Einleitung
1. Historische Einleitung
Die Stadt Braunschweig1 lag zwar im Gebiet des Fürstentums Braun-schweig-Wolfenbüttel, hatte aber als Gemeinbesitz des welfischen Hauses,
(5)Mitglied des sächsischen Städtebundes und Hansestadt einen weitgehend
unabhängigen Status inne; 1528 wurde eine von Johannes Bugenhagen erar-
beitete Kirchenordnung eingeführt, und 1531 trat die Stadt dem Schmalkal-
dischen Bund bei. Zum Schutz der evangelischen Städte Braunschweig und
Goslar vor Übergriffen Heinrichs d. J. von Braunschweig-Wolfenbüttel ver-
(10)trieben die beiden Hauptleute des Schmalkaldischen Bundes, Kurfürst Jo-
hann Friedrich von Sachsen und Landgraf Philipp von Hessen, im Sommer
1542 Herzog Heinrich und setzten ihn schließlich, nachdem er versucht hat-
te, die Herrschaft gewaltsam wiederzuerlangen, im Oktober 1545 gefangen.
Im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel wurde die Reformation einge-
(15)führt. Der Feldzug gegen Heinrich von Braunschweig war willkommener
Anlass für Kaiser Karl V., gegen die Häupter des Schmalkaldischen Bundes
militärisch vorzugehen, ohne die Frage der konfessionellen Differenz zur
Sprache zu bringen, vielmehr ahndete er offiziell einen Fall von Landfrie-
densbruch. Nach der Niederlage des Schmalkaldischen Bundes kehrte Her-
(20)zog Heinrich in seine Lande zurück, und auch die Städte Braunschweig und
Goslar mussten sich seinen Ansprüchen weithin fügen, konnten allerdings
ihr evangelisches Bekenntnis wahren, während das Fürstentum rekatholisiert
wurde. Braunschweig-Wolfenbüttel nahm das Augsburger Interim als einzi-
ges norddeutsches Territorium neben Oldenburg offiziell an.
(25)Nikolaus Medler veröffentlichte seine Predigt2 Ende September 1548, zu
einer Zeit, als die Diskussion um das Interim bereits weiteste Kreise der
Bevölkerung erreicht hatte – davon geht jedenfalls der Verfasser aus. Das
Beispiel von Jesu Verhalten im Konflikt um die Frage der Heilung eines
Kranken am Sabbat dient ihm dazu, eine kompromisslose Ablehnung des
(30)Interims zu propagieren, obwohl nach entsprechenden Erfahrungen in Süd-
deutschland und angesichts der Rekatholisierungsmaßnahmen des langjähri-
gen Widersachers der Stadt, Heinrichs von Braunschweig-Wolfenbüttel,
nicht mehr auszuschließen ist, dass diese ablehnende Haltung eine Leidens-
zeit zur Folge haben könnte.3
2. Der Autor
Nikolaus Medler,4 geboren am 15. Oktober 1502 in Hof im Vogtland, be-(5)suchte die Lateinschule in Freiberg (Sachsen),5 anschließend die Universitä-
ten Erfurt und, ab Januar 1522, Wittenberg. Während seines etwa einjährigen
Aufenthaltes hier lehrte er Hebräisch und Mathematik. Eine kurze Zeit war
Medler Rechenlehrer in Arnstadt und Hof, schließlich Leiter der Schule in
Eger, hier heiratete er zum ersten Mal, wohl 1524. Durch seine evangeli-
(10)schen Schulpredigten erregte Medler Aufsehen, ja Aufruhr, der Rat der Stadt
fürchtete die Ungnade König Ferdinands, deshalb wurde Medler entlassen.
Er kehrte zurück nach Hof (um 1527/29) und übernahm die Leitung der
Stadtschule, die er zu einer Blüte führte. Daneben war er Prediger an St.
