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Brief 195

Nonne im Kloster Lüne an ihren Bruder

undatiert

Genesungswunsch an kranken Bruder — Letter to a sick brother

Kloster Lüne, Hs. 15, Lage 15, fol. 12r

Niederdeutsch und Lateinisch.

Die Absenderin habe von der Frau des Empfängers von seiner schweren Krankheit erfahren. Sie sei bereits in Sorge gewesen und habe sich schlecht gefühlt, was sich nun erkläre. Er sei ihr einziger Verwandte; sie würde ihm herzlich gern helfen und für ihn beten. Durch Leid und Pein erwerbe man den Weg in den Himmel, also bittet sie ihn um geduldiges Ertragen. Christus werde ihm sicher helfen. Er möge aber heiße Getränke vermeiden und vielmehr Ziegenmilch mit Brunnenkresse trinken; dies hätte vielen erkrankten Nonnen im Kloster wieder auf die Beine geholfen.

The Lüne nun has heard from her sister-in-law about her brother’s severe illness, presumably her only living relative. She wishes him a speedy recovery and hopes that he will soon be well. Moreover, she recommends that he avoids hot drinks and takes a cure made out of goat’s milk and watercress. This has helped many sick nuns in the convent to get back on their feet again.

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[Lage 15, fol. 12r]

[J]esuma Christum, den oversten arsten, de us so leff heft ghehat, dat he us allen ghewascken heft in synem egene duren blode van unsen sunden unde heft us so geloset van der crancheit des ewigen dodes, den scrive ik dy, myn alderleveste broder, myd minem unwerdigen bede vor enen trostliken grod in medelinge mines herten!

So ik van dyner Ersamen husvrouwen, miner leven N, hebbe gehord, dat du leyder seer kranck bist, dat is mi led van grunt mines herten. Ick hebbe lange tyd grote sorge unde bekummeringe van dynentwegen hat, do du so lange uthe werest unde ik nicht konde weten, wo it dy gynck. Myn herte heft my vaken seer we dan unde gekullen alse eyn swere unde was mir so seer beklemmet, dat ik sulven nicht wuste, wat my schelen mochte, sunder nu vole ik ersten rechte, wat my sus lange heft ghescadet, dat heft dyn crancheit gewest, wente [Lage 15, fol. 12v] vlisck unde blod tuth jo tho, unde du bist jo myn ynege unde myn alderleveste N, unde ik hebbe nenen anderen meer, wan dy allene, darumme mach ik wol van dy scriven, dat du sist dimidium anime mee,1 alse sunte Augustinus van synem leven frunde, wente ik hebbe dy so leff alse mine egene sele unde konde ik dy myn herte mededelen unde wormede helpen, dat dy mochte vromen to suntheit dynes lyves unde dyner sele, wo gherne ik dat doͤn wolde, is Gode bekant, de myn herte wol weth, unde dat hefstu vaken in my wol vordenth unde egedest dat ok wol umme der groten leve unde truwe willen, de du mi vaken hefst bewiset, dat ik nummer jegen dy vorschulden kan, doch wat ik in mynem bede doͤn kan, dat wil ik myd der hulpe Godes nicht vorsumen, sunder na allem vormoge dyner denken, alse ik dy plichtich byyn. Vorder so du wol west uth der hilgen scrift, dat God de here dem mynschen, den he leff heft, vaken lydent unde krancheit des lichames tosent in eyn sunderick teken der leve, alse wy hebben Apocalypsis IIIo: „Ego quos amo, arguo et castigo“,2 unde dat schud alle to der salicheit alse sunte Augustinus scrift: „Adversa corporis, anime remedia sunt; egritudo carnem vulnerat, sed mentem curat“,3 unde darumme sunte Paulus: „Quando infirmor, tunc fortior sum et potens.4 Unde wy synt alle darto ghescapen, dat wy den ewigen froliken hemmel scolt besitten unde God [Lage 15, fol. 13r] beschouwen to ewigen tyden myd allen saligen in der hogen hemmelsborch Jerusalem, de genomet wert eyn ghesichte des vredes: „ubi absterget Deus omnem lacrimam etc.“,5 unde dar hore wy rechte to Hus, alse sunte Paulus secht: „Non habemus hic manentem civitatem sed futuram inquirimus“,6 unde dat is dat ewige hemmelsche vaderlant, dat us allen angestorven is in dem dode Jesu Christi, unde wol dat wy dar rechte erfnamen to synt, nachdem dat us use leve salichmaker dat so dure gekoft heft, mit synem egen duren blode, so konne wy dar doch nicht henkomen, wy motet darsulven na arbeyden unde jo wes umme lyden, alse de leven hilgen hebben ghedaͤn, de so grote, bittere, sware pyne hebben geleden, alze Sapientia steit screven: „Tamquam aurum in fornace etc.7 in finem unde darvoͤr synt se nu gheleydet in terram promissionis, terram fluentem lacte et mel“,8 dar se nu sadet werdet van der honnichvletenden vorclarden mynscheit Jesu Christi unde van syner waren unbegripeliken gotheit unde bruket nu der groten vroude, „quod nec oculus vidit etc.9 Unde wil wy desulven vroude myd jum besitten, so mote wy hir ock lyden, quia si conpatimur et conregnabimus10 unde wy motet ock duldich syn in unsem lydende, wente Hugo secht: „Celestis illos exspectabit gloria, in quibus vera inventa fuerit pacientia.11

Hirumme, myn alderleveste, bydde ik dy fruntliken in susterliker leve, dat du jo willest duldich syn in dyner krancheit, unde sette al dynen trost in den soten Jesum, de is so mylde [Lage 15, fol. 13v] unde so barmhertich, dat he nemende vorlet; de wel dy wol helpen, wan it eme behaget; du konst dar nicht to kranck to wesen, he kan dy wol wedder stercken unde suntheit vorlenen, wente he heft unse levent in synen henden; darumme gif dyn herte to vrede; ik hope, ift Got wil, du scolt dat wol wedder vorwynnen, men vorwaͤr dy jo vor heten drencken unde drinckb jo seghenmelk unde waterkersen,12 dat heft hir velen junchfrowen holpen, de so kranck legen, dat se enen vothstappen nicht konden ghaͤn, de dat jo hebben vorwunnen unde desulve God, de jum holpen heft, de is noch like mechtich, de kan dy ock wol helpen, ift dy dat nutte is.

Hirmede bevale ik dy in Marien scod, sunt unde salich to langen tyden. Amen.


Kritischer Apparat

a Textergänzung in mg. durch Nolte mit Bleistift J

b in der Hs. drick


Sachapparat

1 Beliebte Formel, die auf Horaz, Carmen 1,3 gerichtet an Vergil, zurückgeht, vgl. Kommentar zu Brief 155 (Lage 13, fol. 8r).

2 Apc 3,19.

3 Incertus 184, De modo bene vivendi, 184; Bonaventura, Phaetra Lib. IV, De Gratiosis, Cap. XLVIII in: Opear Omnia, ed. Peltier, vii (Paris: 1866) schreibt es Isidor, Synonymis c. VII, zu.

4 2.Cor 12 10.

5 Apc 21,4.

6 Hbr 13,14.

7 Sap 3,6.

8 Ex 3,17.

9 1.Cor 2,9.

10 1.Cor 2,9.

11 Nicht identifiziertes Zitat.

12 Zu Diätvorschlägen bei Krankheit vgl. Bülters, Wissen (2022), Kap. III. 2.2, Heilkundliche Praxis im Klosternetzwerk.

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