Einführung

Steven Blankaart: Schou-burg der Rupsen (Schau-Platz Der Raupen)
Flemming Schock

1. Titel1
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Schau-Platz Der Raupen/ Würmer/ Maden Und Fliegenden Thiergen Welche daraus erzeuget werden/ Durch eigene Untersuchung zusammen gebracht Von Steph. Blankaart, P. & M. D. und Practicum zu Amsterdam/ Aus dem Niederländischen ins Hochteutsche übersetzt Durch Johann Christian Rodochs, P. & M.D. und Practicum in Weißenfels. Leipzig/ In Verlegung Joh. Friedrich Gleditschen/ Buchh. Im Jahr 1690. Leipzig: Gleditsch, 1690. - Titelseite (Kupfertafel), 178 pag. S., davon 22 Ill., 8°. [opac ↗61135652X] [vd17 ↗39:117638F]

2. Verfasser und Verleger
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Steven Blankaart (1650-1704), Anatom, Pharmazeut und Arzt aus Amsterdam; Autor mehrerer erfolgreicher medizinischer Schriften. Blankaart war Sohn eines Professors für Geschichte und Griechisch. Nach einer Apothekerlehre und erworbenem Doktortitel der Philosophie zog Blankaart 1674 nach Amsterdam. Als praktizierender Arzt legte er als einer der ersten empirische und wissenschaftliche Maßstäbe an. Die deutschsprachige Erstausgabe Schau-Platz Der Raupen erschien bei Johann Friedrich Gleditsch (1653-1716), einem der bedeutendsten Verleger und Buchhändler des ausgehenden 17. Jahrhunderts. Gleditsch hatte ein Jahr zuvor bereits Blankaarts Syphillis-Schrift Die belägert- und entsetzte Venus verlegt. Der Erfolg Gleditschs gründete sich vor allem auf die Herausgabe bedeutender Lexika (Johann Hübner: Reales Staats- und Zeitungs-Lexicon, 1704) und richtungsweisender Periodika der Zeit (Acta Eruditorum, 1682ff.). Darüber hinaus zeichneten sich die von Gleditsch verlegten Werke besonders durch ihre qualitativ hochwertige Ausstattung aus.

3. Publikation
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3.1. Erstdruck
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Erschienen 1688 in Amsterdam unter dem Titel Schou-burg der Rupsen, Wormen, Maden, en Vliegende Dierkens daar uit voort komende.

- Wiederauflage des niederländischen Erstdrucks

Amsterdam 1738.


Standorte des Erstdrucks

3.2. Weitere Ausgaben
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3.2.1. Deutsche Übersetzung
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Schau-Platz Der Raupen/ Würmer/ Maden Und Fliegenden Thiergen. Leipzig 1690.

3.2.2. Digitale Ausgaben
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- Digitale Ausgabe des niederländischen Erstdrucks

- Digitale Ausgaben der deutschen Übersetzung

4. Inhalt
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Die vom Arzt Johann Christian Rodochs besorgte Übersetzung der Schou-burg der Rupsen hebt bereits in der Widmung auf den zeitgenössischen Ruhms Blankaarts ab. So handle es sich um eines „berühmten Holländers curieuse Arbeit“ (Widmung, unpag.). Implizit wird hier die historische Wahrnehmungsverschiebung angesprochen, innerhalb deren vermeintlich primitiv konstruierte Lebewesen dank des Mikroskops in den Rang eines wissenschaftlichen Objektes aufstiegen: „Allein so wohl als die hierinnen vorgetragene Tiergen zwar von denen meisten vor nichtswürdige Würmergen gehalten/ von Verständigen aber als Betrachtens würdig/ aestimiret werden“ (Widmung, unpag.).

