Einleitung
1. Historische Einleitung
Das Schmählied1 „Von Grickel Interim“ entstammt der Anfangsphase des publizistischen Kampfes gegen das Augsburger Interim. Dazu nutzt der Ver-
(5)fasser hauptsächlich das Mittel der persönlichen Verunglimpfung der Kom-
missionsmitglieder, die den Entwurf für die einschlägigen Teile des Reichs-
abschieds erarbeitet haben, und unter diesen ist es vor allem der protestanti-
sche Vertreter, Johann Agricola, auf den der Spott des Verfassers besonders
zielt, obschon dessen tatsächlicher Beitrag zur Ausgestaltung des Interims
(10)eher gering anzusetzen sein dürfte.2 Die Mitwirkung eines protestantischen
Theologen an der kaiserlichen Initiative zur Unterdrückung der evangeli-
schen Kirche im Reich wurde offenbar als empörender Verrat empfunden,
während man von den altgläubigen Vertretern ohnehin nichts Gutes erwar-
tete. Hinzu kam, dass Agricolas Rechtgläubigkeit nach dem antinomistischen
(15)Streit mit Luther grundsätzlich zweifelhaft erscheinen konnte.3
2. Der Autor
Für Erasmus Alber4 als Verfasser5 des Liedes „Von Grickel Interim“ spricht die weitgehende Übereinstimmung der hier zusammengestellten Invektiven
gegen Johann Agricola6 mit denjenigen, die sich in dem – gleichfalls anony-
(20)men, aber mit guten Gründen Alber zuzuweisenden – „Dialogus vom Inte-
rim“7 gegen ihn finden; auch die – im Zusammenhang sachlich nicht moti-
vierte, eher wie ein Ceterum censeo wirkende – Erwähnung Georg Witzels8
fügt sich ins Bild.
Hinzu kommen die beiden Melodieangaben: Das Lied „Bock Emser, lieber
Domine...“9 wird zumeist Erasmus Alber zugeschrieben, weil dieser daraus
in seiner Fabel „Von einer Stadtmaus und einer Feldmaus“ zitiert und auch
anderweitig sprachliche Übereinstimmungen festzustellen sind.10 „Martinus
(5)ist nit geschwiegen“ ist die Anfangszeile eines Liedes, das anlässlich von
Luthers Tod erschien: „Ein Newes Lied Von dem heiligen Man Gottes
vnserm lieben Vater Doctor Martin Luther in Gott verschieden. Anno 1546.
Im Thon Bock Emser, lieber Domine“, auch dies wahrscheinlich von Alber
verfasst.11 Gustav Kawerau teilt aus einer Leipziger Handschrift eine Titel-
(10)fassung zu unserem Spottlied mit, aus der er auf die Urheberschaft Albers
schließt: „Das Lied Bock Emser lieber dn̅ē etc. gemacht Anno 1520, er-
newert vnd gedeut auff meister INTERIM, der sich sonst in seinem grossen
Titel schreibt, Magister Joannes Albertus (olim Schneider) Agricola (vulgo
Grickel) Eißleben (vulgo Sch...leben) generalis Visitator totius Marchiae et
(15)plus, si vellet“; die Handschrift ist am Schluss datiert: 12. August 1548.12
Demnach wäre das Lied ein Nebenprodukt der Arbeit am „Dialogus vom
Interim“, und seine Verbreitung könnte die Anregung zu einem Schmählied
nach gleicher Melodie auf den hessischen Hofprediger Johann Lening als
Fürsprecher des Interims aus dem September 1548 gegeben haben: „Ach
(20)Lening, lieber Julie, was hastu nhun gethan! [...]“13
3. Inhalt
Das Lied umfasst 27 vierzeilige Strophen mit Kreuzreim, in denen im we-sentlichen ein einziges Thema variiert wird: Vorrangiges Ziel des Spottes ist
Johann Agricola, Hofprediger Kurfürst Joachims II. von Brandenburg und
(25)Generalsuperintendent der Mark, der – neben dem Naumburger Bischof Juli-
us von Pflug14 und dem Mainzer Weihbischof Michael Helding15 – als einzi-
ger Vertreter der protestantischen Seite an der Abfassung des Entwurfs zum
Augsburger Interim beteiligt war. Der Verfasser wirft ihm deshalb vor, er sei
aus Geldgier vom Evangelium abgefallen, und zeichnet Agricola als Verrä-
ter, Lügner, Spötter, Dummkopf und Säufer, der sich in seinem Hochmut als
Propagandist des Interims zum Reformator aufwerfen wolle.
