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Brief 246

Konvent im Kloster Lüne an eine weltliche Adressatin

undatiert

Glückwunsch zur Hochzeit — Congratulatory letter on marriage

Kloster Lüne, Hs. 15, Lage 18, fol. 1r

Niederdeutsch.

Die Absenderinnen gratulieren der Empfängerin zu ihrer bevorstehenden Hochzeit. Sie freuen sich, dass die Eltern das noch erleben. Weil sie einige Zeit im Kloster verbracht hat und ihre Eltern den Konvent stets unterstützt haben, wollen sie ein Zeichen der Liebe senden. Gott möge ihnen allen das ewige Leben schenken. Zum Hochzeitsfest senden sie Anna, Maria und Christus, die in der gleichen Liebe zur Empfängerin kommen mögen, wie Christus damals in den goldenen Schrein von Marias Schoß gekommen ist. Diese Gabe wiederum ist bereits in der Bundeslade und den darin befindlichen Tafeln, die Gottes dauerhafte Liebe zu den Menschen belegen, angedeutet worden. In dieser Liebe und einer glücklichen Stunde möge nun die Empfängerin in die Ehe eintreten. Wie die Mandeln an Aarons Stab möge die Empfängerin göttliche Weisheit aufnehmen und von einer Tugend zur nächsten wachsen, sodass sie und all ihre Nachkommen zur Frucht des Mandelkerns Christi werden, der aus Maria und Anna erwuchs. Sie möge jetzt und zukünftig die Süße der Menschlichkeit Christi schmecken, der als wildes Einhorn seinen Kopf in den Schoß Mariens legte und von ihr für die Menschheit festgehalten worden ist. Anempfehlung der Empfängerin und ihrer Gesellschaft an Marien Herz und Schoß.

The nun congratulates the recipient, a former pupil of the convent school, on her forthcoming marriage and is glad that the parents are alive to witness this. She felt called to write as the recipient had spent some time in the community and her parents have regularly supported the convent. The nuns send in their place as wedding guests a depiction of the Virgin and Child with St Anne. She and her parents should go to the celebration with the same love with which Jesus came into the shrine of Mary’s body, prefigured by the ark of the covenant. The writer draws on Paul’s letter to the Hebrews to compare the growth in virtues with almond trees. The letter concludes with a description of the mystical unicorn hunt.

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[Lage 18, fol. 1r]

Marien, den eddelen lilienstruck, de ghesproten is van dem hoghen konnichliken stamme hern Yesse alze eyn knenlick rodeke unde vordan upghewassen is in de lenghe vormyddest allen dogeden so hoge, dat Got alweldigha sulven wesen wolde eyn blome dar uppe, dar alle vorlaren mynschen mochten van entfanghen de vrucht des ewighen levendes, de sende we juw vor enen fruntliken grod myd usem kranken bede!

N, leve vrundinne, wy hebben wol vernamen, dat gy nu entfanghen scholt dat sacramente des hilgen echtes, dat de leve Got sulven hilget unde gheboden heft, des wy us myd juw vrouwen in dem leven Got, de juw darto levet laten heft unde ock juwe leven elderen so langhe vristet heft, juw to troste; alzo konne we des van leve weghen nicht laten, na dem male, dat gy io use leve kynt ghewesen hebbet, we musten iuw en luttik senden in en teken der leve, de we noch to juw hebben darumme, dat gy so rechte vrame unde bedderve weren alle de tyd aver, de gy hir myd usb noch plegen to wesende. Unde ock umme juwer leven elderen willen, de user samlinghe vaken vele ghude unde vruntschop bewiset hebben, des juw allen samtliken de barmhertighe Got neten late in der zele unde in dem lyve, in ere unde in gude in desser tyd unde geve juw na dessem levende dat ewighe, grote lon, dat he sulven is; unde wol dat we juw nicht geven kond, dar juw wes mede hulpen sy c; doch konde we juw worane behulplick wesen, dat juw vramen mochte in lyve unde in zele, dat dede we van herten gherne.

