Einführung

Anonym: Neu-eröffneter kleiner Schau-Platz
Flemming Schock

1. Titel1
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Neu-eröffneter kleiner Schau-Platz, Denckwürdiger Begebenheiten, Wie auch mehrentheils trauriger Geschichten und Unglücks-Fälle; Darinnen Das Steigen uud Fallen einiger grosser Herren auf dem Theatro dieser Welt zu lesen und zu ersehen. Aus verschiedenen Scribenten zusammen gezogen, und denen Liebhabern von solchen Begebenheiten, zum besten in Druck gegeben. Augspurg/ Zufinden bey Andreas Brinhaußer, Stadtbuchd. Anno 1772. Augsburg: Andreas Brinhaußer, 1772. - Titelblatt (Kupfertafel) Frontispiz, 348 pag. S., 8°. [opac ↗230821685] [vd18 ↗12955035-001]

2. Verfasser
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Der Neu-eröffnete kleine Schau-Platz wurde anonym publiziert.

3. Publikation
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3.1. Erstdruck
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Erschien 1731 zunächst allein in wöchentlichem Veröffentlichungsrhythmus bei Wagner in Augsburg. 1749 (bei Beinhauser) und 1772 (Andreas Brinhaußer) wurden inhaltlich offensichtlich unveränderte (jeweils auch 348 Seiten lange) Neuausgaben publiziert, die auf einen gewissen Erfolg des Werks schließen lassen.


Standorte des Erstdrucks

3.2. Digitale Ausgabe
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4. Inhalt
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Der verhältnismäßig kurze Neu-eröffnete kleine Schau-Platz (lediglich 348 Seiten) enthält ein Korpus von siebenunddreißig Denckwürdigen Begebenheiten. Kompiliert hat der anonyme Herausgeber sein Material weniger aus aktuellen, ‚zeitnahen‘ Quellen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, sondern vor allem solchen des 16. und 17. Jahrhunderts. Die Montage der knappen, überwiegend weniger als zehn Seiten langen Fallgeschichten macht einen flüchtigen und beliebigen Eindruck – der Kompilator hält sich inhaltlich weder an eine chronologische noch geographische Ordnung. Im Mittelpunkt stehen überwiegend populäre, das heißt europaweit geläufige politische und mediale ‚Schlüsselereignisse‘ wie die Hinrichtung prominenter Verräter sowie der Fall und Tod bekannter Heroen und Aufständischer und nicht zuletzt deren verblüffende biographische Karrieren – und ihr jähes Ende.

