I. Die Fruchtbringende Gesellschaft (FG, 1617–1680) war mit 891 Mitgliedern die größte und bedeutendste kulturelle Vereinigung des 17. Jahrhunderts in Deutschland. Sie wurde am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges, im August 1617 in Weimar von Fürst Ludwig I. von Anhalt-Köthen (1579–1650) und seinem Sohn Ludwig d. J. (1607–1624), den Herzögen Johann Ernst d. J. (1594–1626), Friedrich (1596–1622) und Wilhelm IV. von Sachsen-Weimar (1598–1662) sowie dreien ihrer Hofleute gegründet und schuf sich im Sinnbild der universal nützlichen Kokospalme und unter der Devise „Alles zu Nutzen“ die Grundsymbolik ihrer irenisch-patriotischen und pazifizierenden Reformimpulse. Alle anhaltischen Fürsten, die in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts und teilweise darüber hinaus Verantwortung trugen, auch Fürst Christian II. von Anhalt-Bernburg, gehörten der Gesellschaft an. Dem eigenen Anspruch nach staatsfern, herrschafts- und hierarchiereduziert sowie überkonfessionell ausgerichtet, rekrutierte die FG ihre Mitglieder schnell über Mitteldeutschland hinaus im gesamten Heiligen Römischen Reich und sogar im europäischen Ausland. Als eine höfische Akademie stellte sie ein einzigartiges, komplexes Gesellschaftsmodell dar, mit einer hohen Mitgliederzahl aus dem Adels- und Reichsfürstenstand und einer überragenden Mehrheit protestantischer Mitglieder. Gleichwohl verfolgte die FG von Beginn an ein irenisches und über(kriegs)parteilich-patriotisches Programm, das im regulierenden Ausbau der Volks- und Muttersprache und in einer christlich-humanistischen praktischen Ethik des Gemeinsinns seine Anker fand.1
II. Als unmittelbare Vorbilder standen der FG die italienischen Renaissance-Akademien Modell, die auf die Kultivation höflicher Sitten, die Emanzipation der Volkssprache und die Förderung moderner Wissenschaften, Künste und Literatur abzielten, insbesondere die Accademia della Crusca zu Florenz, der Fürst Ludwig I. von Anhalt-Köthen seit 1600 angehörte.2 In ihrem erstmals 1622 veröffentlichten knappen Manifest stellte sich die FG explizit in diesen Zusammenhang, denn man habe in Deutschland eine den „Academien, die in frembden Landen/ beydes zu erhaltung guten vertrawens/ erbawung wolanstendiger Sitten/ als nützlicher außübung jedes Volcks LandsSprachen/ auffgerichtet“, vergleichbare Institution schaffen wollen, die einem jeden „liebhaber aller Erbarkeit/ Tugend und Höfligkeit/ vornemblich aber des Vaterlands“ offen stehe.3 Zwei Gesellschaftsziele wurden explizit genannt: Erstens hatte sich jedes Mitglied als zivilisiert, im Umgang verträglich und in seiner Selbstverpflichtung auf das Gemeinwohl je nach Stand, Beruf und Qualifikationen als vorbildlich und nützlich zu erweisen. Zweitens sollte es „die Hochdeutsche Sprache [...] auffs möglichste und thunlichste erhalte[n]/ un[d] sich so wohl der beste[n] außsprache im reden/ alß de[r] reinesten art im schreiben un[d] Reimen-dichten befleißigen“.4 Die praktische Spracharbeit der Fruchtbringer zielte auf eine umfassende Regulierung und Bereicherung der deutschen Sprache (Grammatik, Rechtschreibung, Wortschatz, Poetik, Prosastilistik) und erschöpfte sich keineswegs in einem sterilen Fremdwortpurismus. Sie verband sich mit der „Conversazione civile“ (Stefano Guazzo, 1530–1593) als der ständeübergreifenden Ausweitung des höfischen Konversations- und Verhaltensideals hin zu einer kultivierten zivilgesellschaftlichen Kommunikation.5
Neben den Angeboten der italienischen Renaissance-Akademien griff die FG auch einheimische Ideen auf, etwa jene des in Mitteldeutschland wirkenden Pädagogen Wolfgang Ratke (1571–1635), der mit seiner muttersprachlich basierten Reformdidaktik wichtige Impulse zur Entwicklung der deutschen Sprache und einer deutschsprachigen wissenschaftlichen Episteme freisetzte.6
