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Subpriorin Walburga Graurock im Kloster Ebstorf an Propst Nikolaus Graurock im Kloster Lüne
nach 19. Oktober 1481, vor 1483
Lob der Observanz — In praise of observanceKloster Lüne, Hs. 15, Lage 10, fol. 19r
Lateinisch.
Die Ebstorfer Subpriorin vergleicht die Einführung der strengen Observanz im Kloster Lüne mit dem Wiederaufbau Jerusalems in 2.Mcc 1 und setzt Propst Graurock mit Nehemia gleich. So wird Jerusalem zum Kloster: Die Mauern stehen für die Klosterdisziplin, die durch schlechte Gewohnheiten ruiniert war, die verbrannten Türen für die Klausur, die man aus Eigensinn missachtet hatte. So hatte der Feind (Nebukadnezar) die Töchter Jerusalems (die Nonnen) in die babylonische Gefangenschaft entführen können. Doch Nehemia (Graurock) sei gekommen, habe die Mauern (die Observanz) wieder hergestellt, die Türen (die Klausur) repariert und die Gefangenen in ihre Heimat (die Regeltreue) zurückgeführt. Das von Nehemia gesuchte „verborgene Feuer“, mit dem das erloschene Altar-Feuer im Tempel zu Jerusalem wieder entfacht werden sollte, steht für die Ebstorfer Priorin Mechtild von Niendorf. Sie war im Oktober 1481 aus Ebstorf gekommen, um die Einführung der strengeren Observanz im Kloster Lüne zu überwachen. Die Opfergaben im Tempel des Herren, die durch das „aqua crassa“ aus dem verborgenen Brunnen (Kloster Ebstorf) entzündet wurden, sind die Nonnen im Kloster Lüne.
The Prioress of Ebstorf compares the introduction of strict observance in Lüne to the rebuilding of Jerusalem in 2 Maccabees 1 and likens Provost Graurock to Nehemiah. She praises Graurock’s love for the Lüne nuns as all-enduring and all-sustaining (just as Christian love is described in 1 Corinthians 13) and, in words drawn from Isaiah 61 and the Magnificat, expresses her joy in his achievement. The walls of Jerusalem (the convent) stand for the conventual discipline which had been ruined by bad habits, and the burnt doors for seclusion which had been disregarded out of stubbornness. Hence, Nebuchadnezzar (the enemy) was able to abduct the daughters of Jerusalem (the nuns of Lüne) into captivity in Babylon. However, Nehemiah (Graurock) comes, restores the walls (strict observance), repairs the door (restores seclusion) and leads the captives back into their homeland (regular life). The “hidden fire” that Nehemiah sought to rekindle the altar fire in the temple of Jerusalem represents Prioress Mechtild von Niendorf, who had come from Ebstorf in 1481 to supervise the introduction of strict observance in Lüne. The altar sacrifice in the temple of the Lord by which the ‘aqua crassa’ from the hidden well (Ebstorf) was kindled represents the nuns of Lüne. Her praise of the Provost’s contribution to introducing strict observance in Lüne is somewhat backhanded in the second half of the letter, suggesting that it had not been lost on the Prioress that the Provost had devoted much of his time to the affairs of the cathedral chapter in Lübeck prior to the reform of Lüne, and thus that he had accepted rather than initiated the reform of Lüne. She gently reminds the Provost that he is already sixty years old and thus that it is high time to think about the salvation of his soul. Drawing on the parable of the Wedding at Cana in John’s Gospel, she suggests that just as Jesus turned the six jars of water into wine, He can also turn the water of the first sixty years of the Provost’s life into good wine. She encourages him to withdraw from worldly affairs and instead focus on being a good worker in God’s vineyard (Matthew 20), praying that he will receive a golden crown in Heaven for every nun who he leads back to strict observance and that he may be one of the assessors at the Last Judgement and that he may hear Jesus summoning those who God has blessed to Heaven, as promised in the Book of Isaiah and Matthew’s Gospel (a fitting prayer for a man with legal training like Graurock).
1 Tempus affuit quo sol refulsit qui
2 prius erat in nubilo Machabeorum 2° 1°)!1
3 Reverende domine et in Christo patrue perdilecte
4 ratissime scio et credo vos uti doctum
5 et illuminatum virum et magistrum artium
6 liberalium2 et in sacra divina pagina
7 auspicabiliter illustratum non latere per mensama
8 per visa que in temploc Dei erat in tabernaculo
9 quatuor pedibus
fulta sacram scripturam
10 IIIIor sensus continentem designare
11 videlicet historiacum allegoricum
12 tropologicum anagogicum3 Karissime
13 patrue scio etiam vos non ignora
14 re qualiter doctor gentium dilectus proprius
175 Venerabili ac commendabili viro domino
176 magistro Nicolao Grawerock ecclesie
177 Lubicensis38 necnon monasterii in Lune prepo=
178 sito in Christo iugiter sibi venerando
a in mg.
b per visa que in templo
c davor in mg. überschüssig que
d zu korrigieren in tropologice
e hier unleserliche Streichung
f hier gestrichen potuit
g zu korrigieren in quot
2 Zum mit der Verfasserin Walburga Graurock verwandten Lüner Propst Nikolaus Graurock, vgl. Einleitung, Kap. 2.3.1.; ‚Klerikerbiographie‘.
