Vor diesem!
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Ein Lustspiel in einem Aufzuge.
1756
Personen:
Erster Auftritt.
Wilibald.
(unangekleidet im Schlafrocke.)
Wie sehr ist jeder ehrliche Mann heut zu Tage zu beklagen! Die gute alte Zeit ist vorbey, und die, in der wir jetzt leben, muß allen zum Ekel und zum Verdruß werden, die nur noch ein Fünkchen Vernunft und Tugend haben. Ich sage das aus Ueberzeugung, und nicht aus Aergerniß, ob ich gleich Aergerniß mehr als zu viel habe. Es müßte auch mit einem Wunderwerke zugehen, wenn es mir bey einem ewigen Processe vor zwanzig Jahren und bey einer erwachsenen Tochter daran fehlen sollte! Ein Proceß! Eine erwachsene Tochter! Aber was würde mir alles das schaden, wenn heut zu Tage unsern Mädchen die Ehrbarkeit nicht eben so unbekannt wäre, als die Gerechtigkeit unsern Richtern? Nein, wirk-lich, vor diesem war das so nicht! Vor diesem, da alle Richter Rhadamanthen und alle Mädchen Susannen waren! Vor diesem, da es noch eine eben so große Unmöglichkeit schien, die Gerechtigkeit zu erkaufen, als den Himmel! — — Wegen des Processes zwar hat mir der Präsident gestern gute Hofnung machen lassen. Ich soll heute mit meinem Advocaten zu ihm kommen. Aber es wird gewiß wieder nichts seyn; denn es liegt dem Teufel zu viel daran, daß mich die Chikane nicht in Ruhe läßt — Gut, meine Tochter, daß du kömmst — —
Zweyter Auftritt.
Charitas. Wilibald.
Wilibald
Ich hatte jetzt eben meine Gedanken über — — —
Charitas
Ueber die jetzigen verderbten Zeiten; nicht wahr? Diese sind ja immer der traurige Gegenstand Ihrer Gedanken. Wahrhaftig, liebster Vater, es thut mir herzlich leid, daß Sie so wenig für diese Welt gemacht sind. Ich dächte doch, sie wäre noch so ziemlich gut.
Wilibald
O Jugend! O meine Tochter! wie sehr wünsche ich dir gesündere Begriffe. Du machst mein ganzes Mitleiden rege. Komm, Kind, und laß dir meine Erfahrungen mittheilen; sie können deiner jungen Schönheit statt der Stärke des Geistes dienen, die sonst nur das Vorrecht des Alters zu seyn pflegt. Ein weniges von meiner Einsicht kann dir zehn Jahre mehr geben — —
Charitas
Wie, liebster Vater, zehn Jahre mehr? Bedenken Sie doch. Zehn Jahre mehr? O ein vortrefliches Geschenk für ein junges Mädchen!
Wilibald
Du verstehst mich nicht.
Charitas
O ich verstehe Sie ganz wohl! Zehn Jahre mehr? Geben Sie mir, wenn es seyn kann, lieber zehn Jahre weniger. Ich erschrecke über diese zehn Jahre mehr.
Wilibald
Diese zehn Jahre mehr würden weder deiner Schönheit, noch deiner Ju-gend nachtheilig seyn. Du würdest den Nutzen davon genießen, ohne ihre Last zu fühlen.
Charitas
Wenn gleich. Wir wollen uns lieber nicht übereilen. Wir wollen dem Laufe der Natur lieber nicht zuvorkommen. Wenn die finstre Weisheit nur mit dem Alter erlangt wird, so kann sie nie spät genug erlangt werden.
Wilibald
Fürchte nichts, meine Tochter. Bey solchen Gesinnungen wird sie dich in deinem Leben nicht inkommodiren.
Charitas
Desto besser!
Wilibald
Dieses desto besser geht mir durch die Seele! Ich fürchte, ich fürchte; Du sprichst im Ernst. Vor diesem, Charitas, waren die Mädchen von deinem Alter weit lehrbegieriger, weit bescheidner. Vor diesem hörten sie einem vernünftigen und zärtlichen Vater mit mehr Vergnügen zu. Vor diesem liefen sie nicht so auf die Bälle und in die Comödien. Vor diesem lagen sie nicht den ganzen Tag über den Romanen, die dem Witze nur schmei-cheln, um das Herz zu verderben. Vor diesem — —
Charitas
Ich höre wohl; vor diesem waren alle junge Mädchen ehrwürdige Matronen; nicht wahr?
Wilibald
Ja.
Charitas
Sie machen mich zu lachen, liebster Vater.
