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Beständige Antwort (1549)
bearbeitet von Jan Martin Lies
[Inhaltsverzeichnis]

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Einleitung

1. Historische Einleitung

Seit 1545 tagte das Konzil von Trient, um die Kircheneinheit wiederherzu-
stellen. Mit dem sich abzeichnenden Sieg des Kaisers im Schmalkaldischen
(5)Krieg schien die Möglichkeit gegeben, die politisch-militärische Schwäche
der Protestanten bei einem gemeinsamen Vorgehen von Kaiser und Papst zu
einer Lösung in altgläubigem Sinne auszunutzen. Allerdings waren während
des Krieges wieder einmal erhebliche Spannungen zwischen dem weltlichen
und dem geistlichen Oberhaupt der lateinischen Christenheit aufgetreten, denn
(10)Papst Paul III. hatte das Konzil mit Verweis auf den Ausbruch des Fleck-
typhus in Trient nach Bologna verlegt.1 Zwar verlangte Karl V. die Rück-
verlegung, doch entsprach diese kaiserliche Forderung nicht den Interessen
des Papstes, da dieser die Konzilsväter nicht wieder aus seinem Einfluss-
bereich entlassen wollte und der Kaiser ihm zu mächtig zu werden schien.
(15)Zwischen Kaiser und Papst herrschte somit keine Einigkeit.2 Die überaus
günstige politische Situation nach seinem Sieg wollte Karl V. jedoch nicht
ungenutzt verstreichen lassen. Nach der Niederlage des Schmalkaldischen
Bundes ergab sich für ihn nämlich scheinbar die Möglichkeit, durch die ei-
gene politisch-militärische Übermacht den Religionsstreit bis zu einem end-
(20)gültigen Entscheid des Konzils im Reich beizulegen.
Mit dem Wissen um seinen erweiterten politischen Handlungsspielraum be-
rief er für den 1. September 1547 einen Reichstag nach Augsburg ein. Dort
präsentierte er den Ständen schließlich das Ergebnis der Beratungen zwi-
schen dem Naumburger Bischof Julius von Pflug, dem Mainzer Weihbischof
(25)Michael Helding und dem kurbrandenburgischen Hofprediger Johann Agri-
cola
. Diese drei hatten in kaiserlichem Auftrag ein Schriftstück erarbeitet,
auf dessen Grundlage die jahrzehntelangen Streitigkeiten im Reich vorläufig
beigelegt werden sollten.3 Anders als Karl V. dies wohl erwartet hatte, regte
sich aber nicht nur in den Reihen der geschlagenen Protestanten Widerstand
(30)gegen die Vorlage, auch Vertreter der Reichskirche und weltlicher, altgläubi-
ger Stände erhoben Protest.4 Diese beschwerten sich über das Zugeständnis
an die Protestanten, den Laienkelch und die Priesterehe vorläufig zu erlau-
ben. Die Kurie wiederum opponierte generell gegen die kaiserliche Maßnah-
me. In Rom erkannte man darin nämlich nicht etwa einen Versuch theologi-
(35)schen Konsens zwischen den Streitparteien zu erlangen, sondern sah in den
kaiserlichen Bestrebungen vielmehr den Versuch, den Konflikt gänzlich ab-
seits des Konzils zu lösen, womit Rom den Blick auf die politischen Implika-
tionen des kaiserlichen Gesetzesvorschlages lenkte. Eine Annahme des Inte-

