Text

Eines Sächsischen Maidlein Klag und Bitt
bearbeitet von Hans-Otto Schneider
[Inhaltsverzeichnis]

|| [959]

[A 2r:] [1] Ach, Gott Vatter, durch Jhesum Christ,
der du der waisen Vater bist,
ich bit dich aus meins hertzen grundt
Vnd schrey zu dir mit meinem mundt!
(5)[2] Mein Vaterlandt bedrenget ist,
gefangen hart mit falsch1 vnd list.
Dein heiliges wort wirt weckgethan,
des Bapsts grewl feht2 wider an.
[3] Jungfrawn werden grewlich geschendt,
(10)den weisena 3 wirt das jhr entwendt.4
Kein Man, kein Man in Deudschem land,
der vns schützet vor solcher schandt.
[4] Drumb knie ich hie vnd schrey zu dir,
gnediglich, Herr, wollst helffen mir,
(15)das ich mag bleiben bey deym5 Wort,
geschendet nicht, noch weggefurt.
[5] Behüt auch ander Junckfrawn zart
fürn Spaniern, der falschen art,
darzu die frawen tugentreich.
(20)Hilff, das sie folgen alle gleich.
[A 2v:] [6] Wir Sechsischen Medlein, ach Gott,
weil wir vor vns han schandt vnd todt
– des Bapsts vnd Spanier6 grossen grim
sicht Man sehr wol im Jnterim –
(25)[7] kein schmuck an meinem leibe sey,
bis Deudschland7 werde wider frey,8

|| [960]

kein Mann noch Jüngling hie auff erdt,
dem ich freuntlich zusprechen werdt.
[8] Kein trunck ich nim von keinem Man,9 weil sie kein hertz im leibe han.10
(5)Stets sol mein angesicht sauwr sehn,11
bis die Spanier vntergehen.
[9] Welcher dan hat das best gethan,
der sol mir sein der liebste Man,
er sey gleich Jung, er sey gleich Alt,
(10)er sey gleich Arm vnd vngestalt.
[10] Er ist warlich ein trewer helt,
den preissen sol die gantze welt.
Ein krentzlein schenck ich jhm zu lohn,
gewunden mit mein henden schon.12
(15)[A 3r:] [11] Zwen13 heldt des Kriegs gabstu vns, Gott:
Arminium, den dritten Ott;
Arminius macht frey Deudsch Landt,14
Ott stifftet der Churfürsten standt,15

|| [961]

[12] durch welch das Reich erhalten wardt
– der Endtchrist16 ward drin offenbart –,
abr Keiser Carl, geborn zu Gent,17
jtzt diesen trewen standt zutrent,
(5)[13] macht vnterm Adell Meuterey,
das kein trew Man bey Fürsten sey;
hat am Fürsten beweist sein tuck,18
wie pflegt der vntrewe Kuckuck;19
[14] durch Spanier, die falschen20 leutt,
(10)alles regiret vnd gebeut;
kein Fürst nimmer darff reden ein,
was er21 will han, mus nu so sein,
[15] gleichwie ein wütiger Tyran,22
vnd das wil vnser Adel han.
Wie vntrew schlecht sein eignen Herrn,23
will der Adel erfaren gern.
[16] Doch lieber Gott, ich weis fur=[A 3v:]war,
du wirst vns nicht verlassen gar.
Das frew ich mich zu aller stunt.
(20)Ein knüttel ligt noch bey dem hundt.24

|| [962]

[17] Drum gib vns, Herr, den dritten Heldt,
der dir alleine wolgefelt,
ach Herr, ich mein einen Jehu,25
doch sich26 du selber auch mit zu,
(5)[18] das doch mein liebes vaterlandt
erlöst werdt aus der Spanier handt.
Las vns bleiben bey deinem Wort,
stewer27 des Bapsts vnnd Spanier Mordt!28
A M E N.

Textapparat
a  Konjiziert aus: wesen.