Michael. Nachdem er zuvor schon wegen scharfer Predigten angefeindet
(15)worden war, wurde er am 13. Juli 1531 mit seinem Kollegen, dem Stadtpfar-
rer Kaspar Loener,6 aus der Stadt vertrieben. Medler zog nach Wittenberg
und blieb dort gut fünf Jahre als Privatlehrer, Gehilfe Luthers und Kaplan
der vertriebenen Brandenburger Kurfürstin Elisabeth.7 Am 30. Januar 1532
wurde Medler Magister, am 11. September 1535 Lizentiat und am 14. Sep-
(20)tember 1535 zum Doktor der Theologie promoviert. Im Mai 1536 war er an
den Beratungen über die Wittenberger Konkordie beteiligt, unterzeichnete
sie aber nicht mehr, denn inzwischen stand er in Verhandlungen, als Prediger
nach Naumburg zu gehen, was er am 1. September 1536 auch zunächst wi-
derwillig tat. Medler wurde Pfarrer und Superattendent an der Wenzelskir-
(25)che. Als solcher wurde er zum Reformator des Naumburger Kirchen- und
Schulwesens. Im Jahre 1539 war er überdies an der Einführung der Refor-
mation in Leipzig und an der Visitation im Fürstentum Herzog Heinrichs des
Frommen8 beteiligt. Am 11. September 1541 hielt Medler die erste evan-
gelische Predigt im Naumburger Dom, der bis dahin mit der Domfreiheit im
(5)Unterschied zum sonstigen Stadtgebiet noch altgläubig geblieben war, am
20. Januar 1542 wurde dann Nikolaus von Amsdorf als evangelischer Bi-
schof von Naumburg eingeführt. Nach dem Tod seiner ersten Frau im Okto-
ber 1543 ging Medler im Januar 1544 eine zweite Ehe ein.9 Die Beziehungen
zwischen Medler und Amsdorf gestalteten sich anscheinend schwierig. Med-
(10)ler folgte im April 1545 einem Ruf nach Schloss Lichtenberg bei Torgau zur
Kurfürstin Elisabeth von Brandenburg, um Michaelis 1545 wurde er dann
Superintendent in Braunschweig. Medler nahm Matthias Flacius in Braun-
schweig auf, als die Universität Wittenberg sich infolge des Schmalkaldi-
schen Krieges in Auflösung befand; Flacius lehrte in dieser Zeit am Braun-
(15)schweiger Paedagogium.10 Medler veröffentlichte mehrere Schriften für
Unterrichtszwecke und im Bereich des Schulwesens und leistete auch publi-
zistischen Widerstand gegen das Interim. Da ihm die Last des Braunschwei-
ger Amtes allmählich zu schwer wurde und sein Ansehen unter ehelichen
Zwistigkeiten gelitten hatte, nahm Medler 1551 das Angebot an, Hofprediger
(20)im anhaltischen Bernburg zu werden. Bei seiner ersten Predigt dort am 7.
Juni 1551 rührte ihn allerdings der Schlag. Nachdem er zwischenzeitlich
zwecks besserer Pflege noch nach Wittenberg ins Haus Georg Majors ge-
bracht worden war, wo er einen zweiten Schlaganfall erlitt, starb Nikolaus
Medler am 24. August 1551 im Alter von nicht ganz 49 Jahren in Bern-
(25)burg.11
3. Inhalt
Der Verfasser bezieht den Leser formal ein in die Korrespondenz mit einem ungenannten Freund, die durch die Übersendung einer aktuellen Predigt des
Verfassers fortgesetzt werden soll. Predigttext ist die Perikope Lk 14,1–14,
(30)von der Heilung des Wassersüchtigen am Sabbat; dabei will Medler auf die
Frage eingehen, wie man sich zum Interim verhalten solle. Medler geht da-
von aus, dass niemand unter den Zeitgenossen sei, der nicht von den Ausein-
andersetzungen in religiösen Fragen Kenntnis erhalten hätte. Viele meinten,
man solle doch um des Friedens willen zu Kompromissen bereit sein. Diese
(5)verkennen aber nach Ansicht des Verfassers, dass die grundsätzliche Diffe-
renz, die aktuell am Interim aufbricht, schon sehr viel länger besteht, näm-
lich seit Beginn der Welt. Der nämliche Konflikt walte auch schon zwischen
Christus und den Pharisäern in der Perikope von der Heilung des Wasser-
süchtigen am Sabbat: die Pharisäer hielten Christus für einen Ketzer, der den
(10)Sabbat entweihe, indem er Kranke heile; Christus aber lasse von seinem Tun
nicht ab, sondern halte an seinem göttlichen Auftrag fest, auch wenn er sich
dadurch die Feindschaft mancher Zeitgenossen zuziehe. Den Pharisäern geht
es nach Medlers Interpretation allein um ihre Macht und ihren Einfluss, sie
wollen die Gottessohnschaft Christi nicht anerkennen. Hinsichtlich des An-
(15)lasses für den Konflikt hätte es wohl eine Möglichkeit zum Kompromiss
gegeben: Jesus hätte die Heilung des Kranken, der ja nicht in unmittelbarer
Lebensgefahr schwebte, auf den folgenden Werktag verschieben können.