Im Unterschied zum „Dialogus vom Interim“, mit dem sich das vorliegende
(5)Schmählied in etlichen Punkten berührt, enthält es keinerlei unmittelbar
gegen den Kaiser oder die weltliche Obrigkeit gerichtete Spitzen, das Interim
wird lediglich als Manifestation eines päpstlichen Furzes dargestellt.16
4. Ausgaben
Nachgewiesen werden können folgende Ausgaben:
(10)A: Schöner Lie= || der zwey / Vorhin noch nie || im Truck ansgangen [!] / ||
Das Erste / von Grickel Jnterim / || Jm thon Martinus ist nit geschwi= ||
gen / box Emser lieber Domine. || Das Ander / von dem Landt= ||
graffen auß Hessen / wie er || es hat außgericht etc. [4] Blatt 8° (VD 16
A 1528)
(15)Vorhanden:
Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek: 925.17 Theol. (27) [benutztes Exemplar]
B: Schöner Lie= || der zwey / Das erste von || Grickel Jnterim / Jm thon
Marti= || nus ist nit geschwigen / box Emser || lieber Domine. Das
(20)Ander || Jch habs gewagt du || schne magt. [4] Blatt 8° (VD 16 ZV
21016)
Vorhanden:
Rudolstadt, Historische Bibliothek: SB Nr. 138 (28)
C: Zwey Schner Lieder / || Das Erste / Von Grieckel [!] Jnterim / || Jm
(25)thon / Martinus ist nicht || geschwigen / box Emser || lieber Domine. ||
Das Ander / Von dem Knig aus || Franckreich / Wol auff jhr ||
Lantzknecht alle. [4] Blatt 8° (VD 16 A 1529)
Vorhanden:
Frankfurt am Main, Universitätsbibliothek Johann Christian Sencken-
(30)berg: W 1154 Nr. 5 Eine unkommentierte Textedition des Liedes „Von Grickel Interim“ nach
Druck A liegt vor in: Philipp Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied von
der ältesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jahrhunderts. Bd. 3, Leipzig 1870
(Nachdruck: Hildesheim 1990), 898f (Nr. 1053).
Die Ausgaben A, B und C weisen alle denselben Titelholzschnitt auf: Johan-
nes Agricola als gelehrter Esel in Talar und Birett, mit der Schreibfeder in
(5)der Hand an einem Pult sitzend, verfällt dem zweifelhaften Charme einer
dreiköpfigen Chimäre mit Drachenleib; die drei Köpfe stellen einen Engel,
den Papst und einen Türken dar.17
Die Drucke bieten allesamt an erster Stelle das Lied, zu dem auch der Titel-
holzschnitt gehört: „Herr Grickel, lieber Domine [...]“; der verbleibende freie
(10)Raum ist jeweils durch ein anderes Lied gefüllt.18 Da diese Lieder keinen
Bezug zum Interim aufweisen, wurde auf ihre Aufnahme in unsere Ausgabe
verzichtet.
Druck A erhebt im Titel den Anspruch, Erstdruck des Liedes zu sein. Dage-
gen sprechen weder innere noch äußere Gründe. A weist zwei Marginalien
(15)auf, die in C in den fortlaufenden Text eingefügt und in B fallengelassen
wurden. Gleichwohl steht B in der Gestaltung des Titelblatts und hinsichtlich
der Textgestalt A deutlich näher als C, das die Titelformulierung stärker ver-
ändert und zudem etliche Detailabweichungen im Satz und einige Textverän-
derungen gegenüber A und B aufweist und deshalb als spätester Druck anzu-
sehen ist.19 Alle drei bekannten Drucke dürften freilich in rascher Folge
(5)erschienen sein, wohl noch 1548.20
Einen vierstimmigen Satz des Liedes in neuzeitlicher Notenschrift nach Vor-
lage eines Manuskripts aus der Leipziger Ratsbibliothek bietet G[ustav] Ka-
werau in: Siona. Monatsschrift für Liturgie und Kirchenmusik, 21. Jahrgang
(1896), 43f, unter der Überschrift „Herr Grickel, lieber Domine. Ein kirchen-
(10)musikalisches Kuriosum vom Jahre 1548.“