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Tancred und Sigismunda
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( Als Lessing in seiner Theatralischen Bibliothek das Leben des Herrn Jakob Thomson im Jahre 1754 veröffentlichte, sagte er darin unter Anderm (Werke, Th. XI. 1. Abth. S. 248): Im Jahr 1744 ward sein Tancred und Sigismunda aufgeführt, welches Stück glücklicher ausfiel als alle andre Stücke des Thomson's und noch itzt gespielet wird. Die Anlage dazu ist von einer Begebenheit in dem bekannten Roman des Gil Blas ([von Lesage]) geborgt. Die Fabel ist ungemein anmuthig; der Charaktere sind wenige, aber sie werden alle sehr wirksam vorgestellt. Nur den Charakter des Seffredi1 hat man mit Recht als mit sich selbst streitend, als gezwungen und unnatürlich getadelt. Auf den Gil Blas als die Quelle des Thomson'schen Trauerspiels kommt er noch einmal in dem Tagebuch der italienischen Reise 1775 zurück (Th. XIX. uns. Ausg.): Ein Graf Vincenzo Manzoli del Monte hat in Modena eine Tragödie 1771, Bianca et Enrico, drucken lassen, welche das nämliche Süjet ist, das Saurin und Thomson und Calini bearbeitet haben und eigentlich aus dem Gil Blas genommen ist. Die beiden italienischen Stücke gehen dem französischen des Saurin zu viel nach. Die Episode aus dem Gil Blas heißt Le mariage de vengeance. - Sie ist eingeschoben in die Erzählung von Ludwig und Aurora, die
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Lessing dramatisch zu bearbeiten versuchte. Vgl. unten Nr. 37. In der Dresdner Ausgabe von 1798 steht sie Bd. II. S. 26-65, Cap. 4. - Von dem Vorwurfe, sagt dann Lessing in dem obigen Aufsatze über Thomson später (S. 249), daß die Handlung während der langen Gespräche stille stehe und die Geschichte matt werde, sei nur Tancred und Sigismunde ausgenommen; dafür aber sind auch die Charaktere darinne nicht genug unterschieden, welche sich fast durchgängig auf einerlei Art ausdrücken. Als er 1756 die Vorrede zu der Uebersetzung von Thomson's Trauerspielen schrieb, äußerte er, er wolle sich hier eine Materie nicht vorwegnehmen oder wenigstens verstümmeln, die er nach aller möglichen Ausdehnung zu einer Fortsetzung jener Nachrichten in der Theatralischen Bibliothek bestimmt habe (vgl. Werke, Th. XI. 1. Abth. S. 855). Diese Fortsetzung ist jedoch nie erschienen. )

Tancred und Sigismunda.

Ein Trauerspiel.

Erster Aufzug.

Erster Auftritt.

Sigismunda. Laura.

Sigismunda

Verhängnißvoller Tag für Sicilien! So nähert sich der König seinen letzten Augenblicken?

Laura

Das fürchtet man.

Sigismunda

Der Tod Derer, die ihr Stand, noch mehr aber ihre Tugend erhebet, erwecket die Seele zu feierlicher Trauer und erschüttert mit banger Furcht; nicht daß wir für sie zitterten, sondern für uns selbst, die wir uns in den Mühseligkeiten des Lebens zurückgelassen sehen. — Und doch werden die Besten von den gaukelnden Kindern dieser Welt auf einmal vergessen, als wären sie nimmer gewesen. Man sagt, Laura, das Herz werde dann und wann von einer prophetischen Traurigkeit überfallen. Von dieser Art, däucht mich, [ist] sei die meinige. Des Königs herannahender Tod erregt
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mir tausendfache Furcht. Was für Unruhen werden mehr als jemals den Staat verwirren! Was für plötzliche Veränderungen können in dem Hause meines Vaters entstehen und mich von meinem theuersten Tancred trennen! Mich schauert für diesen Gedanken!

Laura

Wie verkehrt geschäftig, [ist] sich selbst zu quälen, ist die Einbildung, wenn Liebe sie krank macht! Doch glaube gewiß, Deines Vaters unwandelbare Freundschaft mit Hülfe eines gewissen, dem Glücke mehr gebietenden als dienenden Schutzgeistes wird hier [in dem Aug] im Angesichte Siciliens ihn unterstützen und über ihn wachen. Ueber ihn [den edeln Tancred], diesen — so kann ich ihn wohl nennen — seinen angenommenen Sohn, den edeln Tancred, gebildet nach allen seinen Tugenden —

Sigismunda

Und ach, gebildet, seine Tochter zu bezaubern! — Ihn lockte dieser schöne Morgen auf die Jagd. Sage mir, ist er noch nicht wieder zurück?

Laura

Nein. — Als Dein Vater eiligst zu dem nun sterbenden Könige gerufen ward, sandte er auf alle Wege Boten nach ihm aus, und das mit solcher Hitze und Ungeduld, als ob dieser nahe Vorfall für den Grafen Tancred von weit mehr Wichtigkeit sei, als ich begreife [begreifen kann].

Sigismunda

Es liegt, Laura, auf der Geburt meines Tancred's eine [Wolke, die ich nicht zu durchdringen vermag [durchdringen kann]] für mich undurchdringliche Wolke. Mein Vater erzog mit fürstlichen Lehren [und mit Ehrerbietung, die, wie ich oft bemerket, gegen meinen Vater seine Jugend] und mit Ehrerbietung, die, wie ich oft bemerket, seine Mienen nicht selten mit Unterthänigkeit überraschte, den Jüngling in den Wäldern von Belmont. — Ach, Ihr Wälder, wo meine Brust, die keine Verstellung kannte, zuerst die Seufzer der Liebe lernte! [Da habe ich oft bemerkt] Er gab ihn für den Sohn eines [seines] alten Freundes, Barons von Apulien, aus, dessen Tapferkeit in dem letzten Kreuzzuge ihr Ziel gefunden habe. Aber was das Seltsamste ist: sind denn Alle von seinem Geschlechte sowohl als sein Vater gestorben? alle seine Freunde, ausgenommen der rechtschaffne, großmüthige Siffredi?


1So steht auch in der Theatral. Bibl. Im englischen Original und in der prosaischen Uebersetzung des Thomson, welche 1756 mit Lessing's Vorrede erschien, heißt er Siffredi, desgleichen im Gil Blas. Es ist unser deutscher Name Siegfried.

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