Wilibald
Zu lachen? Und ich wollte, daß du über deine Thorheiten weintest.
Charitas
Die Thorheiten, welche Sie mir Schuld geben, sind die Thorheiten der Zeit, und nicht meine Thorheiten. Und ist es nicht unsre Pflicht, sich in die Zeit zu schicken? Doch lassen Sie uns diese Unterredung abbrechen. Philibert ist gestern bey Ihnen gewesen.
Wilibald
Laß uns diese Unterredung abbrechen, um wieder auf die erste zu kommen. Man muß sich, sagst du, in die Zeit schicken? O was für ein gefährlicher Grundsatz. Man muß sich nicht von der Menge hinreissen lassen, sondern man muß den Weg der Tugend wandeln, und wenn wir auch ganz allein drauf wandelten.
Charitas
Wir werden nicht ganz allein drauf wandeln, wenn Sie erlauben, daß uns Philibert begleiten darf. Er ist es werth, sich nach Ihrem Muster zu bilden. Er liebt Sie; er bewundert Ihren richtigen und scharfen Verstand; er betet mich an.
Wilibald
Er betet dich an?
Charitas
Ja, von Grund seiner Seelen.
Wilibald
Von Grund seiner Seelen?
Charitas
Ja.
Wilibald
Er betet dich an von Grund seiner Seelen. Das entzückt mich — —
Charitas
Warum wollen Sie also länger einer so reinen, so zärtlichen Liebe zuwider seyn? Einer Liebe, die Sie selbst so entzückt?
Wilibald
Erschöpfe deine Beredsamkeit nicht. Er betet dich an, und mehr brauch ich nicht zu wissen, um ihn aus dem Grunde zu kennen.
Charitas
Wie glücklich bin ich, daß Sie ihm Gerechtigkeit wiederfahren lassen. Ja, er ist der artigste, gefälligste, liebenswürdigste von allen jungen Menschen.
Wilibald
Und mit einem Worte alles zu sagen, der vollkommenste Narr unter der Sonne.
Charitas
Was sagen Sie?
Wilibald
Ich sage, daß du in deiner Unverschämtheit zu weit gehest. Ein wohlerzogenes Mädchen sollte eher vor Schaam sterben, als mit ihrem Vater von ihren Liebhabern sprechen. Vor diesem liebten die Mädchen auch; aber sie liebten mit Anständigkeit; sie liebten ganz in der Stille. Und wenn ich ein Mädchen wäre, ich; so würd ich eine Mordthat eher bekennen, als meine Liebe. Weißt du denn, was das ist, lieben?
Charitas
Ob ich es weiß?
Wilibald
Du weißt es? Desto schlimmer! Verheyrathe dich also je eher je lieber. Ich bin so ein Thor nicht, daß ich die Neubegierde eines Mädchens, das schon weiß, was lieben ist, zu ersticken versuchen wollte. Ich vermenge mich mit dem unmöglichen nicht. Nein, wahrhaftig, nein. Geh, verheirathe dich, aber wähle einen, der es würdiger ist, mein Schwiegersohn zu seyn, als dieser Philibert. Ich sollte einen Menschen, der die Frauenzimmer anbetet, in meine Familie nehmen? Ich? — Ein Frauenzimmer anbeten, wenn du mir es nicht übel nehmen willst, heißt die Narrheit selbst anbeten. Vor diesem hatte man für euch Geschöpfe nur kleine Achtungen; euch zu lieben, davon war man weit entfernt; aber euch gar anzubeten, das ist eine Raserey, die unsern jetzigen Zeiten vorbehalten wird, die ausdrücklich dazu bestimmt zu seyn scheinen, mit der gesunden Vernunft im Streite zu leben. Und wenn ich mich nicht sehr irre, so hat sich dein Philibert in diesem Streite vortreflich hervorgethan. Er ist galant, er schwatzt; er ist in der Welt herumgeschwärmt, er hat einen Narren gefressen an allem, was neu ist: Das sind die schönen Eigenschaften, die ich gestern an ihm bemerkte, als er mich mit seinem verdrüßlichenBesuche beehrte. Und übrigens darf man so gar scharfsichtig nicht seyn, um zu merken, daß er sein Vermögen durch seine Reisen ziemlich dünne gemacht. Sollte das etwa gar die wahre Ursache seyn, warum er dich anbetet?