Schließlich nimmt Rodochs Blankaarts Schrift sogar zum Anlass einer generellen, geradezu euphorischen – und natürlich werbenden – Epochendiagnose, wie sie sich auch in vielen anderen Werken der neuen Wissenschaften der Zeit findet: „Es scheinet als ob die Curiosität und der unermüdliche Fleiß so vieler vortrefflicher Ingeniorum dieses Saeculum mit neuen Erfindungen und seltsamen Anmerckungen also bereichern wollen/ daß denen künfftigen Zeiten […] eine fast vollkommene Wissenschafft von natürliche Dinge möchte übrig bleiben“ (Widmung, unpag.). Der praktizierende Arzt Blankaart entschuldigt sich in der Vorrede zunächst, „daß ich hier ein Werck vorstelle/ welches nicht meines Thuns ist/ und gäntzlich aus meiner Profession zu seyn scheinet“ (Vorrede, unpag.). Direkt bezieht er sich auf einen als Vorbild dienenden anderen ‚amateurhaften‘ Vorgänger, den Maler und Insektenforscher Johannes Goedaert (1620-1688). So habe er, Blankaart, „auf die Art wie Johannes Goedaart“ (Vorrede, unpag.) soweit möglich alle Insekten des Landes gesammelt, sich allerdings auch von Freunden aus ferneren Gegenden Objekte zukommen lassen. Blankaart kündigt im Falle einer positiven Resonanz eine Fortsetzung an und stilisiert seinen eigenen Forscherdrang in zeittypisch emphatischer Manier als säkulare Form des Gottesdienstes: „Meine Gedancken stehen nicht stille/ und meine Untersuchungen ruhen nicht/ so lange ich noch die Wunder-Wercke Gottes beschauen kan“ (Vorrede, unpag.).

Das Werk selbst ist in insgesamt 47 „Hauptstücke“ oder kleinteilige Beobachtungskapitel unterteilt, die selten mehr als zwei Seiten umfassen. Das erste „Hauptstück“ erweist sich als das wissenschaftsgeschichtlich wichtigste Kapitel – „Handele von der Zeigung aus Eyern und daß aus der Fäulniß nichts generiret werde“ (S. 1). Die Autorität auf dem Gebiet der Theorie der Urzeugung, Francisco Redi,erwähnt Blankaart zunächst nicht, kopiert allerdings dessen Experimente und stellt eigene Beobachtungen vor, „wie ich sie durch ein gemein Vergrösserungs-Glaß gesehen“ (S. 2). Das hier etablierte Vorgehen zieht sich durch die gesamten Folgekapitel und gibt dem Werk sein strukturelles Gepräge: Minutiös hält Blankaart seine Beobachtungen an Insekten fest, so dass der Text zu einem Forschungstagebuch und -protokoll wird. Besonders das ‚Wunder der Verwandlung‘ des Schmetterlings in seinen einzelnen Stadien fesselt Blankaarts Aufmerksamkeit. Er beschreibt seine Beobachtung zahlloser Raupen, „welche sich zur Veränderung schickten“ (S. 15). Angetrieben zeigt er sich dabei vor allem durch eine begeisterte Sammlertätigkeit, die ihre Studienobjekte in der eigenen örtlichen Umgebung findet: „Gieng ich gegen Abend […] vor das Leydische Thor […]/ umb zu vernehmen ob ich einige Raupen finden möchte/ welche ich noch nicht hatte“ (S. 19). Praktisch beschränkt sich Blankaart überwiegend auf das Füttern seiner Untersuchungsobjekte und das geduldige Abwarten von „Veränderungen“ (S. 20). In kritischer Auseinandersetzung mit denmaßgeblichen Insektenforschern kommt er dabei wiederholt zu abweichenden und ergänzenden Beobachtungen, so dass er auf die Offenheit und Unabschließbarkeit des Wissensprozesses verweist. So heißt es etwa: „Ich sehe/ daß dieses Fadens oder Bandes Herr Johann Schwammerdan auch gedencket. Goedaart aber schreibet nichts davon. Also kan gethanen Dingen noch allezeit was beygefüget werden“ (S. 22). Wie ausgeprägt die Faszination für Insektenforschung im persönlichen Umfeld Blankaarts war, zeigt sich darin, dass er wiederholt Raupen beschreibt, die ihm von Freunden vorgelegt wurden: „Den achtzehenden des Brachmonats brachte Simon Schönvoer, ein curieuser Auffsucher dieser Thiergen/ mir eine Raupen […]“ (S. 35). Hier wie auch insgesamt folgen die Einträge keiner erkennbaren Systematik, sondern eher dem zufälligen Gang der Beobachtungen. Im „XVII. Hauptstück“ (S. 47) kommt Blankaart auf die Seidenraupe zu sprechen, für deren Kultivierung sich die Zeitgenossen besonders begeisterten – und der Verfasser teilt, wie er angibt, diese Leidenschaft schon seit langem: „Ich habe in meiner Jugend einen Zeit-Vertreib und Ergötzung damit gehabt; und dieses ists/ was ich davon aufgezeichnet habe“ (S. 47). Ebenso ein Zugeständnis an zeittypische Konventionen und Interessenschwerpunkte ist Blankaarts Entscheidung, den Fokus auf Insekten aus exotischen Weltgegenden auszudehnen, womit er den eigenen, primären Erfahrungsbereich verlässt. So berichtet er „Von einigen raren Surinamischen Schmetterlingen“ (S. 54) und klagt: „Es ist zu bedauren/ daß ich die Raupen mit ihren Popgen nicht beyfügen kan/ welches man mir zum besten muß ausdeuten/ weil keine Zeit habe das Land zu besuchen […]“ (S. 57). Wendet sich die Aufmerksamkeit im Folgenden wieder den Larven aus heimischen Gefilden zu, arbeitet sich Blankaart einmahl mehr an der Referenz Goedaert ab, nicht ohne diese zu korrigieren. Im „XXII. Hauptstück. Von der Schwein-Made sampt ihren Pugen und Fliege“ (S. 61) gibt Blankaart zu Protokoll: „Nachdem diese Observation mit andern des Ersten Theils Joann Goedaars einerley ist/ find ich doch zwischen beyden einen Unterscheid“ (S. 62).

