Einführung

Anonym: Neu auffgelegtes Complementir- und Liebes-Theatrum
Nikola Roßbach

1. Titel
[arrow up]

Neu auffgelegtes Complementir- und Liebes-Theatrum oder Schauplatz. Das ist: Neue/ anmuthige und zierliche Conversations- und Liebes-Gespräche Welche So wohl Frauens- als Manns-personen bey allerhand Zufällen in Freud und Leid gebrauchen/ und mit Nutz derselben sich bedienen können. Auß dem Italianischen/ Frantzösischen und Englischen jetzo zum erstenmahl ins Teutsche übersetzet. In Verlegung Barthold Fuhrmanns Buchhändl. in Osteroda. Gottingen/ Gedruckt von Josquino Woyken. 1686. Göttingen: Barthold Fuhrmann, 1686. - Titelseite, 480 pag. S., 12°. [vd17 ↗39:136277E]

2. Verfasser
[arrow up]

Kompilator und Übersetzer der galanten Liebesgespräche bleiben anonym und sind nicht ermittelt. Auch der Publikationskontext gibt keine Hinweise zur Autorschaft: Der Band erscheint bei dem von 1672 bis 1693 in Osteroda tätigen Verleger Barthold Fuhrmann, dessen schmales Verlagsprogramm vor allem theologische, historiographische und politische Titel in lateinischer Sprache bietet. Auch in das thematisch ähnlich gelagerte Spektrum der wenigen deutschsprachigen Titel scheint der Konversationsratgeber nicht zu passen; die einzige von Fuhrmann verlegte Klugheitslehre Schild der Ehren und Tugend-Gewehr (1690) des Hausautors Johann Dietrich von Gülich ist eindeutig christlich geprägt.

3. Publikation
[arrow up]

3.1. Erstdruck
[arrow up]

Erschienen 1686 in Göttingen. Verlag Barthold Fuhrmann, Osteroda. Drucker Josquin Woyke, Göttingen.


Standorte des Erstdrucks

3.2. Vorlage
[arrow up]

Der Titel verweist ausdrücklich auf italienische, französische und englische Vorlagen der hier erstmals ins Deutsche übersetzten Gespräche. Höchstwahrscheinlich basiert der Band auf Texten, die in fremdsprachigen Konversationslehren zu finden waren. Bei der italienischen Vorlage handelt es sich um Girolamo Brusonis Complimenti amorosi (Venedig 1643), die über weite Strecken frei übersetzt wird; englische und französische Vorlagen konnten bisher nicht ausfindig gemacht werden. Da der überwiegende Teil des Textes, das lange zweite Kapitel zu Liebeskomplimenten, stark an Brusoni angelehnt ist, lässt sich nicht ausschließen, dass das Titelsignal lediglich Internationalität suggerieren und die Attraktivität des Bandes erhöhen sollte.

4. Inhalt
[arrow up]

Das Neu auffgelegte Complementir- und Liebes-Theatrum ist ein Konversationsratgeber, der sich explizit als Sachtext geriert, jedoch immer wieder durch fiktionale Elemente überformt wird. Einerseits scheint es ein Beispiel dafür zu sein, dass ‚Theatrum‘ als bloßer Passepartoutbegriff für eine lose Akkumulation thematisch ähnlicher Elemente steht. Enzyklopädische Totalität wird nicht angestrebt – es geht nicht um ‚alles‘, sondern um ‚allerhand‘, heißt es im Titel symptomatisch. Andererseits ist der Theatrum-Titel keine tote Metapher: Er verweist auf die Fiktionalität des Sachtextes und rechtfertigt sich durch die zentrale Bedeutung der dramatisch-theatralen Aspekte Dialogizität, Figuralität und Handlung (Roßbach, S. 164).