Alzo sende we juw in ene bewisinge use klenen clostergave unde de hilgen erbaren vrouwen sunte Annen, use leven grotermoder,1 myd der lustliken snewitten lilien Marien, der hemmelschen konigynnen, de se us ghetelet heft, unde darto Jesum Christum, de bloygenden roden rosen, de van er gheboren is us allen to vrouden unde zalicheit; de moten nu komen to juwer brudlacht in dersulven leve, dar he anekomen is in dat reyne kusckere [Lage 18, fol. 1v] junchvrowelke scryn Marien, syner levend uterwelden moder, de wol betekent wert by der arken Godes, de by den tyden Moysi unde Aaron ghemaket ward van deme manne Beseleel,2 darinne weren de twe stenen tafelen des vruntliken gheloftes, dat Got den kynderen van Israel ghelavet hadde, do se uth Egypten ghingen, so we vindet in dem drudden boke der koninge3 unde ok noch in anderen itliken steden des olden testamentes. Ock was de arcke buten unde bynnen betaghen myd dem alder luttersten unde claresten golde, dar we van lezet in Exodo.4 Unde na desser wise heft de eddele kuscke juncfrowe unde moder Maria ok vorguldet wesen buten unde bynnen myd dem golde der gotliken leve, unde in er heft de alweldighe Got behud de twe stenen tafelen synes hemelken, gotliken rades, den he hadde in syner ewighen wisheit, do he sik vorbarmen wolde aver dat mynschlike slechte; unde desse fruntliken vorsoninge heft he lecht in de guldenen arcken Marien eres reynen lyves, alze twe vaste stenen tafelen, do he syne unbegripelken gotheit verevigede in er myd user kranken mynscheit unde heft sik alzo vormiddest Marien myd us vorsonet unde vorbundene in der lefliken fruntscop, dat he unser nummer verghetten kan unde dat fruntlike loffte nummer breken kan.

Unde de sulven leve mote he ok nu an juw bestedighen in juwe liff unde zele, dat gy juw ok nu alzo sammelen moten in ener zalighen, luckinghen stunde, dat gy al de tyd juwes leven des moten tobringen in den hulden unde gnaden Godes, in vrede unde endracht unde juwer tydliken gudere alzo bruken moten Gode to eren in desser tyd, dat gy na dessem leven de des ewigen gudes sunder ende bruken moten. Ock alze de hilghe apostel Paulus scrift, [Lage 18, fol. 2r] dat in der arcken heft wesen de guldene ammer myd dem hemmelbrode unde de rode Aaron,5 dar mandelen uppe wassen weren, dar we by upnemen mogen de gotliken wisheit unde den vruchten Godes, dat de vermiddest der werkinge des Hilgen Geistes moten in juw bestediget werden, so dat gy juwer vernuft unde redelckeit wisliken bruken moten to zalicheit juwer zele unde so upwassen moten in dem vruchten Godes alze en wolrukende rodeke to gande van ener doget in de anderen unde dar vulherdich inne blyven, wente an den ende juwes levendes, up dat gy unde al dejennen, de noch van juw komen scolt, wente in dat neghede slechte moten dyen in dem lyve unde in der zele unde samdelich werden der vrucht des soten mandelenkernes, de up der lustliken, wolrukenden rodeken Marien wassen is, dat is ere leve kyndf Jesus Christus, dat gy dor de bede syner benedyeden junchvrowelken moder unde ok dor dat verdenst syner leven eldermoder sunte Annen alle der soticheit smecken moten alle juwe levedage besunder in der stunde juwes dodes, de gywerlde jenech gud ynnichg herte besmecketh heft6 van der soten mynscheit Jesu Christi unde boven alle, de Maria do volde, do sik war Got unde mynscke in der arken eres junchvrowelken schrynesi beslothen unde dat ware hemmelsche brod in er ghebacken ward in dem vure der gotliken leve.

Do de hochgelavede bassuner der Hilgen Drevaldicheit, Gabriel, to er sprac: „Ave gratia plena dominus tecum.7 Dar he do ene geystlike jacht begink8 myd den snellen jachtwynden der dogede alze der barmherticheit unde warheit, der rechticheit unde des vredes, de jagheden den sone Godes hastigen uthe [Lage 18, fol. 2v] deme vaderken schote, dat he vorwunnen ward unde ward so vormodet in deme hastighen, snellen lope der unsprekelken leve, dat he sprang alze eyn wilt enhorning in Marien schod unde lede dat horn syner grimmichenj rechverdicheit in de hende erer moderken barmherticheit,9 mildicheit unde dar holt se ene noch alle dage so vaste by unde harde, dat he nenerleye wise sik tornen kann uppe den mynschen, de Marien gherne anropt unde er denet. Unde desse lefmodighen fruntschopp der vorsoninge twisken eme unde deme armen sundere heft he so vast ghemaket in der stunde, do Maria her Gabriel sotelken wedder entieghen sangh unde sede: „Jk byn en derne Godes, my sche na dynen worden“,10 dat se nummer kan entwey ghan wente in dem junghesten dach, sunder he wel Marien underdanich wesen alze en kynt syner moder unde wel sik gerne verbarmen aver al de, dar se vor byddet.