3 Honorius Augustodunensis, Gemma animae, lib. 3, cap. 106 (De mensa tabernaculi), in: Migne PL 172, Sp. 669: Mensa in tabernaculo Dei erat quatuor pedibus fulta, per quam designatur sacra Scriptura, quatuor supradictis nominibus instructa. Vom vierfachen Schriftsinn war in cap. 104 die Rede gewesen: Quatuor autem lectiones per quatuor huius diei sacramenta leguntur, et quia quatuor genera fidelium, scilicet simplices, intelligentes, provecti, sapientes, quatuor nominibus erudiuntur, videlicet per historiam, per allegoriam, per tropologiam, per anagogen erudiuntur. Vgl. Ex 37,13; Ex 15,23-27.
4 Zu Paulis als Eigenapostel Graurocks vgl. Lähnemann, Apostelverehrung (2015).
6 Ein Relativsatz folgt nicht – wenn die Abschrift nicht fehlerhaft ist, ist modicum quod hier wohl im Sinne von „das Wenige [hier niedergeschriebene]“ zu verstehen.
8 Wie im ‚Magnificat‘, Lc 1,46-47: Magnificat anima mea Dominum, et exsultavit spiritus meus in Deo salutari meo.
10 Die scripta sind der vorliegende Brief – die Verfasserin identifiziert sich mit dem ekstatischen Benjamin und bittet um Nachsicht für ihre Begeisterung.
13 Der Verfasser des biblischen Buches Nehemia bezeichnet sich in 2.Esr 1,11 als Mundschenk (pincerna) des persischen Königs. Der Name des Herrschers wird in 2.Esr 5,14 genannt, es ist Artaxerxes I. (465-424 v. Chr.), der ihn im zwanzigsten Jahr seiner Regierung zum Statthalter über das Land Juda (die damalige persische Provinz Juda) einsetzte.
14 2.Esr 1,3-5; aufgrund des Berichtes von der Zerstörung Jerusalems bittet Nehemia, der jüdischer Herkunft ist, seinen Herren, den König, ihn dorthin, „in das Land, wo seine Väter begraben sind“, zu entsenden (vgl. 2.Esr 2,3-5). Als er dort eingetroffen ist, lässt er die Mauern der Stadt wieder aufbauen und stellt den Tempelkult wieder her.
15 Vgl. 2.Esr 2,8-9; 2.Esr 1; und die ganzen Kapitel 3 und 4, die den Wiederaufbau Jerusalems zum Gegenstand haben.
16 2.Mcc 1,19, während des Exils hatten die Priester das geheiligte Feuer des Tempels versteckt in valle ubi erat puteus altus et siccus.
17 Nachdem Nehemia den Tempel wieder aufgebaut hatte, ließ er das Feuer suchen, doch es war nicht mehr da. Dafür hatte sich der zuvor trockene Brunnen mit einem „zähen“ Wasser (aqua crassa) gefüllt. Nehemia gebot den Priestern, damit die Opfergaben zu besprengen und sogleich tratt die Sonne, die bis dahin von Wolken verdunkelt war, hervor (darauf bezieht sich der erste Satz des vorliegenden Briefes), und ein großes Feuer verzehrte die Opfergaben (2.Mcc 1,21-22).
18 Vgl. 2.Mcc 1,22.
21 Vgl. Kommentar zu fol. 20r.
23 Babylonisches Exil unter Nebukadnezar II. (605-562 v. Chr.), seit dem Jahre 597 v. Chr. (vgl. Ier 52). Nachdem die Perser unter Kyros II. die Babylonier geschlagen hatten, erleichterte sich das Los der Juden.
24 Gemeint ist wohl die Ebstorfer Priorin Mechtild von Niendorf.
26 Die Verfasserin greift das Thema ihres Briefes wieder auf.
27 Möglichweise Kritik am Lebenswandel des Propstes, der sich in den Jahren zuvor viel um seine Karriere im Lübecker Domkapitel gekümmert hatte und nicht ständig in Lüne anwesend war. Die Reform des Klosters, die ihm der Verdener Bischof verordnet hatte, hatte er eigentlich wohl eher hingenommen als initiiert.
28 Der Propst muss also um 1422 geboren sein.
29 Auf der Hochzeit zu Kanaan (Io 2,1-10) – die bisherigen Werke des Propstes waren also eher Wasser, aber durch Gottes Gnade soll nun der gute Wein folgen.
30 Die prior pars seines Lebens war von Prozessen und Händeln um seine zahlreichen Pfründen geprägt gewesen. Vgl. dazu Einleitung Kapitel 2.3.1.
32 Anspielung auf das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg des Herren (Mt 20,1-16).
33 Walburga Graurock stellt ihrem Onkel in Aussicht, dass er für jede Nonne, die er in Lüne zur Regel-Observanz gebracht hat, eine goldene Krone im Himmel bekommt und Anteil am himmlischen Lohn, der den Jungfrauen verheißen ist, erhält.
35 Der Wunsch, dem Propst möge ein Posten als Beisitzer beim Jüngsten Gericht zuteilwerden, passt zu Graurocks juristischer Ausbildung.
38 Graurock hatte das Amt des Dompropstes zu Lübeck am 28. November 1475 gegen eine jährlichen Pension von 25 Rheinischen Gulden vom cubicularius pape, Tideo Marescotti aus Bologna, gekauft, der es seinerseits von seinem Onkel, Achille Marescotti hatte, welcher es aus dem Nachlass des Dietrich Calvis erworben hatte, der am 13. August 1473 an der Kurie verstorben war, Stenzig, Netzwerke (in Druckvorbereitung), Kap. 2h.