Kommentar
1  Betrug. Vgl. Art. Falsch, in: DWb 3, 1293f.
2  fängt. Vgl. Art. anfahen, in: DWb 1, 321f.
3  Waisen.
4  Vgl. die Schilderung der Kriegsgräuel in unserer Ausgabe, Nr. 11: Ein Dialogus vom Interim
(1548), 649f.
5  deinem.
6  Kaiser Karl V., seit 1516 bereits König von Spanien, Sohn Johannas (genannt ‚die Wahnsinnige‘)
und Philipps (genannt ‚der Schöne‘) von Kastilien. Vgl. Kohler, Karl V., 37f. 55–58.
7  Erst in der Renaissance beginnt man mit einer gewissen Selbstverständlichkeit von Deutschland
zu reden, bei aller Unbestimmtheit des Begriffs. Vgl. Art. Deutschland, in: DWb 2, 1052f.
9  Ich werde mir von keinem Mann ein Getränk ausgeben lassen, d. h. mich jedem Versuch
verweigern, eine Bekanntschaft mit mir anzuknüpfen. Vgl. Art. Trunk E.5) und 6), in: DWb 22, 1389.
10  feige sind. Vgl. Art. Herz B.I.6.a), in: DWb 10, 1218.
11  abweisend, missgelaunt erscheinen. Vgl. Art. sauer II.4.d.α), in: DWb 14, 1867f.
12  Der Kranz kann symbolisch sowohl für den Siegespreis als auch für die Jungfräulichkeit
stehen. Vgl. Art. Kranz II.3) und 5), in: DWb 11, 2044–2047. 2052f. „Die sächsische Jungfrau
mit dem Kranz [...] enthält zugleich eine Anspielung auf das Magdeburger Stadtwappen“
(Liliencron IV, 460, Fußnote zu Nr. 570). Vgl. Kaufmann, Ende der Reformation, 392f. 574 und
vorderer fliegender Vorsatz.
13  zwei. Vgl. Art. zwei I.1), in: DWb 32, 972f.
14  Der Cheruskerfürst Arminius führte jene germanischen Kämpfer an, die im Jahre 9 n. Chr.
drei römische Legionen unter dem Befehl des Statthalters Publius Quinctilius Varus vernichteten und damit den Zugriff Roms auf das nördliche Germanien dauerhaft vereitelten. Auf die „ Ger-
mania“ des Tacitus geht das Epitheton „Befreier Germaniens“ für Arminius/Hermann zurück.
Vgl. Volker Losemann, Art. Arminius, in: NP 2 (1997), 14–16.
15  Im 16. Jahrhundert ging man davon aus, Kaiser Otto III. habe die Kaiserwahl durch sieben
Kurfürsten festgelegt. Dieser Irrtum hatte große Verbreitung gefunden durch das vielbenutzte
„Chronicon pontificum et imperatorum“ des Martin von Troppau († 1278). Vgl. Franz Hipler,
Art. Martin von Troppau, in: WWKL² 8 (1893), 934f; Anna-Dorothee von den Brincken, Art.
Martin von Troppau ..., in: Reinhardt, Hauptwerke, 414–417. Entsprechende Notizen finden sich
auch in der „Supputatio annorum mundi“ (1541/1545) Martin Luthers (WA 53, 152). Vgl. Ernst
Schäfer, Luther als Kirchenhistoriker, Gütersloh 1897
, 354f. Friedrich der Weise hatte 1513 im
Aachener Münster ein Marmordenkmal auf der Grabstätte Ottos III. errichten lassen, das 1803
unter französischer Herrschaft wieder beseitigt wurde. Vgl. Heinrich Weber, Art. Otto III., in:
WWKL² 9 (1895), 1163–1168, bes. 1168. Zur Entstehung des Kurfürstenkollegiums vgl. Wolf,
Goldene Bulle
. Die Stadt Magdeburg verdankte den Ottonen ihre erste Blüte. Vgl. Wolfgang
Ullmann, Art. Magdeburg, in: TRE 21 (1991), 677–686.
16  Die Bezeichnung Endchrist betont insbesondere das eschatologische Moment der Antichrist-
