Einführung

Henning Johannes Gerdes: Theatrum Fati Svetici
Stefan Laube

1. Titel
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Theatrum Fati Svetici, Schauplatz des Schwedischen Schicksals, Nebenst ausfürlicher/ Theologischen und Moralischen Abhandlung Der gantzen Materie vom Fato oder Verhängniß und Denen dahin gehörenden und vorkommenden Sachen/ Zur Gottseligkeit geöffnet und erwogen Als in der Kette einer Rede/ von Henning Johann Gerdes, der heil. Schrifft Doctorn und der Wißmarischen Kirchen Superintendenten. Wißmar und Straalsund/ Im Verlag Samuel Gottlieb Lochmanns, Buchhändlers. Gedruckt bey Johann Zander/ 1725. Wismar, Stralsund: Samuel Gottlieb Lochmann, 1725. - Titelblatt (Kupfertafel), pag. 984 S.; ein Porträtstich; 4°. [opac ↗151907706]

2. Verfasser
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Henning Johann Gerdes (1659-1728) wirkte nach seinem mit Promotion abgeschlossenen Studium der Theologie als Pfarrer von St. Nikolai in Wismar, wo er auch zum Superintendenten aufsteigen sollte. In einer Zeit, als seine Heimat zum Königreich Schweden gehörte, machte er sich einen Namen durch zeitgeschichtliche Abhandlungen, in deren Zentrum der nördliche Nachbar stand. 1693 verfasste er mit Das fröliche Jubel im Norden eine Jubiläumsschrift zum 100. Jahrestag der endgültigen Einführung der lutherischen Lehre in Schweden. 1725 stellte er sich in seinem Theatrum Fati Svetici die Frage, inwiefern die jüngste schwedische Geschichte als schicksalsgesteuert interpretiert werden könne. 1741 gab er D. Zachariä Creutzthals Betrachtungen über die Verhängnisse des Königreichs Schweden heraus.

3. Publikation
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3.1. Erstdruck
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1725 beim Verleger und Buchhändler Samuel Gottlieb Lochmann erschienen, gedruckt bei Johann Zander (Wismar/Stralsund).


Standorte des Erstdrucks

3.2. Weitere Ausgaben
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3.2.1. Digitale Ausgabe
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4. Inhalt
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Gerdes interessiert sich in seinem Theatrum Fati Svetici für die Frage, wie man der Providenz Gottes auf die Spur kommen, wie die Kategorie des Fatums christlich-theologisch gedeutet werden könne. Im Buch geht es um Kontingenzbewältigung, indem der Autor eine „Bühne des Göttl. Schicksaals“ entfaltet (S. 33). Sich dem philosophischen Spannungsfeld von freiem Willen und göttlicher Vorsehung aussetzend, ist sein Thema der Fatalismus der Menschen angesichts von Krieg und Katastrophen, wie sie wenige Jahre vor Erscheinen des Buches noch eine Pestwelle in Stralsund zeitigte. Erwachsen ist die Textmasse aus thematischen Predigten, die Gerdes zur Schicksalskategorie gehalten hat. Im Widmungstext, der sich an die schwedische Königin Ulrica Eleonora richtet, sagt der Autor zur Entstehungsgeschichte: „Nur selten wird vom Fato gepredigt/ viele meiner Zuhörer wünscheten zu besserm Unterricht gedrucket zu lesen/ was von ihnen vielleicht nicht recht möchte bewahret seyn: Aus anhaltendem Verlangen entstund ein Trieb/ die Feder zu ergreiffen/ welche bereits von vielen alten und modernen mit ungleichem succes, meines wissens doch von keinem Theologo unsrer Kirchen Systematischer weise annoch geführet werden. Der Vorsatz blieb doch/ es sollte bloß die gehaltene Predigt in etwas amplificiret seyn.“ (Dedikation, unpag.) Die aus erweiterten Predigten bestehende Abhandlung sollte immer mehr anschwellen, so dass Gerdes am Ende bereute, kein herkömmliches Buch mit einem nach Kapiteln gegliederten Inhalt geschrieben zu haben: „die Nothwendigkeit aber/ zur Form und Wesen des Fati gehörend/ überwältigte mich zu zeitig/ dass im oratorischen Schreiben/ als predigte ich/ continuiren muste/ worüber dieses Buch/ und zugleich eine längere Predigt geworden.“ (Dedikation, unpag.)

