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Beschreibung von Cod. Guelf. 1012 Helmst. (geplant: Die mittelalterlichen Helmstedter Handschriften der Herzog August Bibliothek. Teil VI: Cod. Guelf. 930 bis 1160 Helmst., beschrieben von Bertram Lesser.)
Die mittelalterlichen Helmstedter Handschriften der Herzog August Bibliothek. Teil VI: Cod. Guelf. 930 bis 1160 Helmst., beschrieben von Bertram Lesser (in Vorbereitung).
Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Programms "Erschließung und Digitalisierung handschriftlicher und gedruckter Überlieferung"

Evangeliar

Pergament — 170 Bl. — 19 × 12,5 cm — Lamspringe, Benediktinerinnenkloster — 12. Jh., 4. Viertel

Lagen: 4 IV (32). 2 V (52). 9 IV (124). III (130). 5 IV (169)! Bleistiftfoliierung modern: 1169, das letzte, leere Bl. ist ungez. Schriftraum: 15,5–16 × 9,5–10 cm, einspaltig, 23–24 blindliniierte Zeilen, Punkturen an den Blatträndern sichtbar. Carolino-Gothica von zwei Händen, Hand 1: 1v–24v und 46r Z. 1 und 2; Hand 2: 25r–169v (Hand der sog. "Hamersleben"-Gruppe, auch in Cod. Guelf. 982 Helmst., 88v–192r). Rubriziert, rote Lombarden und rote, zuweilen auch grüne Satzmajuskeln, vielfach mit kleinen Silhouettenornamenten und Punktverdickungen, in den Kapiteln und Abschnitten zur Passion Christi meist vergrößert und von Rot und Grün geteilt bzw. mit grünen Konturbegleitstrichen versehen. Am Beginn der Prologe und Evangelientexte bzw. bei inhaltlich markanten Abschnitten (4r, 5r, 53r, 53v, 81v, 82r, 82v, 83v und 131v) Silhouetteninitialen über 3–6 Zeilen, Buchstabenkörper meist im sägeblattartigem Zackenschnitt von Rot und Grün geteilt, mit konturbegleitendem Silhouettendekor in der Gegenfarbe, meist in Wellenform oder als angedeutete Halbpalmetten stilisiert und z. T. von Punktreihen begleitet. 1v historisierte Spaltleisteninitiale B über 8 Zeilen. Der schwarz konturierte Buchstabenkörper ist in verschiedenen Rottönen laviert; der Buchstabenstamm weist eine Punktreihe als Spaltfüllung auf, dazu zwei Spangen und an den Enden zwei Palmetten, und wird unten von einer Blatttüte abgeschlossen. Der Bogen weist eine rote Spaltfüllung auf und wird von vier Spangen zusammengehalten. Im Binnenfeld stehen vor einem hellgrünen Hintergrund nebeneinander zwei nimbierte junge Männer in frontaler Dreiviertelansicht in von Grün, Blau und Rot lavierten Tuniken und Pallien, die ausdrucksvollen, leicht zugewandten Gesichter in pergamentfarbenem Inkarnatton mit beigen Abdunklungen und roten Wangen. Beide halten in der jeweils nach außen über den Buchstabenkörper hinaus gerichteten Hand ein leeres Spruch- oder Schriftband, die jeweils andere Hand ist im Gespräch zum Redegestus erhoben. Nach dem Textbeginn dürfte es sich um Hieronymus und Damasus handeln.

Ursprünglich romanischer Holzdeckelband, im 14. Jh. mit dunkelbraun gefärbtem Kalbsleder überzogen. Gerautete Streicheisenlinien. Drei Doppelbünde. Eine Langriemenschließe, Schließenriemen und -öse verloren, nur noch Gegenblech auf dem HD mit Riemenrest erhalten.