Hirmede bevale we juw unde al de juwen in ere moderke herte unde in eren junchvrowelken schod, dat se juw darinne behode unde bescherme vor al dem, dat juw mochte schedelik syn an der zele unde an dem lyve unde sy by juw nachtes unde dages in allen stunden unde steden unde verlate juw nummer uth erer mildicheit so langhe, wente dat gy komen vor den speygel der Hilgen Drevaldicheit. Des help juw unde us allen de moder der barmherticheit. Amen.


Kritischer Apparat

a korrigiert aus de alwedlighe Got, Änderung der Reihenfolge angezeigt durch supra lin. a und b

b folgt gestrichen weren

c folgt überschüssig is

d folgt überschüssig moder

e korrigiert aus vorbunden vnde vorsonet, Änderung der Reihenfolge angezeigt durch supra lin. a und b

f in der Hs. kyd

g folgt gestrichen mynsche

h besmecket korrigiert aus smecket

i schrynes korrigiert aus schynes

j grimmichen korrigiert aus grimmicheit


Sachapparat

1  Die Betonung der hl. Anna als „unsere Großmutter“ weist auf die besondere Verehrung im Kloster Lüne, wie auch das Fenster mit Anna selbdritt im Kreuzgang zeigt. Darüber hinaus könnte es darauf hindeuten, dass der Brief an die gleiche ehemalige Klosterschülerin Anna gerichtet ist wie der folgende Brief 247 (Lage 18, fol. 2v-4r, der wie Brief 246 und Brief 248 (Lage 18, fol. 4v-5r) ebenfalls ein Glückwunschschreiben zur Hochzeit ist. Ansonsten begegnet die hl. Anna auch an anderen Stellen in den Briefen, z. B. als Patronin für ein neugeborenes Mädchen in Brief 375 (Lage 27, fol. 14v-16v).

2  Beseleel, die Vulgata-Namensform von Bezael, wurde von Moses beauftragt, die Bundeslade (arke Godes) zu bauen, vgl. die folgende Anm.

3 3.Rg 8,9: In arca autem non erat aliud nisi duae tabulae lapideae quas posuerat in ea Moyses in Horeb, quando pepigit Dominus foedus cum filiis Israël, cum egrederentur de terra Aegypti.

4 Ex 37,1: Fecit autem Beseleel et arcam de lignis setim, habentem duos semis cubitos in longitudine, et cubitum ac semissem in latitudine, altitudo quoque unius cubiti fuit et dimidii: vestivitque eam auro purissimo intus ac foris.

5 Vgl. Hbr 9,4.

6 gywerlde […] heft: „irgendwann irgendein gutes, inniges Herz gekostet hat.“

7 Lc 1,28.

8  Die Ikonographie der Einhornjagd beruht auf den in der ‚Biblia Pauperum‘ hergestellten Bezügen zwischen der jungfräulichen Empfängnis und Bibelstellen des Alten Testament, ausgeführt mit Gabriel als Jagdhornbläser (buchstäblich: Posaunenspieler, bassuner) und den Tugenden Barmherzigeit, Wahrheit, Gerechtigkeit und Friede als Windhunden (jachtwynden). Vgl. z. B. die Lesepultdecke aus Kloster Ebstorf, bei der auch das goldene Gefäß und der Stab Aarons angeführt sind, 4. V. 15. Jh., DI 76, Lüneburger Klöster, Nr. 60 (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0238-di076g013k0006001, oder der Marienaltar auf dem Nonnenchor in Isenhagen 1. V. 16. Jhr DI 76, Lüneburger Klöster, Nr. 107 (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0238-di076g013k0010709. Vgl. außerdem Vosding, Tausend Briefe (2021).

9 Physiologus latinus (Versio B), hg. von Carmody (1939), Cap. 16, S. 31: Sic et dominus noster Jesus Christus, spiritalis unicornis, descendens in uterum virginis, per carnem ex ea sumptam, captus a Iudaeis, morte crucis damnatus est; de quo David dicit: Et dilectus sicut filius unicornium; et rursum in alio psalmo ipse de se dicit: Et exaltabitur sicut unicornis cornu meum. Siehe auch Schmidt/Schmidt, Bildersprache (1981), S. 48-51, bes. S. 49, das Einhorn als Christussymbol, das im Schoß der Jungfrau lagert.

10 Lc 1,38.

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