Das Theatrum Fati Svetici ist also im oratischen Stil einer längeren Predigt verfasst. Sein Inhalt lässt sich nur schwer erschließen, da es auf seinen 914 Seiten über keine Kapitel und inhaltliche Abschnitte verfügt, selbst Absätze fehlen weitgehend. An den Rändern des sperrigen Textes sind immerhin Quellenangaben abgedruckt. Erst das alphabetische Register am Ende macht es möglich, das Buch sinnvoll zu nutzen. Darüber hinaus bittet Gerdes die Königin und damit auch den Leser, „zuvörderst die Endes-befindliche-zergliederte Kette zu perlustriren/ welche eine Idee von dem gantzen Wercke giebet/ und darnechst dessen Lecture.“ (ebd.) Damit ist eine ausführliche Schlagwortliste gemeint, die sich an der Reihenfolge der im Buch behandelten Themen orientiert. Sie sollte dienen „als eine Charte denen/ die ein land in seiner eigentlichen Lage/ Gräntzen und Bezirck zu kennen begierig sind“. (ebd.) So beschäftigen sich die ersten neun Seiten damit, dass Gott als Bringer des Friedens zu loben sei, denn dort, wo Krieg, d.h. Gottes Strafe ist, da herrsche auch Sünde (S. 16f.). Zur Geschichte aller Reiche, Völker und Herrschaften ruft Gerdes aus: „Was sind sie anders/ als Theatrum Fati: Eine Schaubühne göttlicher Verhängnisse?“ (S. 24) Das könne derzeit besonders ergiebig an Schweden exemplifiziert werden, das schwerwiegend vom Schicksal getroffen sei. Gerdes meinte damit Plagen, wie Kriege oder Missernten, die das Königreich seit dem Thronantritt Karl XI. heimgesucht hätten. Interessant sind seine semantischen Überlegungen zum Begriff des Fatum (S. 33f.): „Fatum oder sors wird dieses von den lateinern/ von andern ein destin, fatalite, sort, Verhängnis/ Öde/ Skapnad/ Gudz/ skikkelse och försyn genandt/ welches alle Völker erkandt/ und darauff ihre Gedancken insonderheit gewandt/ so offt nicht nur bey eintzelen Persohnen/ sondern bey gantzen Republiquen sie etwas erlebet/ worinnen sich niemand finden/ welches auch keiner vorher sehen können dessen suites und fernere evenements so unvermuthet und wunderseltsahm/ daß keine Weißheit/ Verstand und Rath mehr zureichet/ sondern man siehet augenscheinlich/ eine höhere Hand wolle über uns gebiete/ weswegen es auch inexsuperabile, immutabile, et indeclinabile fatum, das unüberwindliche/ das unwandelbahre/ und nicht abzuwendende Verhängnis hat bey den heyden heissen müssen.