Immer wieder gibt der Text auch autobiographische Einblicke, die zeigen, dass Blankaart von seiner Privatleidenschaft, dem Insektenstudium, auch parallel zum eigentlichen Beruf nicht lassen kann: „Den 26. Heumonat wurde ich zu nach Vyanen zu einem Krancken erfordert/ da fand ich in dem Baum-Garten eines meiner Freunde/ auf einem Rosen-Stock viel grüne Maden/ welche ich in ein Büchsgen that und nach Amsterdam brachte“ (S. 65). Umfangreiche Beschreibungen folgen u.a. zu Spinnen (S. 97ff.) und einmal mehr überschreitet Blankaart die heimische Fauna, wenn er selbst Skorpione in den Untersuchungskatalog mit aufnimmt – unter Rückgriff auf ‚Sekundärerfahrung‘: „Wiewohl Scorpionen ein Gewürm sind/ welche in unsern Ländern nicht gezeuget werden/ so will ich doch so viel davon sagen/ als mir bewust“ (S. 109). Erst gegen Ende des Hauptteils erfolgt der erste textliche Bezug auf Francisco Redi, den eigentlichen Pionier der Insektenforschung des 17. Jahrhunderts: „Der andere von den neuen Authoribus, ist Herr F. Redi, ein Mann von unvergleichlichen Fleiß/ allerhand Verborgenheiten zu erforschen“ (S. 149). Zum Abschluss des ersten Werkteils bringt Blankaart eine praktische Handreichung für den Leser „Wie man die Thiergen fangen/ und gehörig bewahren soll“ (S. 157).

Beachtlich ist die Dreiteilung des Bandes – auf die Reihung von Blankaarts eigenen Observationen folgt ein „Anhang von Brieffen und was andere Gelehrte Leute wegen dieser Thiergen wahrgenommen“ (S. 162ff.). Die Briefe zeigen Blankaart im wissenschaftlichen Dialog mit Zeitgenossen, insbesondere Ärzten. Blankaart wird diese Briefe nicht zuletzt aus werbendem Zweck seiner Schou-burg der Rupsen (Schau-Platz Der Raupen) beigefügt haben. So urteilt ein Freund, der schon vor der Publikation des Werkes informiert war: „Sein Tractat von Gewürmen/ welcher itzo unter der Presse ist/ wird wegen seiner Schwürigkeit und Seltenheit sonder Zweiffel der gelehrten Welt höchst angenehm seyn/ indem sein Fleiß nichts in der finstern Unwissenheit stecken lässt“ (S. 166). Der dritte und letzte Teil liefert die von Blankaart selbst angefertigten Abbildungen zu den untersuchten und beschriebenen Insekten.