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rims durch den Papst war für die Kurie daher undenkbar.5 Jener Widerstand
sollte den Kaiser dann schon während des Reichstags zu einer bedeutenden
Änderung bewegen. Eigentlich vom Kaiser als Reichsgesetz mit allgemeiner
Gültigkeit geplant, trat das Religionsgesetz schließlich nur für die Protestanten
(5)und ihre Territorien in Kraft.6 Die Ausnahme der altgläubigen Reichsstände
sowie die Forderung, dass außer Laienkelch und Priesterehe7 alle von den
Protestanten vorgenommen Änderungen in der Lehre und in den kirchlichen
Zeremonien bis zu einem endgültigen Entscheid des Konzils zurückgenom-
men werden sollten, rief bei protestantischen Theologen heftigen Wider-
(10)spruch hervor, während protestantische Reichsstände aufgrund der politi-
schen Gegebenheiten eher zu lavieren versuchten.8 Hatte Karl V. eigentlich
streng verboten, öffentlich über das Gesetz zu disputieren oder dagegen zu
schreiben,9 so erschienen doch fortan unzählige Streitschriften und Spott-
lieder gegen das nun sogenannte Interim.
(15)Eine Verteidigung der kaiserlichen Maßnahme durch katholische Autoren
unterblieb bis auf wenige Ausnahmen.10 Erst mit großer Verspätung sollte
dann Georg Witzel auf die Flut protestantischer Schriften und Lieder antwor-
ten und der protestantischen Polemik etwas entgegensetzen. Die verspätete
Reaktion lag dabei durchaus nicht an ihm. Bereits im Oktober 1548 hatte er
(20)offenbar zwei Schriften zur Verteidigung der kaiserlichen Religionspolitik
fertiggestellt,11 von denen eine die hier abgedruckte gewesen sein soll.12 So-
gar die Annahme, Witzel habe die hier edierte Schrift bereits bis Anfang Sep-
tember geschrieben, scheint gerechtfertigt zu sein.13 Wegen des kaiserlichen
Druckverbots fand er jedoch zunächst keinen Drucker für seine Werke, wor-
(25)über er sich beklagte, da die Gegenseite unablässig neue Drucke gegen das
Interim herausbringe.14 Die Drucklegung erfolgte somit erst im März 1549 in
Köln; dann aber mit kaiserlichem Druckprivileg. Angesichts der Wucht des
Widerstands veränderte sich im Laufe des Jahres 1548 somit offenbar die
kaiserliche Position in Bezug auf das Disputationsverbot, und Witzel wurde
(30)die öffentliche Verteidigung des Religionsgesetzes zugestanden. Dass er ein
kaiserliches Druckprivileg erhielt, lag dabei höchstwahrscheinlich nicht un-

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wesentlich an seiner Beratungstätigkeit15 für Karl V. auf dem Augsburger
Reichstag und seiner deutlich postulierten Hoffnung auf den Kaiser, nicht
den Papst, als Retter der Kirche und Vollender der Kircheneinheit. Aller-
dings stellt sich die Frage, warum dieser polemische Angriff auf die Witten-
(5)berger Theologen nach dem Leipziger Landtag vom Dezember 1548 über-
haupt noch erfolgte, hätte Witzel die in Leipzig gemachten Zugeständnisse
doch eigentlich als Erfolg für die altgläubige Seite ansehen und als deutli-
ches Zeichen des Niederganges der reformatorischen Lehre werten können.
Unkenntnis der Leipziger Vorgänge lassen sich Witzel nur schwer unterstel-
(10)len, da der Druck der eigenen Schrift erst im März 1549 erfolgte. Allerdings
hatte die Leipziger Landtagsvorlage noch keine Rechtskraft erlangt. Recht-
lich bindende Beschlüsse sollten in Kursachsen erst im Juli 1549 getroffen
werden.16 Fürchtete Witzel im März daher den Einfluss der Wittenberger
Theologen und glaubte, deren Position – jetzt, kurzfristig durch politische
(15)Rücksichtnahmen verändert – könnte sich auf lange Sicht gesehen wieder
der des melanchthonischen Bedenkens17 annähern? Hinzu trat bei ihm offen-
sichtlich der Wunsch, selbst aktiv an der Überwindung der Kirchenspaltung
mitzuwirken. Nach dem militärischen Sieg des Kaisers hoffte er wohl, die
Protestanten auch theologisch und publizistisch überwinden zu können. Die
(20)hier vorliegende Schrift muss daher in den Gesamtzusammenhang des Wit-
zelschen Œuvres und speziell seines publizistischen Schaffens 1548/49 ein-
geordnet werden. Sodann lässt sich feststellen, dass Witzel zahlreiche seiner
älteren Werke zu den Fragen der guten Werke und der Rechtfertigung in der
turbulenten Zeit nach dem Schmalkaldischen Krieg erneut auflegen ließ.18
(25)Auch die hier edierte Schrift beschäftigt sich gerade mit diesen Fragen inten-
siv, was die Witzelsche Ambition, die reformatorische Lehre nach der physi-
schen Niederlage auch geistig in den Kernfragen des Religionsdissenses zu
besiegen, unterstreicht.