Der Band, dessen Konzeption und Machart eher flüchtig, unausgewogen und fehlerhaft sind, teilt sich auf in eine „Vorrede Sampt beygefügter Beschreibung der Complimenten und Ursprungs der Liebe“ (S. 3) und einen von Gedichten und Sprüchen eingerahmten Hauptteil. Er besteht aus Mustergesprächen, aufgeteilt in zwei Kapitel, sowie Musterbriefen.

Die Vorrede beginnt mit einem Lob der Beredsamkeit, die großen gesellschaftlichen und privaten Nutzen – hier insbesondere in Liebesangelegenheiten – habe. Es folgen eine „Beschreibung der Complimenten.“ (S. 5) und eine „Beschreibung der Liebe und des Ursprungs derselben.“ (S. 8). Obgleich der Titel des Bandes explizit „So wohl Frauens- als Manns-personen“ anspricht, ist die Vorrede einzig an Männer adressiert; Frauen erscheinen als leichte Beute des galanten Eroberers. In aggressiver Kampfmetaphorik werden Komplimente als Schwerter inszeniert, die die Schlafzimmertür der Herzdame aufbrechen. „Diese Complimenten führen die Höffligkeit bey sich/ Höffligkeit bringt Glückseeligkeit/ Glückseeligkeit einen guten Außgang der Liebe/ Liebe erlangt die Braut“ (S. 6f.): eine Folgerungskette, die symptomatisch ist für die vertretene amoralische, utilitaristische Liebesphilosophie, die Komplimente nur dann missbilligt, wenn sie ihre Wirkung verfehlen. Über weite Strecken wirkt die Vorrede konfus und sprachlich ungelenk. Am Ende stehen lyrische Kurztexte, Anagramme und Spruchverse über die Liebe, bevor zum Hauptteil, den Mustergesprächen und -briefen, übergeleitet wird: „Waß nun ferner die Liebe auff beyden seiten der Glückseeligen und Unglückseeligen Liehaber [sic] für Wirckung mit sich führe/ wird auß folgenden Liebes-Gesprächen mit mehren zu ersehen sein.“ (S. 24)

Das erste Kapitel ist überschrieben mit „Von allerhand Diensterbietungen an vornehme Herren und andere gute Freunde“ (S. 25). Es bietet Rede- und Verhaltensvorschläge für konventionelle Gesprächssituationen. Man erfährt, wie man einem Freund auf der Straße und einem Edelmann auf seinem Landgut aufwarten, Abschiedsgespräche führen und Neujahrswünsche übermitteln, wie man Personen beglückwünschen, ihnen danken und sie willkommen heißen soll. Ein umfangreiches „Gespräch vom Spatziergehẽ und von der Pedanterey“ (§ 8) fällt aus dem Rahmen: Der gelehrsamkeitskritische Dialog wurde als verselbstständigtes, nicht zur Nachahmung anregendes Traktat in die Reihe der Mustergespräche eingefügt.

Während das erste Kapitel nur etwa 40 Seiten (S. 25-66) umfasst, ist das zweite Kapitel „Von Liebes-Complimenten“ zehnmal so lang (S. 67-455) – auch dies belegt die unausgewogene, inkonsistente Struktur des Bandes. Die stereotypen Mustergespräche, in denen sich männliche Galanterie und weibliche Koketterie begegnen, nehmen die Perspektive des Mannes ein, der bei der Eroberung des begehrten weiblichen Objekts beraten wird: „Eine schöne Jungfer um Gegen-Liebe zu suerchen [sic]“ (§ 2), „Eine höfliche Damoiselle um Ehliche Liebe anzusprechen“ (§ 3), „Einer widerspenstigen Jungfer seine Liebe zu entdecken“ (§ 4), „Einer Wittwen seine Ehliche Zuneigung zu entdecken“ (§ 7) etc.

