Text

Ajax des Sophokles
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Fragment einer Uebersetzung vom

Ajax des Sophokles.

Erster Aufzug.

Erster Auftritt.

Minerva

Wie ich dich schon oft, Sohn des Laertes, dem Feinde den Vortheil abzujagen schlau bemüht erblickte; so erblicke ich dich auch jetzt, hier unter den Schifsgezelten des Ajax, am äußersten ihm anvertrauten Ende des Lagers. Du spähst, und spürst, und zählst, und missest alle seine frischen Tritte, um zu wissen, ob er drinnen, oder nicht drinnen ist. Wie wohl leitet dich gleichsam der untrügliche Geruch des lakonischen Windspiels! Er ist wieder drinnen, der Mann! Schweiß rinnt ihm von dem
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Antlitze, und Blut von den mörderischen Händen. Was siehest du noch so scharf nach dieser Thür? Du darfst mir nur sagen, warum du dir diese Mühe giebst; und du kannst von mir alles erfahren.

Ulysses

O Stimme Minervens, mir wertheste unter den Göttern! Denn nur allzuwohl, ob du gleich unsichtbar bist, kenne ich deine Stimme; und mein Geist ist bekannter mit ihr, als mit dem ehernen Klange der tyrrhenischen Trommete! Wie solltest du es nicht wissen, daß ich dieses feindseligen Mannes, des Ajax wegen, mich hier herumtreibe? Ihm, und keinem andern, suche ich auf die Spur zu kommen. Er hat uns diese Nacht eine That verübet, deren sich kein Mensch vermuthet hätte; wenn er sie anders verübt hat. Denn noch wissen wir nichts gewisses; wir vermuthen es nur; und freiwillig habe ich mich selbst der weitern Nachforschung unterzogen. Es findet sich alles unser Beutevieh schändlich zugerichtet, und samt den Hütern erwürgt. Jedermann glaubt ihm die Schuld beimessen zu dürfen; und eine Wache hat ausgesagt, sie habe ihn ganz allein mit bluttriefendem Schwerte über das Feld laufen sehen. Sogleich
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machte ich mich auf; und die Fußstapfen, die ich hier erblicke, bestärken mich zum Theil; zum Theil verwirren sie mich auch: ich kann nicht begreifen, wessen Fußstapfen es sind 1 — Aber du kommst! und wie erwünscht! Deiner leitenden Hand, der ich mich immer überließ, überlaß' ich mich noch.

Minerva

Das weiß ich, Ulysses. Ich hielt dein Spähen genehm, und ging dir sogleich entgegen.

Ulysses

Gütigste Göttin! so ist sie nicht vergebens, meine Mühe?

Minerva

Er ist der Thäter! Er ist es!

Ulysses

Und was hat ihn zu so etwas Widersinnigem vermögen können?

Minerva

Der wütende Zorn über die ihm abgesprochnen Waffen des Achilles.

Ulysses

Aber die Heerde — warum fiel er über die her?

Minerva

Er glaubte seine Hände mit eurem Blut zu färben.

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Ulysses

Und also galt es den Griechen?

Minerva

Sie würden es aucl, <auch> empfunden haben, wenn ich nicht gewesen wäre!

Ulysses

Welche Verwegenheit! welche Tollkühnheit!

Minerva

Es war Nacht; er war allein, und ging als ein Meuchelmörder auf euch los.

Ulysses

Wie weit, wie nahe, kam er denn dem Ziele?

Minerva

Schon nahte er sich den Zelten beider Feldherren.

Ulysses

Und was hielt da seine rasende Faust?

Minerva

Ich! — Ich störte ihm diese grausame Freude. Mit täuschenden Bildern füllte ich sein Auge, und wandte ihn gegen die vermischten Heerden, gegen die Hüter des sämtlichen Beuteviehs. Welch ein Metzeln! Alles hieb er um sich in Stücke. Bald glaubte er, beide Atriden mit eigner Hand zu morden; bald gegen einen andern Heerführer zu wüten. Denn ich reizte den Wahnwitzi gen, und ließ die grausamste der Erynnen gegen den Tobenden los.


1Δια την μανιαν, sagt der Scholiast sehr wohl, δυιχνευτος ϰαι ἐπιτετααγμενη ἡ βασις γεγονε τȣ Αιαντος. Der Gang eines Rasenden nämlich ist so verwirrt, daß man aus seinen Tritten nicht klug werden kann.

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