2. Der Autor


(30)Georg Witzel wurde 1501 als Sohn des Schultheißen von Vacha, Michael
Witzel
, und seiner Frau, Agnes Landau, in Vacha geboren.19 Seine Mutter
verlor er bereits früh im Alter von nur acht Jahren. Die Beziehung zu der
zweiten Frau seines Vaters soll nicht gut gewesen sein. Erste schulische Er-
fahrungen sammelte er in seiner Heimatstadt. Ab seinem 13. Lebensjahr be-
(35)suchte er dann die Schulen von Schmalkalden, Eisenach und Halle. Im Win-
tersemester 1516/17 immatrikulierte sich Witzel an der Universität Erfurt,

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wo er zwei Jahre lang studierte und den akademischen Grad eines Baccalau-
reus erlangte. Daraufhin wechselte er an die Universität Wittenberg, wo er
jedoch nur wenig mehr als ein halbes Jahr blieb, um dann nach Vacha zurück
zu kehren und dort das Amt eines Pfarrschulmeisters zu bekleiden. 1521 er-
(5)folgte auf Anraten seines Vaters die Priesterweihe unter Bischof Adolf von
Merseburg
. Danach war Witzel Vikar und Stadtschreiber in seiner Heimat-
stadt. Zu Beginn der zwanziger Jahre veränderte sich seine Situation auf-
grund seiner Wendung zur reformatorischen Lehre grundlegend. Durch seine
Heirat mit Elisabeth Kraus, die aus Eisenach stammte, lernte er vermutlich
(10)den reformatorisch gesinnten Pfarrer Eisenachs, Jakob Strauß, kennen, als
dessen Mitarbeiter er an der Visitation Thüringens 1525 teilnahm. Auf
Strauß’ Empfehlung hin, erhielt Witzel Anfang 1525 auch die Pfarrstelle im
thüringischen Wenigen-Lüpnitz (Wenigenlupnitz). Dort versuchte er gegen
die Unruhen zu wirken, welche der Bauernkrieg mit sich brachte. Sogar an
(15)Thomas Müntzer selbst schrieb Witzel und beschwor ihn, von seinem Tun
Abstand zu nehmen. Diese Kontaktaufnahme brachte ihn jedoch in den Ver-
dacht, selber mitschuldig an den Unruhen gewesen zu sein. Rufschädigende
Beschuldigungen führten schließlich dazu, dass er seine Pfarrstelle in Thü-
ringen
aufgeben musste. Da er jedoch auf Luthers eigene Fürsprache verwei-
(20)sen konnte, wurde er ab Oktober 1525 Pfarrer in Niemegk bei Wittenberg.
Diese räumliche Nähe zu Wittenberg führte jedoch nicht zu intensiveren
Kontakten zu Luther und den anderen Wittenberger Reformatoren. Witzel
betrieb stattdessen eigene patristische Studien und lernte Hebräisch. Der hu-
manistische Hintergrund der theologischen Anschauungen Witzels wird da-
(25)durch deutlich. Schon 1527 wandte er sich in zwei heute verlorenen Schrei-
ben an Melanchthon und Jonas, in denen er sich offenbar kritisch über die
Verfassung der reformatorischen Kirche äußerte und deren Unterschiede zur
Jerusalemer Urgemeinde aufzeigte. Während der großen Kirchenvisitation
von 1529 trug Witzel dann seine Zweifel an der reformatorischen Lehre
(30)abermals vor, ohne jedoch Gehör zu finden. Am Religionsgespräch in Mar-
burg
nahm er zwar nur als Beobachter teil, verfasste dazu gleichwohl eine
Schrift – einen Dialog über die Kirche. Nur ein Jahr später sollte die Affäre
um Johannes Campanus, der mit seinen antitrinitarischen Überzeugungen öf-
fentlich aufgetreten war, üble Folgen für Witzel zeitigen. Wie schon 1525 im
(35)Bauernkrieg geriet er abermals in einen für ihn schlimmen Verdacht. Bei ei-
nem Aufenthalt von Campanus in Niemegk 1528 hatte er nämlich Kontakt
zu diesem gehabt und wurde nun beschuldigt, ebenfalls antitrinitarische Auf-
fassungen zu vertreten. Man nahm ihn fest und ließ ihn erst nach langen
Untersuchungen und wieder nur auf Fürsprache Luthers hin frei. Trotz des
(40)abermaligen Einsatzes des Reformators für ihn, war sein Bruch mit der
reformatorischen Bewegung nicht mehr aufzuhalten. 1531 bat er um Entlas-
sung aus dem Pfarrdienst in Niemegk und kehrte nach Vacha zurück. Seine
Publikationen führten dort aber zur Ausweisung durch Landgraf Philipp von
Hessen. Der Bruch zwischen Witzel und den Wittenberger Theologen war