Inhaltlich ähnelt der Neu-eröffnete kleine Schau-Platz deutlich anderen historischen Exempel-Theatra wie Die Schau-Bühne der Rebellionen und Auffrühren (1706). Die Kapitelüberschriften lauten im Einzelnen: „Enthauptung Carl Stuarts, Königs von Engelland“ (S. 5-16); „Cromwells Leben und Tod“ (S. 17-24); „Cronwells und dessen Adhärenten todte Leichname werden in London justificirt“ (S. 24-26); „Die Execution des Englischen Marggrafen von Montros“ (S. 26-29); „Von grausamer Ermordung zweyer Frantzösischer Könige“ (S. 29-38); „Der Hertzog von Friedland und etliche andere Obristen und Officier werden zu Eger umgebracht“ (S. 38-42); „Fahrensbach wurde zu Regensburg enthauptet“ (S. 42-45); „Der im Steigen gefallene Graf von Greiffenfeld“ (S. 45-56); „Hinrichtung des Hertzogen Montmorency und des von Biron“ (S. 57-67); „Execution des Herrn de la Thou“ (S. 67-72); „Der durch seinen Eigensinn und Hochmuth enthalßte Englische Graf von Essex“ (S. 72-85); „Der erschröckliche Fall der zweyen Brüder, Cornelii und Johann de Witt“ (S. 85-100); „Gustaphus Adolphus, König in Schweden kommt um“ (S. 100-109); „Der unglückliche Hof-Mann“ (S. 109-124); „Von Johann Reinhold Patkuls Begebenheiten und Tod“ (S. 124-142); „Der unglückliche Hertzog von Monmouth“ (S. 142-157); „Serini/ Nadasti und Frangipani werden wegen Ubelthaten enthauptet“ (S. 157-164); „Der Baron Görtz wurd in Schweden justificirt“ (S. 164-174); „Der Schändliche Untergang des Neapolitanischen Rebellens Mas’Aniello“ (S. 174-191); „Der erhöhete und gestürtzte Fürst von Menzikoff“ (S. 191-226); „Thomas Morus, Cantzler in Engelland, wird enthauptet“ (S. 226-234); „Der jämmerlich hingerichtete Ladislaus“ (S. 234-245); „Der in einem Duell gefällte Dänische Vice-Admiral Tordenschild“ (S. 245-251); „Der auf eine grausame Weise exekutirte Marquis Mondeschi“ (S. 251-262); „Graf Lucis della Torre und Nicola Strasoldo werden zu Gradica enthauptet“ (S. 262-263); „Scharffe Execution an dem Cantzler von Wolffrath, und geheimen Secretario Scharf“ (S. 263-267); „Der Baron von Pudliz wird in einem Duell erschossen“ (S. 267-271); „Die jämmerliche Ermordung des Herrn Hamms, Holländischen Legations-Secretarii am Spanischen Hof“ (S. 271-272); „Der unglückliche Staats-Minister von Ulefeld“ (S. 272-282); „Der erhobene und gestürtzte Graf Oliva“ (S. 282-287); „Der elendig hingerichtete Hertzog von Buchingam“ (S. 287-291); „Die Königliche Rache“ (S. 291-293); „Die gestürtzte Land-Verderber“ (S. 293-306); „Graf Niclas Serini, der ältere, stirbt als ein tapfferer Held“ (S. 306-323); „Der im Duell gebliebene Graf von Vitzthum“ (S. 323-326); „Der tyrannische Wütterich“ (S. 326-337); „Das abscheuliche Mord-Essen“ (S. 337-340); „Der unglückseelige Neapolitaner“ (S. 340-342); „Das durch voll-sauffen verursachte Unglück“ (S. 342-344); „Die durch Tantzen verursachte Unglücks-Fälle“ (S. 344-348). Ein Register beschließt den Band.

5. Kontext und Klassifizierung
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Für die vorliegende Textsammlung lassen sich zwei Entstehungskontexte bzw. Einflusslinien benennen; der erste ist gattungsspezifisch, der zweite medial: Allgemein zeigt sich der ab 1731 zuerst periodisch publizierte Neu-eröffnete kleine Schau-Platz durch seinen Inhalt und moralisierenden Zuschnitt als ein später Vertreter der besonders im Barock seriell produzierten, höchst populären Prosa- und Denkwürdigkeiten-Sammlungen, genauer: der ‚tragischen Erzählungen‘ (dazu Meid, S. 747ff.). Maßgeblich und geradezu gattungsbildend waren Les histoires tragiques de nostre temps, ou sont descrites les morts funestes, déplorables & desastreuses (1614) von François de Rosset, die besonders in späteren deutschen Übersetzungen, Bearbeitungen und Fortsetzungen auch auf mehrere, teils intensiv rezipierte Texte des Theatrum-Korpus größten Einfluss ausübten. So firmierte die von Martin Zeiller erstmals 1624 besorgte deutsche Übersetzung der Histoires tragiques seit 1628 unter dem Obertitel Theatrum Tragicum. Noch bedeutender für den deutschen Rezeptionskontext war dann Georg Philipp Harsdörffers Grosser Schau-Platz jämerlicher Mordgeschichte (1650-52), der neben Rosset vor allem auf Jean Pierre Camus L'Amphitheatre Sanglant (1630) zurückging (dazu Zeller) und zahllosen späteren Kompilatoren wiederum als textlicher Steinbruch für die ‚Wandergeschichten‘ dieses Typus diente. Die titelgebenden Mord-Geschichten bei Harsdörffer weisen bereits das Charakteristikum all dieser Erzählsammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts – und auch des vorliegenden Neu-eröffneten kleinen Schau-Platzes – bereits deutlich auf: Die Aufmerksamkeit der überwiegend kurz gehaltenen Episoden gilt zuvorderst möglichst sensationellen, vermeintlich nichtfiktionalen Stoffen der ‚Zeitgeschichte‘, vor allem in allen grausigen Details goutierten Hinrichtungen, „Scharffe[n] Execution[en]“ (S. 263), tödlichen Duellen, Anschlägen und „jämmerliche[n] Ermordung[en]“ (S. 271), die durch moralisierende Einlassungen gerahmt und kommentiert werden. Sie sollen vor allem die Affekte des Publikums rühren und von „exempelhafter Erbaulichkeit“ (Meid, S. 747) sein. Auch der vorliegende Text betont in diesem Sinne immer wieder, dass er vielerlei „Materie von traurigen Begebenheiten“ (S. 109) zur Verfügung stelle. In dieser Funktion waren die frühen Kriminal- und Fallgeschichten (dazu Breuer) fraglos prädestiniert, als ideale Stoffe für menschliche Dramen auf einer ‚papiernen Schaubühne‘ zu fungieren. Was vor allem als faszinierend erlebt wird, ist der schnelle Wandel des menschlichen Schicksals, das Wechselspiel von Glück und Unglück. So heißt es in der rahmenden Erklärung zur Geschichte des „Marggrafen von Montros“: „Das ist gewesen das jämmerlich Ende des Tapffern und bey vielen sehr beliebten Marggrafen von Montros, darinnen das wandelbare Glück zur Betrachtung vorgestellet worden“ (S. 28) und andernorts über jähen Aufstieg und Fall: „Daß viele aus dem Staube verächtliche Niedrigkeit zum Glantze grosser Dignitäten und Würden gelangen, will offt viele in nicht geringe Verwunderung setzen; Noch mehr Admirition und Verwunderung aber kan dieses erregen, daß dergleichen erhöhete oder in ihrem besten Steigen seyende Personen, offt in ihrem Moment und Augenblick von dem Ehren-Gipffel herunter gestürtzt […] werden“ (S. 45). Im individuellen Niedergang liegt nicht selten allerdings auch Trost – so heißt es eingangs im Abschnitt über „Die gestürtzte Land-Verderber“: „Es bezeigen viele Exempel, und gibt es auch die Erfahrung, daß diejenige, welche die armen Leuthe grausamer Weise mit allerhand unerträglichen Bürden und Auflagen beschweren, gemeiniglich ein jämmerliches Ende nehmen […]“ (S. 293).