Dass die Dialogtexte vorwiegend auf italienischen Vorlagen basieren, zeigen die oft zweisprachigen Überschriften: Bei „Di Pace Negatà Von abgesagter Versöhnung.“ (S. 256) etwa handelt es sich wie immer bei italienischen Überschriften um die wörtliche Übernahme eines ‚Complimento’ aus Brusonis Complimenti amorosi. Zuweilen bleiben gar vereinzelte italienische Wörter (ein ‚e‘ für ‚und‘ mitten im deutschen Satz) stehen. Auch die Namen, zum Teil sprechende wie ‚Rigida’, verweisen häufig auf das italienische Original. Von der tête-à-tête-Struktur weichen nur wenige Gespräche ab: Einmal unterhalten sich zwei Männer und zwei Frauen über die Liebe (S. 211), einmal vier Kavaliere über die männertypische Heiratsunwilligkeit (S. 436) und einmal scherzen sieben (!) Damen mit einem kranken Herrn (S. 391).

Ein großes Spektrum möglicher galanter, werbender, zum Teil frivoler Gesprächssituationen wird abgedeckt. Vorgeschlagen werden Verhaltensweisen beim Abschied der Geliebten und ihrer Wiederkunft, bei Entschuldigung, Rechtfertigung und Ver-söhnung. Hier entspinnt sich ein Gespräch durch eine Nichtigkeit – „Bey dem Niesen einer Damen“ (S. 175) –, dort findet es hochdramatisch am Sterbebett der Frau statt (S. 360).

Besonders bemerkenswert sind bandübergreifende figurale und handlungsmäßige Kontinuitäten von Gesprächen, die das Neu auffgelegte Complementir- und Liebes-Theatrum als fiktionalen Ganztext erscheinen lassen. An das „Gespräch bey der Abreise der Geliebten mit ihrem Liebhaber“ (S. 98) zwischen Dianora und Filiterno knüpft zwanzig Seiten später „Nel ritorno dell’ Amata. Bey der Liebsten Widerkunffe“ (S. 120) an. Ein Liebeskonflikt zwischen Rutilia und Filiterno wird mit unterschiedlichem Ausgang durchgespielt: „Von abgesagter Versöhnung“ – „Von verstatteter Versöhnung“ (S. 256, 271). Ebenso aufeinander bezogen wirken die Abschnitte „Di Presente Risiutato [sic]. Wegen eines abgeschlagenen und versagten geschenckes“ (S. 289) und „Di Presente Ricevuto. Wegen eines angenommenen Geschenckes“ (S. 302): Bei Isabella hat Filiterno kein Glück mit seiner Gabe – und versucht es wenig später erfolgreicher bei Luciminia.

Zunehmend gehen die Gesprächssituationen über stereotype Modellhaftigkeit hinaus und muten zum Teil wie Plots fiktionaler Erzählungen an: „Von einer Damen welche durch Hülffe eines Cavalliers ihrer Kranckheit befreyet und in demselben verliebet worden.“ (S. 422); „Von einem Cavallier / welcher einer Dame mit einem anderen Cavallier ihren Liebhaber versöhnen wil / und selbst in ihr verliebet wird.“ (S. 428).

Dem Gesprächsratgeber folgt ein kurzer Briefsteller, überschrieben mit „Die verspottete Liebe oder Etliche Liebes-Schreiben/ und keusche Beantwortungen derselben“ (S. 446). Hier stößt die Textsorte Ratgeber endgültig an ihre Grenzen, und zwar an die Grenzen zur fiktionalen Erzählliteratur. Anstelle ernsthafter Beratung stehen unterhaltsame Versuchsanordnungen in Sachen Liebe, die sich durch ironisch-witzige Pointen auszeichnen. Ein „Anhang etlicher Liebes-Gedichte“ (S. 463-480) beschließt den Band.

5. Kontext und Klassifizierung
[arrow up]

Das Neu auffgelegte Complementir- und Liebes-Theatrum gehört zum Genre der Konversationslehre in ihrer spätbarock-galanten Ausprägung. Der Band legt im Gegensatz zu anderen Ratgebern höfischen Verhaltens seinen Schwerpunkt nicht auf das gesellige Gespräch mit gleich- oder höhergestellten Herren, sondern auf die Unterhaltung Liebender. Allerdings handelt es sich nicht um ein intimes, gar individuelles Einvernehmen: Galante Conduite war auch in Liebesdingen eine zu erlernende soziale Technik, die in Gesellschaft demonstriert wird. Privatheit und Öffentlichkeit sind nicht zu trennen.