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nun endgültig vollzogen, weshalb die Wittenberger einen Ruf Witzels auf
die Hebräischprofessur in Erfurt erfolgreich zu hintertreiben wussten. So war
ein Ergebnis der Rekonversion Witzels eine heftige publizistische Auseinan-
dersetzung mit den Wittenbergern in den dreißiger Jahren – vor allem mit
(5)Justus Jonas. Seine Ehe wurde auch nach seiner Rückkehr zum alten Glau-
ben vom Papst geduldet. Beruflich führte Witzel fortan ein Wanderleben.
Nachdem er zunächst Priester in Eisleben geworden war, wohin ihn Graf
Hoyer von Mansfeld gerufen hatte, folgte er nach dessen Tod einer Einla-
dung Herzog Georgs nach Sachsen. Maßgeblich sollte er dort 1539 am Leip-
(10)ziger Religionsgespräch beteiligt sein. Die alte Kirche, die Urgemeinde stellte
dabei für ihn das Vorbild dar, dem nachgeeifert werden und das als Grundla-
ge für eine Einigung zwischen den Religionsparteien dienen sollte. Nach
dem Tode Herzog Georgs im Jahre 1539 musste er das Herzogtum Sachsen
gleichfalls verlassen und fand Anstellung beim Fürstabt von Fulda. Publi-
(15)zistisch ungeheuer rege, verschaffte er sich im Religionsstreit immer wieder
Gehör. Auffällig dabei ist die humanistisch geprägte Positionierung Witzels
in den Streitigkeiten. Die Missbräuche in der eigenen Kirche prangerte er
genauso schonungslos an,20 wie er gegen die Reformatoren schrieb. So setzte
er fortan seine Hoffnungen auf den Kaiser und nicht auf den Papst oder das
(20)Konzil von Trient.21 Gerade durch das Augsburger Interim sah er die Möglich-
keit einer Einigung gekommen und verteidigte daher Karl V. und dessen Reli-
gionsgesetz durch die hier edierte Schrift. 1552 floh Witzel aus Fulda vor den
heranrückenden Truppen des sächsischen Kurfürsten. Nach einem Aufent-
halt in Worms siedelte er nach Mainz über, wo er bis zu seinem Tode lebte.
(25)In den fünfziger Jahren nahm Witzel an den Reichstagen von 1557 und 1559
teil und wurde von Kaiser Ferdinand I. immer wieder mit der Erstellung von
Gutachten beauftragt. Darüber hinaus hielt er seine intensive publizistische
Tätigkeit bis zu seinem Tod am 16. Februar 1573 aufrecht.

3. Inhalt


(30)Witzel sucht mit seiner Schrift die Auseinandersetzung mit Melanchthon und
den anderen Wittenberger Theologen. Dies mag zum einen daran liegen,
dass das melanchthonische „Bedenken“ eine der ersten publizistischen Reak-
tionen der Protestanten auf das Interim war.22 Ein zweiter Grund wird wohl
in der auch nach Luthers Tod immer noch bedeutenden Autorität der Witten-
(35)berger Theologen für die Protestanten im Reich zu suchen sein.23 Denn eigent-
lich hätte Witzel ebenso jede andere Schrift eines an der anti-interimistischen