Fragmente:
  1. VS. 14. Jh., 1. Hälfte. Pergament. 1 Doppelbl. 19 × 12 cm. Quer eingeklebt; das originale Blattmaß betrug ca. 14–15 x 10,5–11 cm. Schriftraum: 9,5 × 8 cm, einspaltig, 18 blindliniierte Zeilen. Textualis von einer Hand. Rubriziert, rote Lombarden. VS Miracula metrica BMV. Das nicht aus der Lagenmitte stammende Doppelbl. enthält Fragmente von drei versifizierten Marienmirakeln, oberer Teil: Maria als Kämpferin im Turnier mit den Rittern Waltherus und Walevanus, die 18 letzten Verse erhalten ([Qu]i respondit ei tibi laus est danda diei | [Re]spectu nostri qui tot vi vicit equestri … [Am]bo pergamus et velle tuum faciamus | [Sic] convertuntur in claustro lege fruuntur.); Druck einer leicht abweichenden Fassung: M. D. Howie, Studies in the use of exempla with special reference to Middle High German Literature, London 1923, 85f. Z. 27 und 30–47. Unterer Teil: Bestrafung eines Christus und Maria lästernden Spielers, die 7 letzten Verse erhalten (… Misissem certe motus pietatis super te | Sed de matre mea non sustineo maledicta … Post hec venerunt aliqui miserique tulerunt | Viliter in campum quo nunc habet ipse sepulchrum.). Direkt anschließend die Unterstützung eines Bekenners von Maria, die 11 ersten Verse erhalten (Audivi signum quod duxi scribere dignum | Quomodo propicia miseris solet esse Maria … Ille refert venies … fides | Sic illum duxit ubi sol non sepe reluxit …). Diese beiden Mirakel sind ungedruckt. Literatur. A. Mussafia, Studien zu den mittelalterlichen Marienlegenden III, in: Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse 119 (1889), Abhandlung IX (separat paginiert), 7–13 Nr. 7, 3 und 4; A. Poncelet, Miraculorum Beatae Virginis Mariae quae sec. VI–XV latine conscripta sunt index postea perficiendus, in: Analecta Bollandiana 21 (1902), 241–360, hier 314 Nr. 1089, 332 Nr. 1384 und 253 Nr. 132.
  2. HS. 14. Jh., 1. Hälfte. Pergament. 1 Doppelbl. 19,5 × 12 cm. Quer eingeklebt; das originale Blattmaß betrug ca. 16–17 x 10–11 cm. Schriftraum: 11 × 8–8,5 cm, einspaltig, ca. 44 Zeilen erhalten. Stark abgekürzte, schwer lesbare Semitextualis von einer Hand.Keinerlei Buchschmuck. HS Textus medicus. Aufgrund des Zustandes und des erhaltenen Materials nicht genauer identifizierbar.

Herkunft: Der Codex wurde im späten 4. Viertel des 12. Jh. im Benediktinerinnenkloster Lamspringe zugleich mit Cod. Guelf. 982 Helmst. geschrieben, worauf die Merkmale von Schrift und Ausstattung schließen lassen; hinzu kommt die charakteristische, auf dem Kopfsteg von Bl. 1r angebrachte Inhaltsangabe (Bastarda, 15. Jh., gleiche Hand wie in Cod. Guelf. 943 Helmst.): Plenarium II (das sicher in der Zählung vorausgehende erste Plenarium konnte noch nicht nachgewiesen werden, bei dem nachfolgenden dritten handelt es sich um Cod. Guelf. 650 Helmst.). — Am 10.4.1572 mit den übrigen Lamspringer Codices in die Wolfenbütteler Hofbibliothek überführt, 1588 von Eberhard Eggelinck unter den Pergamenthandschriften der Hofbibliothek (NLA – StA Wolfenbüttel, 1 Alt 22, 83, 22r–35v, hier 29v30r), als Quatuor Evangelistae auff Pergamein geschrieben in quarto vnd bretern mit rotem leder vbertzogen gebunden verzeichnet. 1r nachträglich ergänzter Registrierungsvermerk des Bibliothekars J. A. Lonicerus: Ex illustri Guelphorum Bibliotheca Wolferbytana. Testamentum novum S. Hieronymi [Immo vere Quatuor Evangelistae add. 17. Jh.]. Registratus 1602 per Lonicerum. 1614 im Gesamtkatalog von Liborius Otho (Cod. Guelf. A Extrav., p. 164 [161]) unter den Sacra Biblia et Bibliorum partes als Novum Testamentum manuscriptum in pergameno mit der Signatur G 15 nachgewiesen. Seit 1618 in der Universitätsbibliothek Helmstedt, 1644 im Helmstedter Handschriftenkatalog (Cod. Guelf. 27.2 Aug. 2°, 18r) als Quatuor Evangelia Latinè in membrana unter den Theologici MSSti in quarto beschrieben; im Handschriftenverzeichnis von 1797 (BA III, 52) unter Nr. 778 genannt.