Die dramatisch-moralisierenden Qualitäten der Erzählstoffe garantierten jedoch durch ihren sensationellen ‚Schauwert‘ stets auch erhebliches Unterhaltungspotential und setzten das zeitgenössisch dominante Wirkungsprinzip vom prodesse et delectare beispielhaft um. Auf die Unterhaltungsintention („Recreations-Stunden“) hebt bereits die knappe Vorrede des vorliegenden Werks ab. Gewendet „An den günstigen Leser!“ erklärt der Autor unter Rückgriff auf die in der Kompilationsliteratur beliebte Metapher der Blütenlese die konzeptionelle Anlage, Programmatik und Funktion seiner Sammlung: „Im gegenwärtigen Schau-Platz werden verschiedene sonder- und wunderbahre Historien angeführet, welche gleichsam aus vielen Gärten von mancherley Blumen und Pflantzen gesammlet/ einen schönen Krantz ausmachen, welcher mit allerhand nachdencklichen Exempeln gezieret, um damit den geneigten Leser zu vergnügen. Man hat aber fürnemlich dahin gesehen, wie man solche Erzehlungen vorstellen möchte, welche sonderbar glaubwürdig und nicht allzu weitläufftig, auch auf den Nutzen des Gemüths gerichtet dadurch dasselbe in erlaubten Recreations-Stunden den Leser zu belustigen und aufzumuntern“ (Vorrede, unpag.).

In einem anschließenden Appell bringt der Autor in ungewöhnlich expliziter und anschaulicher Weise die Metaphern von Welt- und Buchtheater zur Deckung – reale und papierne Bühnen zeigten beide vor allem das stete Auf und Ab menschlicher Geschicke, sie bilden gemeinsam das Konzept einer ‚ewigen Schaubühne‘. So soll mit den gesammelten „Exempel und Gesichten, der Nachwelt eine Anleitung […] gegeben werden, mit geflissener Aufmercksamkeit dahin zu gedencken, was auf dem Schau-Platz dieser Welt das Glück vor Traur- und Freuden-Spiel angerichtet, wie wunderlich es die Personen und Veränderungen ausgetheilet; Sintemahlen das Papier und die Bücher an sich selbsten nichts anders sind, als lauter stumm-redende Schau-Bühnen, darauf nach der allweisen Fürsehung Gottes diejenige, so allbereit zu Staub und Aschen worden, dann zu immerwährendem Lob oder Tadel, mit ihrem Wohl- oder Ubel-verhalten wiederum von neuem auf den Schau-Platz geführet, und den Nachkommenden zu einem Spiegel gegeben werden […] damit ein jeder tugendhaffter Leuthe Beyspiel nachfolge […]“ (Vorrede, [S. 4]). Als konkrete Verwendungszusammenhänge der relativ knappen und teils kontextlosen Anekdoten und Exempla sind Gesprächssituationen im Rahmen kollektiver Lektüre oder das kompilatorische ‚Recycling‘ für Argumentationen anderer Texte denkbar.