gestalt; das Papsttum wird als Widerchrist am Ende der Zeiten offenbart durch die Predigt des
Wortes Gottes, das Interim gehört mit zu den Zeichen des Endchrists. Vgl. Leppin, Antichrist
und Jüngster Tag
, bes. 103–109, 206–243.
17Karl V. war am 24. Februar 1500 in Gent geboren worden. Vgl. Kohler, Karl V., 49.
18  Hinterlist. Vgl. Art. Tuck 6.a), in: DWb 22, 1521f.
19  Der Kuckuck ist ein Brutparasit; er legt seine Eier in fremde Nester, und die jungen Kuckucke
werfen ihre Stiefgeschwister aus dem Nest. An der vorliegenden Stelle spielt wohl der Gedanke
eine Rolle, dass Karl V. die Kaiserwürde nicht zuletzt dem ernestinischen Kurfürsten Friedrich
dem Weisen von Sachsen verdankte, aber dessen Neffen und Nachfolger Johann Friedrich nun
der Kurwürde und eines Teils seiner Lande beraubt hatte, zugunsten seines albertinischen Vetters
Moritz. Zur Undankbarkeit des Kuckucks vgl. Art. Kuckuk II.2.b), in: DWb 11, 2525.
20  heimtückischen, verschlagenen. Vgl. Art. falsch 3), in: DWb 3, 1292.
21  Kaiser Karl V.
22  Die Hoffnungen, die sich einst mit dem Regierungsantritt Karls V. verbunden hatten, waren
inzwischen längst verflogen, und sein Versuch, die kultisch-religiöse Einheit des Reiches mit
Waffengewalt wiederherzustellen, schadete dem Ansehen des Kaisers in protestantischen Kreisen
erheblich; der versuchte Gewissenszwang wurde als Tyrannei empfunden. Hinzu kamen Karls Bestrebungen, ein Erbkaisertum für das Haus Habsburg zu etablieren und die Position des
Kaisers gegenüber den Reichsständen zu stärken. Vgl. Kohler, Karl V., 72–78.
23  Untreue schlägt den eigenen Herrn. Sprichwort, vgl. Art. Untreue 22, in: Wander 4, 1486.
24  Es gibt noch eine Möglichkeit, dem Rasenden Einhalt zu gebieten. Vgl. Art. Knittel 2–8. 11.
13, in: Wander 2, 1432f.
25  Gedacht ist höchstwahrscheinlich an den israelitischen König Jehu (reg. ca. 845–818 v. Chr.),
der die Omridendynastie auslöschte und die offizielle Baalsverehrung in Samaria beendete. Vgl.
II Reg 9f; Karl-Heinz Bernhardt, Art. Jehu, in: TRE 16 (1987), 553f; Winfried Thiel, Art. Jehu,
in: RGG4 4 (2001), 397f; Bo Reicke, Art. Jehu, in: BHH 2 (1964), 808–810. Weit weniger
wahrscheinlich ist es, dass der Prophet Jehu gemeint ist, der in I Reg 16,1–7 und II Chron 20,34
erwähnt wird. Zwar kündigt dieser dem israelitischen König Bascha als Strafe für seine
Abgötterei das Ende seines Hauses an, aber damit gehört er noch nicht in die Reihe der ‚Helden‘
Arminius und Otto III. Immerhin mag die leichte Unschärfe der Anspielung willkommen
gewesen sein, um mögliche üble Konsequenzen für Verfasser, Drucker oder Verbreiter des
Liedes abzuwenden, wie sie sich aus dem kaum verhohlenen Aufruf zum Tyrannenmord oder der
Bitte um einen Tyrannenmörder hätten ergeben können.
26  sieh.
27  wehre. Vgl. Art. steuern D.3), in: DWb 18, 2656f.
28  Vgl. die Anfangsverse aus dem Lied, nach dessen Melodie die Strophen gesungen werden sollen:
„ERhalt uns HErr bey deinem Wort Und steur des Bapsts und Trcken Mord“, WA 35,
467, 26f.
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