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Brief 327

Anna van der Molen aus dem Kloster Lüne an ihre Eltern

nach 14. Juni 1502

Kinderbrief an Eltern — A child dictates a letter to her parents

Kloster Lüne, Hs. 15, Lage 23, fol. 13v

Niederdeutsch.

Brief 326 (Lage 23, fol. 12r-13v) Einleitung, Kap. 2.2.1.

Die junge Anna van der Molen teilt ihren Eltern mit, dass sie wohlauf und gern im Kloster ist und herzlich dafür dankt, dass sie nach ihrem Wunsch dem Konvent übergeben worden ist. Sie will es ihnen mit zunehmendem Alter durch gehorsames Klosterleben vergelten. Die Priorin hat sie sehr lieb und gibt ihr beim gemeinsamen Mahl stehts die besten Stücke der Speisen. Auf ihren Wunsch, zu den Eltern fliegen und ihnen sagen zu können, wie viel ihr der Klostereintritt bedeutet, hat die Domina geantwortet, sie nicht entbehren zu können, aber den Heiligen Geist als weiße Taube schicken zu wollen. Und auch wenn sie selbst fliegen könnte, würde sie doch all das Gute, was ihr im Konvent widerfährt, nicht tragen können. Die Eltern sollen bald mit zwei Verwandten zu Besuch kommen, sie hat mehr als zwei Stunden lang zu erzählen und kann nicht alles schreiben. Nach den Grüßen der Vermerk, dass es sich um ein Diktat des Mädchens handelt.

Anna thanks her parents for all that they have given her and hopes that when she is older and serves God in the convent that her prayers will have an effect. She will hold fast to what she has promised and be obedient to God, the prioress and the all the nuns. The prioress loves her as she loves herself, she eats from the same bowel as her and provides her with the best bites to eat, including chicken legs and wings. Anna would often say to the prioress that she wished that her parents knew how well she was. If she were a little bird and had two wings then she would fly to her parents and tell them how much she loved the prioress and how much she has given her. But the prioress would respond that she could not go without her and would ask the holy spirit that it fly to her parents in the form of a white dove and let them know in their hearts how well Anna is. Anna also thinks that if she had two wings and could fly then she could not take everything with her what she has been given. Therefore the parents should be satisfied and come and visit as soon as they can so that she can talk with them and say in words what she cannot put in writing. They should bring along their dearest family members and receive 300,000 good night wishes and be commended to a healthy and long life by God. The letter is signed off as dictated by Anna Molen and written by somebody else.

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[Lage 23, fol. 13v]

Kyntlike leve tovoren!

Myn alderleveste N unde N,1 ik, juwe leve dochter, do juck lefliken wethen, dat ik van Godes gnaden sunt unde wol topassen byn unde mach hir gherne wesen in dessem closter unde ik dancke juw des van alle mynem herten, dat gy mynen willen daͤn hebbet unde hebbet my darto holpen, data ik hirinne kommen byn unde hebbet my darto gheven allent, wes ik bederff hebbe; dar hebbet gy my dat wol inne bewiset, dat ik juwe leve kynt byn unde dat kanb ik nu noch van joget weghen nicht vordenen jeghen juw, men [Lage 23, fol. 14r] ik hope, wan ik nu groter werde, dat ik dem leven Gode hir in dessem wyngarden denen mach, so wil ik dat mydc mynem bede vorschulden unde juw aff vordenen, unde wat ik juw lavede, do ik by juw was, dat wil ik myd der hulpe Godes wol holden unde vullenbringhen unde wil user leven dompnen unde al den leven junchfrowen gherne behorich unde to willen wesen wor ik kan na allem vormoghe, unde ik byn, Got heft loff, in nene qwade daghe komen. Unse leve domina heft my so leff alze ere liff, ik ethe myd er uth erem vathe unde drincke myd er unde se socht my jo alle tyd dat beste uth unde gift my vaken de kuleken unde den vlogelken van dem honeken unde de knokeken van der anderen spyse, de ik gherne mach, de let se my alle tyd uthsoken unde ik segge jo vaken to er: „Och leve weske domina, ik wolde dat myn leve Nd unde N wusten, dat ik hir so wol byn unde wan ik en vogelke were unde hedde twe fluchte, so wolde ik to jum vleghen unde wolde jum segghen, wo leff gy my hebbet unde wo vele gy my geven hebbet.“ So secht den de weßke domina: „Neyn, myn leve kynt, ik mach dyner nu nicht enberen, ik wil bydden den Hilgen Geist, de scal alze eyn wit duve vleghen hen to dynen leven N unde N unde gheven jum in ere herte, dattu hir nicht [Lage 23, fol. 14v] ovel bist.Alderleveste N unde N, wan ik noch al twe fluchte hedde unde konde to juw flegen, so konde ik doch dat tomale nicht dregen unde medenemen, wat my myn leve weske domina unde de anderen junchfrowen tomale geven hebben.

Hirumme bydde ik juw fruntliken unde lefliken dat gy juck tovrede gheven unde willen ens to my komen, alze gy ersten kont, wente ik hebbe II stunde ennoche myd juw to sprekende, unde weth juw ennoch to segghende, dat ik nu altomale nicht kan scriven; unde bringet jo mynen boleken unde myn N mede unde segget jum so vele guder nacht, alzo mannich blomeke in dessem sommer wassen was, unde hebbet gy ok io CCC M M gude nacht unde weset Gode bevalen sund unde zalich to langen tyden.

Ghescreven uth Annen Moleken erem munde myd vromder hand.2


Kritischer Apparat

a in der Hs. dar

b folgt gestrichen ik

c folgt gestrichen myd

d in der Hs. V

e dahinter ein Kürzel


Sachapparat

1 Johann van der Molen, bezeugt 1467, Sülfmeister 1482, †1508; Anna wurde am 6. Dezember 1492 geboren. Sie ist wahrscheinlich die Tochter von Johann s zweiter Frau Anna von Raden. Vgl. Witzendorff, Patriziergeschlechter (1952), S. 81.

2 Dieser Brief ist eine Ergänzung zum Bericht über Annas erste Tage im Konvent, wie sie in Brief 326 (Lage 23, fol. 12r-13v) wahrscheinlich von der Priorin beschrieben werden. Der Wunsch des Mädchens, zu den Eltern fliegen zu können, wird hier aufgegriffen und in das Bild des Heiligen Geistes als Boten kanalisiert.

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