Im 17. Jahrhundert, „der eigentlichen Epoche der Konversation“ (Schmölders, S. 25), erscheint die Konversation als spezifisch normierte, durch Zeremoniell und Etikette fixierte Umgangs- und Kommunikationsform. Die Beachtung von Gesprächsregeln wurde notwendig für gesellschaftlichen und privaten Erfolg; ihre Nichtbeachtung konnte sozialen Abstieg bedeuten. Leit- und Orientierungsfunktion besaß der absolutistische Hof des französischen Königs Ludwig XIV.; von hier aus verbreitete sich das galante Ideal höfischer Konversation an anderen europäischen Herrscherhäusern und gewann auch für das aufstiegsorientierte Bürgertum an Bedeutung.

Doch bereits im 16. Jahrhundert waren in Italien höfische Klugheitslehren entstanden, die ein gesellschaftlich und privat erfolgreiches Verhalten lehrten (kanonbildend war Baldassare CastiglionesIl Libro del Cortegiano, 1528). Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts erschienen etliche Ratgeber, die die Regeln der civil conversazione schriftlich festhielten und an Mustergesprächen demonstrierten. Schmölders (S. 139) stellt Textgenres wie Anstandsbücher, Rätsel- und Komplimentierbücher, Briefsteller, Gesprächs-, Spiel- und Rhetorikbücher in den Kontext der barocken Konversationslehre – die neuere Forschung profiliert allerdings eher einen vom Barock zu trennenden, galanten Diskurs (Borgstedt/Solbach), der Verhaltensliteratur (Konversationslehren, Komplimentierbücher, Briefsteller) und schöne (Roman-)Literatur durchquert. Zu ihm gehören an prominenter Stelle die Regeln des Komplimentierwesens (Gelzer, S. 80f.). „Galant gehört wie der Begriff des Politischen vielmehr in den Zusammenhang der Propagierung neuer diesseits- und aufstiegsorientierter Lebens- und Verhaltensnormen im absolutistischen Staat. Anleitungen zu ‚galanter Conduite’, Rhetoriken, Poetiken und Briefsteller lehren die galante Stil- und Lebenshaltung, galante Gedichte, galante Romane und galante Musik veranschaulichen sie.“ (Meid, S. 574)

Auch das Neu auffgelegte Complementir- und Liebes-Theatrum enthält einen Briefsteller. Der anonyme Verfasser steht damit in einer Reihe mit galanten Autoren wie Christian Friedrich Hunold (Die allerneueste Art höflich und galant zu schreiben, 1702/03), und August Bohse (Gründliche Einleitung zu Teutschen Briefen, 1706), die ebenfalls schriftliche Umgangsformen thematisieren. Auch innerhalb der Theatrum-Literatur existiert ein umfangreicher Briefsteller: der dritte Teil von Johann Christoph Lünigs Theatrum Ceremoniale Historico-Politicum (1720).

6. Rezeption
[arrow up]

Keine Rezeptionszeugnisse ermittelt. Das nur noch in zwei Exemplaren nachweis-bare Neu auffgelegte Complementir- und Liebes-Theatrum ist das flüchtig und fehlerhaft zusammengestellte, nicht erneut aufgelegte Bändchen eines kleinen Göttinger Verlags – nichts deutet auf breite Publikumsresonanz hin.

7. Bibliographische Nachweise und Forschungsliteratur
[arrow up]

XML: http://diglib.hab.de/edoc/ed000113/tei-introduction.xml
XSLT: http://diglib.hab.de/rules/styles/projekte/theatra/tei-introduction2.xsl