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Publizistik beteiligten Theologen als Angriffsziel auswählen können, da ihm
einige solcher Drucke durchaus bekannt waren, ihm teilweise sogar verwerf-
licher erschienen als das melanchthonische „Bedenken“.24 Wenn Witzel auf
Melanchthon und die Wittenberger Theologen eingeht, so wohl deshalb, weil
(5)sie und ihre Autorität für ihn die Hauptgegner in einem Kampf um die Deu-
tungshoheit über das Interim darstellten, die es zu widerlegen galt. Überdies
waren die Wittenberger Theologen als Ratgeber des neuen Kurfürsten Mo-
ritz
von Sachsen maßgeblich in die politischen Prozesse innerhalb Kursach-
sens eingebunden. Bei der engen Verbindung von Politik und Religion in der
(10)Argumentation seiner Schrift, kann es daher nicht verwundern, wenn Witzel
die einflussreichen Wittenberger als Gegner auserkor. Neben dem „Bedenken“
war Witzel zudem auch das Meißner Gutachten der Wittenberger Theologen
bekannt, in dem diese ausführlich die Mängel des Interims in Bezug auf die
Rechtfertigungslehre darstellten.25 Dies scheint Witzel ebenfalls zum Anlass
(15)seiner Widerlegung genommen zu haben. Das „Bedenken“ ist somit nicht als
der alleinige Ausgangspunkt und die einzige Referenz für Witzels Gegen-
schrift zu betrachten. Ein dritter Grund für den Angriff auf Melanchthon ist
in der Intention der Witzelschen Schrift zu finden, bietet ihm die Übernahme
der Gliederung der melanchthonischen Schrift doch die Möglichkeit, nicht nur
(20)das Interim allgemein gegen die Angriffe der Protestanten zu verteidigen,
sondern die reformatorische Lehre insgesamt systematisch anzugreifen.
Die ersten Seiten der Witzelschen Schrift sind – ohne dass es einen solchen
Gliederungspunkt als Zwischenüberschrift gäbe – eine Einleitung. Witzel
verbindet hier geschickt politische und religiöse Gesichtspunkte. Die Forde-
(25)rung nach Kaisertreue der Protestanten paart sich bei ihm mit der nach Kir-
cheneinheit. Damit verschwindet eine klare Konturierung der politischen
Maßnahmen einerseits und der theologischen Fragestellungen andererseits,
ja die Begriffe „Kaiser“ und „katholische Kirche“ werden sogar synonym
verwandt.26
(30)Sodann wird die reformatorische Lehre in Gänze von ihm als falsch und ab-
göttisch dargestellt und ihre Widerlegung unternommen. Grundsätzlich wird
den Angehörigen der Wittenberger Reformation vorgeworfen, Spaltung zu
betreiben. Sie hätten sich in der Vergangenheit nie mit Kompromissen und
Zugeständnissen zufrieden gegeben, und genauso würden sie auch jetzt han-
(35)deln. Trotz des zugestandenen Laienkelchs und der erlaubten Priesterehe, trotz
der stetigen Beteuerungen, sich den Beschlüssen eines Konzils unterwerfen zu