Charitas
Wenigstens ziehen Sie die Redlichkeit seines Herzens nicht in Zweifel. Vielleicht zwar, daß er nicht mehr der reichste ist, aber was schadet das? Er besitzt Geschicklichkeiten, die ganz gewiß sein Glück machen werden, und hat einen sehr reichen alten Vetter, der — —
Wilibald
Geschicklichkeiten! — — Einen alter Vetter! — — Du hast mich zum besten, Tochter. In diesen barbarischen Zeiten, in welchen der Reichste der Geschicklichste ist, in welchem der, der Geld hat, alles zu wissen glaubt, ohne das geringste gelernt zu haben; in diesem Jahrhunderte der glücklichen Dumköpfe, was können da einem Geschicklichkeiten helfen? Vor diesem waren sie wohl so gut als das größte Kapital; aber das war vor diesem — Und was den alten Vetter anbelangt — glaubst du denn nicht, daß die alten Vetter Leute sind, die ihre jungen Vetter überleben wollen. Vor diesem starben die alten Leute wohl eher als die jungen; aber jetzt, jetzt stürmen ja die jungen Leute so entsetzlich in ihre Natur, daß sie Kahlköpfe werden, ehe sie einen Bart kriegen.
Charitas
Auch liebt ihn sein gewesener Vormund so sehr, daß er ihn zu seinem Erben einsetzen will.
Wilibald
Davon schweig vollends still. Das Mährchen ist mir so unglaublich vorgekommen, daß ich nicht einmal nach dem Namen dieses großmüthigen Vormundes habe fragen mögen. Vor diesem machten die Vormünder ihre Mündel wohl lieber reich, als arm; aber das war vor diesem!
Charitas
Und wenn ich es Ihnen nun auch einräumen müßte, daß seine Hoffnungen nicht allzugegründet sind; so müssen Sie mir doch wiederum einräumen, daß der Reichthum nicht die glücklichen Ehen mache.
Wilibald
Die Liebe noch weniger. Tugenden und gute Sitten müssen sie machen. Wenn mein künftiger Schwiegersohn diese hat, so will ich ihm Reichthum und Geburt schenken — Zum Exempel, was meynst du von dem wackern Florian; dem jungen Vetter meines Advokaten, des Herrn Codex?
Charitas
Nun was soll der Kahlmäuser?
Wilibald
Der soll dein Mann werden!
Charitas
Wer? der steife, düstre Florian.
Wilibald
Ey, meine Tochter, es ist ein sehr gelehrter junger Mensch! Er versteht lateinisch und griechisch, und hat die Alten gelesen. Die Alten! weißt du, was das sind, die Alten? Das sind die, die vor diesem geschrieben haben.
Charitas
Ich bin der Alten ihre gehorsamste Dienerin, und des Herrn Florians zugleich.
Wilibald
Folge mir nur in gutem, oder — Nun, wer kömmt da uns zu stören? — Sind Sie es schon, lieber Herr Codex!
Dritter Auftritt.
Codex. Wilibald. Charitas.
Codex
Schon? Was zum Henker wollen Sie mit Ihrem Schon? Denken Sie, daß ein Advokat, wie ich, nicht pünktlich ist? Und warum sind Sie noch nicht angekleidet? Haben Sie vergessen, daß uns der Präsident um zehn Uhr bestellt hat?
Wilibald
Ja, um zehn Uhr — — aber zehn Uhr —
Codex
Wirds für diesen Vormittag nicht noch einmal schlagen. Geschwind ziehen Sie sich an — Himmel! den Präsidenten warten zu lassen! Und Sie wollen in Ihrem Processe glücklich seyn? So lange als die Welt steht; ja ich dürfte wohl sagen, so lange als man processirt, hat sich kein Klient einer solchen Ungereimtheit schuldig gemacht. Den Präsidenten warten zu lassen!(indem er gar zu hefti-ge Gesten macht, fallen ihm unvermerkt die Akten, die er unter dem Armen hat, zur Erde.)
Wilibald
Das kömmt aus der Händeberedsamkeit!
Codex
Nein, unerhört! unerhört! — Es ist zwar kein Verbrechen, worauf die Carolina den Tod gesetzt; aber von weit größern Folgen, von weit verwickelterm Nachtheile. Den Präsidenten warten zu lassen, der auf Ordnung und Pünktlichkeit mehr hält, als auf Proceßordnung selbst; den Präsidenten warten zu lassen!
Wilibald
Aber lieber Herr Codex! —
Codex
Wie? Sie sind noch hier? Gehn noch nicht, und ziehn sich an?(Wilibald will gehn, wird aber sogleich zurückgehalten.)
Was sehe ich? meine Akten auf der Erde! Das ist niemand anders als Sie gewesen — Meine Akten auf der Erde! Weiter kann man Nachläßigkeit und Verachtung der heiligen Justiz nicht treiben.(indem er sie aufhebt und den Staub davon bläßt.)