Aber damit hätte sich im Grundsatz nichts geändert, die prinzipielle Ableh-
nung von Amt und Person Christi durch die Pharsiäer wäre unvermindert
(20)bestehen geblieben. Darum habe Christus nicht nachgegeben, sondern an sei-
ner Position festgehalten. Dies ist nach Meinung des Verfassers auch die
richtige Haltung gegenüber dem Interim, das als Kompromiss daherkomme,
tatsächlich aber Christi Wort und Befehl deutlich entgegenstehe. Die Partei-
gänger der Interims, insbesondere Johann Agricola, verhießen zwar die
(25)Überwindung der konfessionellen Spaltung, diese sei aber tatsächlich gar
nicht zu erwarten, vielmehr sei das Interim als eine List der Evangeliums-
feinde anzusehen, die damit die Rechtgläubigen ins Verderben reißen woll-
ten. Der Grundkonflikt könne vor dem Jüngsten Tage nicht entschieden wer-
den, deshalb solle man bei der einmal erkannten Wahrheit des Evangeliums
(30)bleiben, auch wenn man ihretwegen Verfolgung und Leiden auf sich nehmen
müsse. Wie die Schande der Pharisäer noch immer in jener biblischen Peri-
kope für alle Welt nachzulesen sei, so werde auch die Schande der Interimis-
ten allgemein ausgebreitet werden und dauerhaft im Gedächtnis der Mensch-
heit bleiben, ebenso wie der Ruhm der treuen Bekenner, denen Christus die
(35)Seligkeit zugedacht habe.
4. Ausgaben
Nachgewiesen werden kann folgende Ausgabe: A: Eine Predigt vber || Das Euangelion Luce xiiij. Von || dem
Wassersuͤchtigen / So man list || den Siebenzehenden Sontag || nach
Trinitatis wieder das || INTERIM ♦ || – || Geschrieben an einen guden
freundt. || Durch || Doctorem Nicolaum Medlerum. || 1548. [8] Bl. 4°
(VD 16: M 1887)
Vorhanden:
(5)Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz: Dg 4525; Dg 4525â
Dresden, Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek: Hist.eccl. E 321,22
Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek: 8
MULERT 349
Halle, Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt: AB 155 599(6);
(10)AB 44 19/i,13(10); Vg 1161,QK
Jena, Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek: 4 Bud.Hist.eccl.271
(25); 4 Theol. XLI,7 (4)
Kiel, Universitätsbibliothek: Cb 6168
Leipzig, Deutsche Nationalbibliothek, Deutsches Schrift- und Buchmuseum:
(15)III: 58,3e
München, Bayerische Staatsbibliothek: 4 Hom. 1395 i; 9 an: Bt 18600a R
Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek: 231.96 Theol. (7); A 115b.4
Helmst. (4); Alv Ef 103 (15); H 407.4 Helmst. (11); K 311.4 Helmst.
(3); L 482.4 Helmst. (16) [benutztes Exemplar]; Yv 1768.8 Helmst. (1)
(20)
Aus dem Vergleich der verwendeten Typen mit eindeutig identifizierten
bzw. signierten Drucken schließt man auf die Magdeburger Offizin des Mi-
chael Lotter als Herstellungsort.