Tancred und Sigismunda.
Ein Trauerspiel.
Erster Aufzug.
Erster Auftritt.
Sigismunda. Laura.
Sigismunda
Verhängnißvoller Tag für Sicilien! So nähert sich der König seinen letzten Augenblicken?
Laura
Das fürchtet man.
Sigismunda
Der Tod Derer, die ihr Stand, noch mehr aber ihre Tugend erhebet, erwecket die Seele zu feierlicher Trauer und erschüttert mit banger Furcht; nicht daß wir für sie zitterten, sondern für uns selbst, die wir uns in den Mühseligkeiten des Lebens zurückgelassen sehen. — Und doch werden die Besten von den gaukelnden Kindern dieser Welt auf einmal vergessen, als wären sie nimmer gewesen. Man sagt, Laura, das Herz werde dann und wann von einer prophetischen Traurigkeit überfallen. Von dieser Art, däucht mich, [ist] sei die meinige. Des Königs herannahender Tod erregt mir tausendfache Furcht. Was für Unruhen werden mehr als jemals den Staat verwirren! Was für plötzliche Veränderungen können in dem Hause meines Vaters entstehen und mich von meinem theuersten Tancred trennen! Mich schauert für diesen Gedanken!
Laura
Wie verkehrt geschäftig, [ist] sich selbst zu quälen, ist die Einbildung, wenn Liebe sie krank macht! Doch glaube gewiß, Deines Vaters unwandelbare Freundschaft mit Hülfe eines gewissen, dem Glücke mehr gebietenden als dienenden Schutzgeistes wird hier [in dem Aug] im Angesichte Siciliens ihn unterstützen und über ihn wachen. Ueber ihn [den edeln Tancred], diesen — so kann ich ihn wohl nennen — seinen angenommenen Sohn, den edeln Tancred, gebildet nach allen seinen Tugenden —
Sigismunda
Und ach, gebildet, seine Tochter zu bezaubern! — Ihn lockte dieser schöne Morgen auf die Jagd. Sage mir, ist er noch nicht wieder zurück?
Laura
Nein. — Als Dein Vater eiligst zu dem nun sterbenden Könige gerufen ward, sandte er auf alle Wege Boten nach ihm aus, und das mit solcher Hitze und Ungeduld, als ob dieser nahe Vorfall für den Grafen Tancred von weit mehr Wichtigkeit sei, als ich begreife [begreifen kann].
Sigismunda
Es liegt, Laura, auf der Geburt meines Tancred's eine [Wolke, die ich nicht zu durchdringen vermag [durchdringen kann]] für mich undurchdringliche Wolke. Mein Vater erzog mit fürstlichen Lehren [und mit Ehrerbietung, die, wie ich oft bemerket, gegen meinen Vater seine Jugend] und mit Ehrerbietung, die, wie ich oft bemerket, seine Mienen nicht selten mit Unterthänigkeit überraschte, den Jüngling in den Wäldern von Belmont. — Ach, Ihr Wälder, wo meine Brust, die keine Verstellung kannte, zuerst die Seufzer der Liebe lernte! [Da habe ich oft bemerkt] Er gab ihn für den Sohn eines [seines] alten Freundes, Barons von Apulien, aus, dessen Tapferkeit in dem letzten Kreuzzuge ihr Ziel gefunden habe. Aber was das Seltsamste ist: sind denn Alle von seinem Geschlechte sowohl als sein Vater gestorben? alle seine Freunde, ausgenommen der rechtschaffne, großmüthige Siffredi?1So steht auch in
der Theatral. Bibl. Im englischen Original und in der prosaischen
Uebersetzung des Thomson, welche 1756 mit Lessing's Vorrede erschien,
heißt er Siffredi, desgleichen im Gil Blas. Es
ist unser deutscher Name Siegfried.