5. Kontext und Klassifizierung
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Blankaarts Schou-burg der Rupsen (Schau-Platz Der Raupen) steht im Kontext zweier eng verwobener wissensgeschichtlicher Prozesse des 17. Jahrhunderts: Zum einen hatte die Biologie und mit ihr die Entomologie (Insektenkunde) in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts besonders durch Francisco Redi (1626-1698) entscheidende Impulse erfahren. Redi konnte die alte Annahme der Ur- bzw. Spontanzeugung der Insekten aus unbelebter Materie widerlegen; dies war ihm – zum anderen – gerade auch durch ein revolutionär neues optisches Medium des Jahrhunderts möglich. Die Verfeinerung des Mikroskops seit dem frühen 17. Jahrhundert stellte die empirische Naturbeobachtung auf eine völlig neue Grundlage und erzeugte eine epistemologische Wende, die den Zeitgenossen wohl bewusst war – die medial gestützte, augenscheinliche Erfahrung galt dem Wissen der Alten als überlegen. Wenige Jahre vor Redis Werk Experienze intorno agla generatione degl’ Insetti (Florenz 1668) hatte vor allem Robert Hookes sensationelles Buch Micrographia or, Some physiological descriptions of minute bodies made by magnifying glasses (London 1665) die wissenschaftliche Epochenqualität des Mikroskops Naturphilosophen und Laien gleichermaßen nahegebracht. Nahezu zeitgleich wirkten und publizierten auch die für Blankaart maßgeblichen beiden niederländischen Wegbereiter der Entomologie, Johannes Goedaert (1620-1688) und Jan Swammerdam (1637-1680). Den ersten Teil seines dreibändigen Werks Metamorphosis Et Historia Naturalis Insectorum (Göttingen bietet ein Digitalisat der drei Teile) veröffentlichte Goedaert 1662; 1675 folgte Swammerdam mit seiner auch ins Englische übersetzten Naturgeschichte der Insekten Ephemeri vita: of afbeeldingh van ’s menschen leven.

Da seine Hauptleistungen eher auf medizinischem Gebiet zu verorten sind, ist Blankaarts Verdienst für die Frühgeschichte der Insektenkunde zweifellos geringer zu veranschlagen als die seiner Vorgänger, mit deren Entdeckungen und Beobachtungen er sich in der Schou-burg der Rupsen (Schau-Platz Der Raupen) immer wieder kritisch auseinandersetzt. Zwar gelangen ihm keine bahnbrechenden Funde wie Redi. Auch erreichen seine Abbildungen nie die kunstvolle Qualität derer von Goaedaert und die Sprache fällt hinter die geniale Wissenschaftsprosa eines Robert Hooke deutlich zurück. Aber Blankaart konnte, wie er selbst auch wiederholt explizit anführt, die Erkenntnisse seine Vorgänger doch ergänzen und somit zum Wissensfortschritt beitragen. Und wie diese zeigt sich Blankaart dabei vor allem als Popularisator des neuen, empirischen Blicks auf die Naturgeschichte, in der Neugier und experimentelle Erfahrung die dynamischen Antriebsmomente in der „Studier-Stube“ (S. 29) verkörperten: „Denn die Experientz und curiöse Untersuchung/ hat mich gelehret/ daß aus Fäulung nichts vorkömmt/ so daß Leben hat“ (S. 2). Korrelierend heißt es gegen Ende des Textes ebenso zeittypisch: „Denn es ist den Schrifften der Alten/ so viel Experientz betrifft wenig zu trauen“ (S. 154). Angesichts der empirischen, wissenschaftlichen Primärerfahrung büßte das traditionelle Buchwissen seine Autorität nachhaltig ein – mehr als andere vertraut Blankaart an diesem epistemologischen Wendepunkt allerdings noch seinem bloßen Auge und nicht nur der von Forschern wie Hooke so euphorisch beschworenen Kraft des Mikroskops. Über die Beobachtung von Läusen an Kirschbäumen heißt es etwa: „Dieses sahe ich durch mein gemeines Vergrösserungs-Glaß/ denn mit den Augen allein konte ich es nicht wohl erkennen was es war“ (S. 125). Anders als Swammerdam etwa hält sich Blankaart auch mit Sektionen von Tieren deutlich zurück. Die empirische und protokollarische Qualität der Beobachtungen wird dabei immer wieder durch Datumsangaben unterlegt. Insgesamt steht Blankaarts Schou-burg der Rupsen (Schau-Platz Der Raupen) exemplarisch für die rasanten Fortschritte, die die neue forschende Naturphilosophie im späten 17. Jahrhundert nahm und dabei potentiell auch weitere Leserkreise erreichte.

6. Bibliographische Nachweise und Forschungsliteratur
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1Grundlage der Zitate sowie der formalen und inhaltlichen Beschreibung ist die deutschsprachige Erstausgabe.
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