Neben der Tragica- und Exemplaliteratur ist als zweite Einflusslinie des Neu-eröffneten kleinen Schau-Platzes, wie bereits erwähnt, der mediale Kontext namhaft zu machen. Hier ist bemerkenswert, dass das vorliegende Werk – zumindest zeitweise – im Verlauf seiner Publikationsgeschichte zwischen den zeitgenössischen Medien changierte und ab 1731 in Augsburg für einen kurzen Zeitraum in wöchentlicher Folge veröffentlicht wurde. Zufall war dies nicht: Um 1700 wurde verschiedentlich erprobt, ob sich in klassischer Buchform etablierte Sammlungstexte und Textsammlungen erfolgreich in periodische Publikationszyklen übertragen ließen. Dabei zeigt sich die Nähe zur Publizistik und Nachrichtenpresse nicht nur formal: Auch inhaltlich bezieht der Neu-eröffnete kleine Schau-Platz seine ‚traurigen Materien‘ zum Teil aus der wichtigsten Nachrichtenchronik des 17. Jahrhunderts, dem Theatrum Europaeum (1633-1738). Insofern zeigen sich auch hier die nicht seltenen intertextuellen Zusammenhänge innerhalb des Theatrum-Korpus. Der Neu-eröffnete kleine Schau-Platz bringt immer wieder Extrakte aus dem wesentlich umfangreicheren – und wesentlich kostenintensiveren Sammelwerk Matthäus Merians. Die Passagen sind dabei nicht wortgetreu abgeschrieben, wie der Vergleich zeigt: So konstatiert der englische König Karl I. (1649) vor seiner Hinrichtung: „Ich gehe (antwortete der König) von einer vergänglichen zu einer ewigen Crone, da keine weltliche Bekümmernussen seyn“ (Neu-eröffneter kleiner Schau-Platz, S. 15). Im Theatrum Europaeum hingegen heißt es: „Ich gehe von einer vergänglichen/ zu einer unvergänglichen Cron/ wo gar keine Verwirrung seyn“ (Band 6, S. 838). Den Auszügen aus dem Theatrum Europaeum lag ein in der Kompilationsliteratur verbreitetes kommerzielles Motiv zugrunde – die kostengünstige Verfügbarmachung von Inhalten aus weit teureren, repräsentativen Prachtwerken, welche der ökonomischen Elite vorbehalten blieben. So kommt es dazu, dass nicht nur die typischen, zahllose Male reproduzierten Fallgeschichten auftauchen sondern auch politische Dokumente, Urteile etc., die den dokumentarischen Anspruch der Sammlung noch unterstreichen.

Allerdings versammelt der Neu-eröffnete kleine Schau-Platz auch Texte aus anderen älteren, jedoch nicht minder populären Quellen als dem Theatrum Europaeum; so etwa aus der „spannende[n] und kritische[n] französische[n] Geschichte“ (Schenda, S. 538) Jacques Auguste de Thous, den Historiae sui temporis, die seit 1621 auf Deutsch vorlagen (Jacob Augusti Thuani Historische Beschreibung derer Namhafftigsten, Geistlichen und Weltlichen Geschichten […], Frankfurt 1621/22) oder aber aus ‚barocken Longsellern‘ wie der Orientalischen Reise (ab 1647) von Adam Olearius (etwa auf S. 335) oder den Sendschreiben (ab 1640) Martin Zeillers (S. 347). Im Ganzen belegt der Neu-eröffnete kleine Schau-Platz die Quellen seines Schreibens jedoch nur beliebig und lückenhaft.

6. Bibliographische Nachweise und Forschungsliteratur
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1Der formalen und inhaltlichen Beschreibung liegt die Ausgabe von 1772 zugrunde.
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