opac]
  • Volker Remmert: Widmung, Welterklärung und Wissenschaftslegitimierung; Titelbilder und ihre Funktionen in der wissenschaftlichen Revolution. Wiesbaden 2005 [opac]
  • Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock. 3 Aufl. München 1993 [gbv]
  • Günter Schöne: Die Entwicklung der Perspektivbühne von Serlio bis Galli-Bibiena nach den Perspektivbüchern. Leipzig 1933 [opac]
  • Helmar Schramm: Kunstkammer – Laboratorium – Bühne im ‚Theatrum Europaeum’. Zum Wandel des performativen Raums im 17. Jahrhundert, in: Ders. (Hg.): Kunstkammer, Laboratorium, Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert. Berlin 2003, S. 11-34 [opac]
  • Peter Wagner: Reading Iconotexts. From Swift to the French History. London 1995 [opac]

10.3. Abbildungsnachweise
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  • Abb. 1: Anonym: Neueröffneter Schau-Platz von Asiatischen Nationen, Erfurt 1748, Frontispiz und Titelblatt (Montage C.B.).
  • Abb. 2: Vincent Placcius: Theatrum Anonymorum Et Pseudonymorum, Hamburg 1708, Frontispiz.
  • Abb. 3: Peter Dahlmann: Schauplatz der masquirten und demasquirten Gelehrten, Leipzig 1710, Frontispiz.
  • Abb. 4: Aegidius Sadeler: Theatrum Morum, Prag 1608, illustriertes Titelkupfer.
  • Abb. 5: Marcus Gheeraerts d.Ä.: Titelkupfer, in: Esbatiment Moral, Des Animavx, Anvers 1578.
  • Abb. 6: Christoph Zeißeler: Neu-eröffnetem Historischen Schau-Platz, Leipzig 1695, Frontispiz.
  • Abb. 7: Christoph Zeißeler: Des Neu-eröffneten Historischen Schau-Platzes Vorstellung, Wittenberg 1700, Frontispiz.
  • Abb. 8: Jacob Daniel Ernst: Neue historische Schaubühne der menschlichen Thorheit und Göttlichen Gerechtigkeit, Leipzig 1696, Titelbild.
  • Abb. 9: Ivo Hueber: Theatrum Annuum Historico-Morale Heroinarum, Augsburg 1717, Frontispiz.
  • Abb. 10: Franz Lang: Theatrum Affectuum Humanorum Sive Considerationes Morales, München 1717, Titelbild (nach Gottfried Rogg).
  • Abb. 11: Anonym: Theatrum Novum Politico-Historicum, Würzburg 1686, Frontispiz.
  • Abb. 12: Georg Andreas Böckler: Theatrum Machinarum, Nürnberg 1661, Titelbild.
  • Abb. 13: Hans Georg Hertel: New eröffneter Geometrischer Schaw- und Mässe-Platz, Braunschweig 1675, Titelkupfer.
  • Abb. 14: Michael Valentini: Amphitheatrum Zootomicum, Frankfurt 1720, Frontispiz.
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