Während von Beginn an literarische und gelehrte Übersetzungen ein zentrales Arbeitsfeld der Fruchtbringer waren,7 kam seit den fortgeschrittenen 1630er Jahren zudem eine intensive und differenzierte Sprach- und Literaturdebatte auf, in der eine wissenschaftliche Teamarbeit angesteuert wurde, wie sie in den Renaissance-Akademien üblich war. Sie wurde in Verbindung mit den sich entwickelnden Verfahren gegenseitiger Kritik und unter der umsichtigen Diskursregie Fürst Ludwigs als langjährigen Gesellschaftsoberhaupts ein wichtiger Bestandteil der sozietären Wissenskultur innerhalb der FG.8 Gedruckte Lehrwerke zur deutschen Grammatik und Rechtschreibung erschienen ebenso wie Poetiken, das erste vollständige deutsche Wörterbuch aber erst 1691 durch das späte FG-Mitglied Kaspar von Stieler (1632–1707).9 Diese Spracharbeit hat der FG später den Namen einer „Sprachgesellschaft“ eingetragen, der jedoch ihre Verankerung in der frühneuzeitlichen Akademiebewegung Europas unterschlägt und ihre Programmatik vereinseitigt, da die „außpolirung“ der deutschen Sprache immer als Bestandteil sowohl der Förderung „deß Vaterlandes nuz, wolfart und frommen“ als auch der europaweiten Sprachkultivierung verstanden wurde.10
III. Bereits zwei Tage nach einer aus familiären Gründen befristet erlaubten Rückkehr nach Anhalt aus kaiserlicher Haft (vgl. Menüpunkt „Biographie“ und Einleitung zum Tagebuchjahrgang 1622) wurde Christian II. am 25. Februar 1622 in Köthen als 51. Mitglied in die FG aufgenommen. Er erhielt den Gesellschaftsnamen „Der Unveränderliche“, als Pflanze den „Cypressenbaum“ mit dem Beiwort „Dringet in die Höhe.“11 Eine Versammlung mit Fürst Ludwig, Fürst Johann Kasimir von Anhalt-Dessau (1596-1660) und einer Reihe fürstlicher Räte bot den Rahmen für diese Aufnahme. In das Köthener Gesellschaftsbuch trug sich Christian aber erst 1630 eigenhändig mit seinem Wahlspruch „Tugendt schwebt oben“ (auch als „Astra petit virtus“ häufig gebraucht) ein.12 Wie auf Fürst Ludwig übte auch auf seinen Neffen Christian die moderne italienische Bildung eine starke Attraktion aus.13 Beide verband zeitlebens das Interesse an Sprache(n) und Literatur(en), trotz phasenweiser Entzweiung in politischen Ansichten, und so blieb Christian innerhalb der fürstlichen Familie auch der wichtigste Austauschpartner seines Onkels in Angelegenheiten der FG. Christian nahm neue Mitglieder auf (vgl. z. B. den Tagebuch-Eintrag vom 6. 4. 1628) und setzte sich für die Aufnahme neuer Mitglieder ein, u. a. für Martin Opitz (1629), den er in Breslau persönlich kennengelernt hatte.14 Auch vermittelte er fruchtbringerische Korrespondenz, etwa an die österreichischen FG-Mitglieder15, und unterhielt Kontakte zu Fruchtbringern wie Hans Philipp (von) Geuder (1597–1650) oder Graf Friedrich Kasimir von Ortenburg (1591–1658). Er sammelte Mitgliederbeiträge für den Druck des mit Kupferstichen illustrierten Gesellschaftsbuches von 1629/30 ein, wie sein Tagebuch überhaupt immer wieder singuläre Binneneinsichten in die FG und ihr kulturelles Umfeld bietet. Nach 1650 und der Verlagerung des FG-Geschehens an den Weimarer Hof des neuen Oberhaupts, Herzog Wilhelm IV., scheint Christian in FG-Belangen nicht mehr in Erscheinung getreten zu sein.16
IV. Während er sich an der engeren Sprachdebatte nicht aktiv beteiligte, tat sich der hochgebildete Fürst Christian II. als Übersetzer aus dem Italienischen und Französischen hervor. Schon während seiner zweiten Reise nach Italien 1623/24 übte er sich an einer Dante-Übersetzung; später schlossen sich Gelegenheitsgedichte, kleine Übersetzungs- oder Bearbeitungsversuche an Versen Giovanni Battista Guarinis (1538–1612) und Francesco Petrarcas (1304–1374) an,17 aus dessen Canzoniere er auch später noch wiederholt in seinem Tagebuch zitierte. Spätestens seit seinem Italienaufenthalt beschäftigte sich Christian zudem mit einer Übersetzung von Antonio de Guevaras (1480–1545) Libro llamado relox de príncipes (1529), wobei ihm nicht das spanische Original, sondern die italienische, in 35 Kapiteln geordnete und gekürzte Übertragung von Mambrino Roseo da Fabriano (d. h. Collenuccio Costo, 1500–nach 