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wollen, trügen die Protestanten tatsächlich jedoch nichts zur Kircheneinheit
bei. Das Interim wolle diese Einheit wieder herstellen und damit bestünde
für die Protestanten nun die Gelegenheit zu beweisen, wie ernst es ihnen da-
mit sei. Auch sei es falsch, wenn sie vorgäben, durch die Bestimmungen des
(5)Interims würde das wahre Evangelium verfolgt. Die Kirche könne nie eine
Verfolgerin sein. Sie leite im Gegenteil stets zur Besserung, zum Evangelium
und zum rechten Glauben. Immer wieder kommt Witzel daher in seiner Schrift
auf die Frage nach der rechten Kirche zurück und entwickelt dabei einen
strikten Dualismus, indem er nachzuweisen versucht, dass die reformatorische
(10)Lehre die einer Sekte, die altgläubige Lehre hingegen die der wahren Kirche
sei. Dies werde, so Witzel, schon allein daran erkenntlich, dass die Wahrheit
nicht seit der Geburt Christi verborgen gewesen sein könne, um dann von
Luther wiederentdeckt zu werden. Nach der Niederlage im Schmalkaldi-
schen Krieg seien die Protestanten wohl gemäßigter und verlangten nach
(15)Frieden, doch in der Sache würden sie keinen Fußbreit von ihren falschen
Lehren abstehen. Nun begehrten sie, gehört zu werden, wenn Veränderungen
zum Besseren, zur wahren Lehre vorgenommen werden sollten. Weshalb, so
fragt Witzel, sollte aber der Kaiser auf ihre Wünsche eingehen? Schließlich
hätten sie die Kirche in all den Jahren aufs heftigste geschmäht, indem sie
(20)altgläubige Stände mit Krieg überzogen und vertrieben hätten. Nie hätten sie
etwas um die Meinung der Altgläubigen bei der Einführung ihrer Neuerun-
gen gegeben.
Detailliert widerlegt Witzel die Kritik der Wittenberger Theologen, wobei die
Übernahme der Gliederung des Wittenberger Bedenkens die Unterschiede
(25)ganz deutlich erkennen lässt und ihm die Themen vorgibt. Besonders scharf
und sehr umfangreich greift Witzel die reformatorische Rechtfertigungslehre
an. Mit dem Verweis auf den Glauben allein und die Negation der Notwen-
digkeit von guten Werken, schlössen die Protestanten die Liebe und deren
aktive Verwirklichung in guten Werken aus. Diese aber, so sage der Apostel
(30)Paulus, sei jedoch das Größte und Johannes schreibe sogar, dass sie Gott sel-
ber sei. Mit dem reformatorischen sola fide und dem Ausschluss der Liebe
sei die Kirchenzucht gänzlich zerrüttet worden. Gewissenlose Menschen und
Übeltäter würden sich freilich über diese Lehre freuen, da sie nun ihren
Glauben im Tun nicht mehr bewähren müssten und somit jede ethische Kon-
(35)sequenz des Glaubens fehle. Punkt für Punkt behandelt Witzel zudem die Sa-
kramentenlehre, Priesterweihe, Ehe, Messe und letzte Ölung. Sie werden
nach altgläubiger Lehre als schriftgemäße Sakramente entfaltet und jeweils
der, in Witzels Augen, falschen reformatorischen Lehre gegenübergestellt.
Als entscheidender Maßstab für die Richtigkeit der eigenen Glaubensüber-
(40)zeugungen und Lehrmeinungen gilt Witzel der Rekurs auf die Kirchenlehrer.

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4. Ausgaben

Nachgewiesen werden kann eine Ausgabe, die in der Offizin des
Johann Quentel27 in Köln gedruckt wurde:
A: Bestendige Ant= || wort wider der Luterischen || Theologen Bedencken /
(5)|| welchs sie widers || Interim || geschrie= || ben / || GEOR. VICELII
FACCHENSIS. || Gedrckt zu Cln durch Johan Quentel / || im Mertz
des Jars 1549. || Cum gratia & Privilegio Imperiali || ad Quadriennium
. ||
[57] Bl. 4° (VD 16 W 3869)
Vorhanden:
(10)Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz: Dg 4648
Budapest, Országos Széchényi Könyvtár (Nationalbibliothek): Ant. 2700
Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek: 8 PATR
LAT 274/6(9)
Gotha, Forschungsbibliothek: Theol.4 258/1(9)R
(15)Halle, Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt: Vg 1217,QK
Jena, Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek: 4 Bud.Hist.eccl.271
(28)
Lutherstadt Wittenberg, Bibliothek des Lutherhauses: Ag 4 273 l, Kn A
152/848
(20)München, Bayerische Staatsbibliothek: 4 Dogm. 529 Beibd.1 [benutztes
Exemplar], 4 Dogm. 612 Beibd.3, 4 Polem. 3216 Beibd.1, 4 Polem. 3365-6
Trier, Stadtbibliothek: 2 an: B II 33.8
Wien, Österreichische Nationalbibliothek: 11.V.21
Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek: J 732.4 Helmst.(3)
(25)Aufgrund des späten Drucks der Schrift ist davon auszugehen, dass Witzel
zunächst wohl der erste Druck des „Bedenkens“ als Vorlage für die Erwide-
rung gedient hat. Aufgrund der langen Wartezeit zwischen der Fertigstellung
und der Drucklegung, wurden von Witzel wahrscheinlich nachträglich Kor-
rekturen am Manuskript vorgenommen, als die zweite Auflage als Bedenken
(30)der Wittenberger Theologen erschien. Dafür spricht jedenfalls der schwan-
kende Gebrauch von „dir“ und „dein“ einerseits und „ihr“ und „euch“ ande-
rerseits.
In kleineren Auszügen ist die Schrift Witzels – ohne jegliche editorische
Anmerkungen – bereits abgedruckt worden bei: Döllinger, Reformation I,
(35)53, 77, 86f., 91, 95f., 116.