Sie verdienen nicht, mich zum Advocaten zu haben, der ich dichte und trachte, Ihren Proceß, so spät als möglich zu verlieren.
Wilibald
Es ist aber nicht möglich, daß es schon zehn Uhr seyn sollte.
Codex
Möglich? Als wenn nichts wahr seyn könnte, als was möglich ist.
Wilibald
Ich weiß wahrhaftig nicht, wo die Zeit muß hingekommen seyn. Vor diesem lief sie nicht halb so geschwind!
Charitas
Machen Sie sich doch keinen Kummer. Es ist ganz gewiß noch nicht neun Uhr.
Codex
Ey! Sie wollen es wohl auch besser wissen, Mamsell? Wenns noch nicht neune wäre, wie käm' es denn, daß ein Mädchen, wie Sie, schon in völligem Putze wäre?
Charitas
(vor sich)
Verdammter Haberecht!
Codex
Ich habe zehne schlagen hören, und habe gezählt, und habe gleich darauf nach meiner Uhr gesehn; da war es eine halbe Minute auf eilfe.
Charitas
Nach Ihrer Uhr haben Sie gesehn?
Codex
Ja, nach meiner Uhr. Sie denken etwa, ich habe keine, weil ich kein ellenlanges Zeichen für die Beutelschneider heraushängen lasse.(zieht sie heraus)
Da! sehn Sie selber nach.
Charitas
Kann Ihre Uhr nicht unrichtig gehn?
Codex
Nein, niemals, niemals.
Charitas
Nun wohl! ich sehe; und sehe, daß es nach Ihrer Uhr fünf und fünfzig Minuten auf neune ist.
Codex
Was? wie?
Charitas
Sehn Sie nur.
Codex
(sieht)
Das kann nicht seyn — — Sie werden wohl machen, daß ich meine Brille noch hervorsuchen muß.(setzt sie auf und besieht die Uhr.)
Charitas
Was sagen Sie nun?
Codex
Meine Uhr geht unrecht. Genug, es hat zehne geschlagen; ich habe gezählt.
Charitas
Von wem haben Sie Ihre Uhr?
Codex
Ich mag sie haben, von wem ich will; es ist eine gute englische Uhr.
Charitas
Wenn Sie sie für eine englische gekauft haben, so sind Sie sehr betrogen worden.
Codex
Betrogen? Wie so?
Charitas
Eine Uhr, die so falsch geht — —
Codex
Falsch? Es ist eine der allerrichtigsten Uhren.
Charitas
Wenn sie richtig wäre, so würde sie nicht um mehr als eine Stunde zu spät gehen.
Codex
Sie geht nie zu spät.
Charitas
Sie zeigt aber auf neune, und es hat zehne geschlagen.
Codex
Meine Uhr geht untrüglich.
Charitas
Ganz gewiß untrüglich? — Also, wie ich gesagt habe, ist es noch nicht neune.
Codex
Sie sind sehr naseweis, Mamsell. Kurz, meine Uhr geht richtig, und es hat zehne geschlagen — Wollen Sie sich an-ziehen, Herr Wilibald, oder soll ich wieder gehen?
Wilibald
Erzürnen Sie sich nur nicht, Herr Codex. Ja, ich gehe, und ziehe mich gleich an.(ab)
Codex
Mir mein Gehör abzustreiten!
Wilibald
(kehrt wieder um und sagt sachte zum Codex)
Aber, Herr Codex, Sie bleiben jetzt mit meiner Tochter allein; reden Sie ja nicht mit ihr von dem Prozesse.
Codex
Gehn sie doch nur.(Wilibald geht)
Als wenn ich nicht zehne zählen könnte!
Wilibald
(wie vorher)
Sagen Sie ihr ja nicht, was den Proceß betrift.
Codex
Nein doch! — Meine Uhr für einen elenden Bratenwender zu halten!
Wilibald
(der nochmals umkehrt)
Daß sie ja nicht den Anlaß erfährt.
Codex
Herr, für was sehn Sie mich an? Gehen Sie, oder — — Mich für einen Mann zu halten, den man mit einer Uhr betrügen könnte! — —
Wilibald
(wie vorher)
Meine Ehre und mein ganzes väterliches Ansehn beruht darauf, daß sie nichts davon erfährt — Kommen Sie lieber mit, damit Sie sich nicht verschnappen.
Codex
Ich mich verschnappen? Welch eine Beleidigung! Gehn Sie den Augenblick, oder ich gehe.(Wilibald ab.)