1573), Institutione del Prencipe Christiano (1543), als Vorlage diente. Am 1. Mai 1629 unterbreitete Christian schließlich die letzten Teile seiner Übersetzung Fürst Ludwig zur verbessernden Durchsicht. Nach einem aufwändigen Korrekturprozess, in den auch Diederich von dem Werder (1584–1654) einbezogen wurde, erschien das Werk als Unterweisung eines christlichen Fürsten18 1639 in Köthen. Vom Ausgangstext blieb nach dem Umweg über das Italienische und der sorgfältigen Bearbeitung durch Christian nicht mehr viel übrig; an die Stelle von Guevaras Helden tritt die Idealgestalt eines fruchtbringenden, christlich-tugendhaften, demütigen Fürsten. 19
Noch 1640 schloss Christian die Drucklegung seines zweiten größeren Übersetzungswerkes ab: Von der Beharligkeit der Außerwehlten.20 Das Original stammte von dem hugenottischen Prediger zu Paris, Charles Drelincourt d. Ä. (1595–1669), und trug den Titel De la Persévérance des Saincts, ou de la fermeté de l’amour de Dieu (1625). Das Erbauungsbuch greift die wesentlichen Lehrstücke der reformierten Dogmatik auf, unter Auslassung aller polemischen Kontroverstheologie. Die angehängten „letzten Stunden des Herren von Plessis-Mornay“ stellen eine Übersetzung von Jean Daillés (1594–1670) Les dernières heures de M. Du Plessis Mornay (1624) dar. Gemeint ist Philippe Duplessis-Mornay (1549–1623), Führungsgestalt der Hugenotten unter König Heinrich III. von Navarra (1553–1610), dem späteren König Heinrich IV. von Frankreich. Für Christian, der Duplessis-Mornay 1617 in Saumur kennengelernt hatte, war dieser Adlige ein Vorbild reformierter Glaubensstärke, denn er habe der ganzen Christenheit „durch gewaltige lehrreiche Schriften zu dienen/ und dadurch die ehre GOttes zu befördern sich gar nicht geschämet“.21
Ende der 1640er Jahre verdeutschte Christian schließlich die Agoges des byzantinischen Kaisers Manuel II. Palaiologos (1350–1425), eine Lehrschrift für dessen Sohn Johannes VIII. (1392–1448), nach einer anonymen französischen Übersetzung (Paris 1585), die auch ein „Gemählde des Frülings“ und ein Gespräch des turkomongolischen Heerführers Timur (1336–1405) mit dem von ihm gefangenen osmanischen Sultan Bayezid I. (1360–1403) enthielt, beides ebenfalls aus der Feder des Kaisers. Die Übersetzung, die Christian seinen Söhnen widmete, erschien als Hundert Königliche Lehren vnd Väterliche Gebotte 1650 in Köthen.22
V. Die FG diente jedoch nicht nur der Sprach- und Literaturarbeit. In einem Weiterdenken des ersten, tugend- und nützlichkeitsethischen Gesellschaftsziels, unabhängig von konfessioneller Zugehörigkeit oder politischem Standpunkt, wollte die FG während des Dreißigjährigen Krieges eine Plattform für unverdächtige, friedens- und ausgleichsorientierte Verständigung bieten, indem sie „keinen ehrgeitz, sondern nur einigkeit und vertrauligkeit“ suchte23, indem „in und bey dieser Gesellschafft alles zu nutzen/ frommen/ und ergetzung/ niemand aber zu leide/ schaden oder verdruß gerichtet sein“ sollte. Die irenische und säkular-patriotische Tendenz im Wirken der FG verstärkte sich daher im Verlauf des Krieges mit seiner sich immer mehr verselbständigenden Dynamik und seinen verschwimmenden Konfliktgrenzen. In der FG sollte keinesfalls „von den strittigen Glaubenssachen gehandelt“ werden, „sondern von Fortpflantzung der Teutschen Aufrichtigkeit und Frömmigkeit/ als den Früchten unsers Christenthums“.24 In der Folge des Krieges war dieses Gesellschaftskonzept gefährdet: „Trewe vndt Aufrichtigkeitt ist wildprett“, notierte Christian 1641 lakonisch in seinem Tagebuch.25 Umso ernster erinnerte er 1651 in der Rückschau auf den Dreißigjährigen Krieg an die ursprünglichen Ziele der FG: „Der rechte zweck der fruchtbringenden gesellschafft [soll] eigentlich sein, die einigkeit zu befördern, allen streit, widerwillen, zanck v[nd] mißstände zu vermeiden v[nd] aufzuheben, gutes teutsches vertrauen vnder den mitgliedern zu stifften v[nd] anzurichten, vnd was verdrießlich, abzuthun.“26