Kommentar
1  Vgl. Gerhard Müller, Art. Tridentinum 3.1–2, in: TRE 34 (2002), 65–68, bes. 67f.
2  Zum Streit zwischen Papst und Kaiser: Jedin, Konzil, III, 3–215.
3  Vgl. dazu: DRTA.JR XVIII, 2; ARC 5; Rabe, Reichsbund, 240–272, 407–449; Rabe, Entste-
hung des Ausgburger Interims
.
5  Zu den Verhandlungen an der Kurie und den dort erstellten Gutachten: vgl. Jedin, Konzil III, 204f.
6Augsburger Interim (Vorrede), 32–34.
7Augsburger Interim XXVI (Von den ceremonien und gebrauch der sacramenten), 142.
8  Vgl. die als Nr. 13 edierte Antwort der Mansfelder Grafen an Karl V. und den im Anhang
edierten Briefwechsel (unsere Ausgabe S. 723–726, 973978). Zu den Versuchen der Mansfel-
der, im Verbund mit Kursachsen zu handeln: vgl. Wartenberg, Interim in Mitteldeutschland, in:
Schorn-Schütte, Interim
, 233–254, bes. 235–242.
9Augsburger Interim (Vorrede), 34.
11Georg Witzel an Julius von Pflug. 8. Oktober 1548, in: Julius Pflug, 144–146.
12  Zu weiteren Stellungnahmen Witzels vgl. Herrmann, Das Interim in Hessen, 185–189;
Richter, Schriften Georg Witzels, 152–156.
13  Vgl. Henze, Liebe zur Kirche, 211, Anm. 8.
14Georg Witzel an Julius von Pflug. 8. Oktober 1548, in: Julius Pflug, 145f.
16  Vgl. Wartenberg, Kirchen- und Religionspolitik, in: Blaschke, Moritz von Sachsen, 163–172,
bes. 169f; PKMS IV, Nr. 396, S. 449f.
17  Vgl. das Bedenken Melanchthons, unsere Ausgabe Nr. 1, S. 59–75.
18  Vgl. Henze, Liebe zur Kirche, 110f; 209–242.
19  Vgl. zum folgenden: Henze, Liebe zur Kirche; Trusen, Reform und Einheit, 8-28; Bäumer,
Witzel
; Heinz Scheible, Art. Witzel, Georg, in: RGG4 8 (2005), 1672f; Ute Mennecke-Haustein,
Art. Witzel, Georg, in: TRE 36 (2004), 257–260.
20  Vgl. Witzels Meinung über das Konzil von Trient in der hier edierten Schrift, Blatt G 4r (Seite
834).
21  Vgl. Henze, Liebe zur Kirche, 234–242.
22  Vgl. das Bedenken Melanchthons, unsere Ausgabe Nr. 1, S. 59–75.
23  Die sich am Interim entzündenden Streitigkeiten sollten, zusammen mit Luthers Tod 1546, zu
einem erheblichen Autoritätsverlust der Wittenberger Theologen führen. Vgl. Kohnle, Wittenber-
ger Autorität
, bes. 197–200.
24  Bekannt waren ihm neben dem „Bedenken“ Melanchthons jedenfalls verschiedene unter Pseu-
donym erschienene Schriften des Flacius, sowie Schriften Bernhard Zieglers, Kaspar Aquilas,
Antonius Corvinus` und das Meißner Gutachten der Wittenberger. Als gefährlichste Schrift be-
zeichnete er sogar Amsdorfs „Antwort, Glaub und Bekenntnis aufs Interim“, unsere Ausgabe Nr.
7, 213–236) Vgl. Georg Witzel an Julius von Pflug. 8. Oktober 1548, in: Julius Pflug, 145.
25  Vgl. Iudicum V. de libro Interim, in: CR 7, 12–45, bes. 16–24. Zur Drucklegung dieses Gut-
achtens vgl. unsere Ausgabe, Nr. 1, Einleitung, S. 45.
26  Vgl. zu dieser Auffälligkeit im Denken Witzels: Henze, Liebe zur Kirche, 211–234.
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