“ Gerdes ist klar, dass das Fatum eigentlich eine heidnische Kategorie darstellt. Augustinus hätte den Begriff gerne abgeschafft und an seiner Stelle nur noch von der Providenz Gottes gesprochen (S. 34). Aber der Wismarer Pfarrer ist davon überzeugt, dass man die Ansichten der griechischen Philosophen zum Fatum-Begriff nicht ignorieren könne und orientiert sich dabei an einer Schrift von Hugo Grotius mit dem Titel Philosophorum, sententiae de fato, et de eo, quod in nostra est potestate (Amsterdam 1648). Fatum sei eine von der Ordnung der Natur abgeleitete Katgeorie. Auch Pantheisten wie Benedikt Spinoza (1632-1677) sprächen von Fatum, wenn sie die Welt und Natur vergöttern: „Diese finden ihren Himmel auff Erden in aller dinge ewig-unwandelbahren Nothwendigkeit.“ (S. 38) Gerdes behandelt auch das Fatumsverständnis der Materialisten bei Demokrit und Epikur ( S. 40), dann der Mathematiker und Astrologen (S. 45-47), der Stoiker (S. 52ff.) und erwähnt „unter den bösen Politicis in der Christenheit“ Niccolo Machiavelli und Justus Lipsius (S. 81 (Paginierungsfehler)). Im weiteren Verlauf macht Gerdes den Fatumbegriff bei Jesuiten, bei Jansenisten und Reformierten zum Thema (S. 86ff.). Zu den Reformierten vertritt Gerdes die Auffassung, dass sie aus dem Satz, der Wille Gottes sei der Ursprung aller Dinge, gefolgert hätten: „Gott seye der Sünden Uhrsach“ (S. 173). Gerdes gibt die Überzeugung der Türken wieder, sie würden auch noch in der größten Gefahr lebendig bleiben, falls ihre Stunde noch nicht gekommen sei. Selbst wenn man sich gerade im Rachen eines Drachen befand, würde man doch nicht gefressen werden (S. 140). Gerdes geht auch auf Kardinal Celestino Sfrondatis postum erschienene Abhandlung Nodus Prædestinationis ex Sacris litteris, doctrinaque SS. Augustini, & Thomæ (Rom 1697) ein, die die These aufstellt, dass der Mensch auch dann gerettet werden könne, selbst wenn er nicht getauft ist (S. 191f.). Gerdes stellt sich auch der Frage, ob Selbstmörder zu verdammen seien (S. 209). Insgesamt versteht es Gerdes, große philosophie- und theologiegeschichtliche Bögen zu schlagen – von Platon und Aristoteles über Augustinus und Thomas von Aquin bis zu Machiavelli und Spinoza. Dabei wird auch der Alltag nicht vergessen, so beim Spiel: „Ob das Spiehl vom Glück oder Verstand dependire, ob die Glücksspiehle und das Lotteriren zulässig, auch, ob Gottes Providentz dabey geschäftig, oder ob das gewinnen und das verlieren ein purer hazard.“ (S. 462f.) Gerdes stellt sich die Frage, was Glück sei: „So wenig das Glück eine blosse Prudentz, oder ein Epikureischer hazard ist, so wenig ist dasselbe auch eine anzubetende Göttin oder junges flüchtiges Weib, welches nur junge dreiste Männer liebet.“ (S. 482f.) Der Wahrsagekunst und Astrologie kann Gerdes nicht viel abgewinnen. (S. 661) Auch die Geburt eins Prinzen könne nicht als Omen verstanden werden, woraus keine Steuerung der Zukunft abgeleitet werden könne. Gegenüber den Prophezeiungen von Nostradamus legt Gerdes eine skeptische Haltung an den Tag (S. 724-730).

In der Abhandlung ist es nur eine einzige Abbildung abgedruckt. Es handelt sich um einen Porträtstich der schwedischen Königin Ulrica Eleonara, die mit dem Landgrafen von Hessen-Kassel, Friedrich I. verheiratet war, der 1720 nach dem Tod von Karl XII. schwedischer König werden sollte.

5. Kontext und Klassifizierung
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Sicherheit gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Wie stellt man sich dem Unvorhersehbaren? Wie begegnete man der Auslieferung an Naturereignisse? Die Antworten, welche die Religionen auf Kontingenzerfahrungen anbieten, sind kulturell vielfältig. So reagieren manche Menschen auf radikale Ohnmacht mit magischen Praktiken, mit deren Hilfe die Zukunft vorausgesehen, gesteuert, ja manipuliert werden sollte. Im Christentum hingegen ist eher eine Schicksalsergebenheit verbreitet. Dennoch haben sich die Menschen immer wieder bemüht, das Schicksal vorherzusehen, es in eine Kosmologie einzuordnen und dadurch zu meistern. Für Gerdes stellt die Geschichte nichts anderes als ein Theater von Schicksalsschlägen dar. Auf der Bühne wird insbesondere der providentielle Plan Gottes ausgespielt. Der allmächtige und allwissende Gott, insofern er den Verlauf des Welt- und Heilsgeschehens ordnet, weiß schon im Voraus alles. Gott steuert den Weltenlauf, gemäß der Naturgesetze, durch Wunder, durch zuvorkommende Gnade, durch Mitwirkung an dem freien Willen der vernunftbegabten Geschöpfe. Von Vorherbestimmung oder Prädestination spricht man, wenn schon vor dem individuellen Lebensvollzug festgelegt ist, wer das ewige Leben erreicht und wer nicht. Die Prädestinationslehre wird insbesondere mit Augustinus von Hippo (354-430 n.Chr.) und dem Calvinismus verbunden. Für den Gläubigen stellt sich dann oft die Frage nach der Verbindung der Vorsehung einerseits und der individuellen Freiheit andererseits. Die theologische Arbeit zielte in der Frage der Prädestination oft auf einen Ausgleich von Willensfreiheit und Gnade. Man fand ihn, indem man die menschliche Freiheit unter die Mittel rechnete, mit denen Gott seinen Willen durchsetzt und zu dem von ihm voraus gewussten Ziel führt.

Gerdes verfasste seine Abhandlung in einer turbulenten Zeit, geprägt durch Kriegsereignisse im Nordischen Krieg (1713) und Seuchen, wie der Pest, die in Stralsund allein im Jahr 1710/11 4000 Opfer forderte. Unter diesen Rahmenbedingungen florierte eine Fatums- und Vorsehungsliteratur nach dem Motto, dass der Mensch nichts ist und Gott alles. In den Worten von Bernhard Groethuysen: „Göttliche Vorsehung oder eigene Voraussicht, Vertrauen in Gott oder Vertrauen in sich selbst? Es ist dies eine Frage, die sich immer von neuem stellte, so oft Geistliche und gebildete Laien miteinander diskutierten.“ (Groethuysen, S. 96). Das Unbekannte und Unberechenbare stellt Gerdes heraus, um deutlich zu machen, dass die Menschen, selbst wenn sie noch so selbstsicher auftreten und alles im Voraus bestimmen und berechnen, immer ein unwägbarer Rest bleibt, der letztlich auf Gott zurückgeführt werden muss. Die Formel des Geistlichen, dass es Gott so gewollt habe, passt zu jedem Schicksalsschlag. Sie beschwört die Theodizeeproblematik hervor und perpetuiert eine statische Gesellschaftsauffassung, in der alles weitgehend so bleibt, wie es ist.

6. Rezeption
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Die Wirkungsgeschichte des Theatrum Fati Svetici liegt noch im weitgehend im Dunkeln. Wenn die Abhandlung auch durchaus in die Zeit des Universalphilosophen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) zu passen scheint, in das Gedankengebäude einer prästabilisierten Harmonie, die davon ausging, bei der Welt, in der man hineingeboren wird, handele es sich um die beste aller möglichen Welten, wobei diskontinuierliche Elemente, wie Seuchen und Katastrophen integriert wurden, muss davon ausgegangen werden, dass dieses Theatrum zunehmend als fremdartig empfunden wurde, je weiter sich Ideen der Aufklärung im 18. Jahrhundert ausbreiteten und sich der Mensch immer deutlicher von der Vorstellung einer heilsgeschichtlichen Bestimmung emanzipierte.

7. Bibliographische Nachweise und Forschungsliteratur
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