Heinemann Nr. 1114. — Krämer, 473. — Germania Benedictina 11, 370. — Wolter-von dem Knesebeck Lamspringe, 471f. mit Abb. 361, 476. — Oldermann-Meier, 138. — Härtel Lamspringe, 119, 127, 130, 149 mit Abb. 19. — Härtel, 60, 92f. Nr. 19. — Bertelsmeier-Kierst Audi filia, 266f. — Röckelein Klosterfrauen, 30 und 34. — Müller Einflüsse, 332. — Kat. Illuminierte Hs. HAB 1.

1r Inhalts- und Registraturvermerke (s. oben).

1v169v Biblia sacra (prologis aucta, IV evangelia). Die Gliederung der Evangelien erfolgt nach den Eusebianischen Abschnitten durch rote Satzmajuskeln in Unzialform (nicht immer übereinstimmend mit den Ausgaben), ergänzt durch eine nachträgliche (14. Jh. ?), ebenfalls nicht vollständig ausgeführte Kapitelzählung in der vorderen Ecke auf dem Kopfsteg der betreffenden Seiten. (1v4r) Prologus in IV evangelia. Stegmüller RB 596. Druck: Wordsworth/White, 1–4. (4r5r) Prologus in Mt (partim). Plures fuisse qui evangelia scripserunt et Lucas evangelista testatur … — … eorum vel maxime causam qui in Ihesum crediderant ex iudeis et nequaquam legis umbra succedente evangelii veritatem servabant … (Text bricht ab). Der Text wurde gekürzt. Stegmüller RB 595. Druck: Wordsworth/White, 11–14, hier bis 12 Z. 8. (5r52v) Mt. (53rv) Prologus in Mc. Stegmüller RB 607. Druck: Wordsworth/White, 171–173. (53v82v) Mc. (82v131r) Lc. Der Autorprolog des Lukas (Lc 1,1–4) fehlt, der Text setzt mit Lc 1,5 ein (Fuit in diebus Herodis sacerdos quidam …). (131v169v) Io. – I*rv leer.


Abgekürzt zitierte Literatur

Bertelsmeier-Kierst Audi filia C. Bertelsmeier-Kierst, Audi filia et vide. Frauenkonvente nach der monastischen Reform, in: Zwischen Vernunft und Gefühl. Weibliche Religiosität von der Antike bis heute, hrsg. von Ders., Frankfurt/M. u.a. 2010 (Kulturgeschichtliche Beiträge zum Mittelalter und der frühen Neuzeit 3), 61–90, hier nach dem ND in: Dies., Buchkultur und Überlieferung im kulturellen Kontext, hrsg. von T. Terrahe, R. Toepfer und J. Wolf, Berlin 2017 (Philologische Studien und Quellen 17), 255–286
Germania Benedictina Germania Benedictina, hrsg. von der Bayerischen Benediktiner-Akademie München in Verbindung mit dem Abt-Herwegen-Institut Maria Laach, Bd. 1–, St. Ottilien 1994–
Härtel H. Härtel, Geschrieben und gemalt. Gelehrte Bücher aus Frauenhand. Eine Klosterbibliothek sächsischer Benediktinerinnen des 12. Jahrhunderts, Wiesbaden 2006 (Ausstellungskataloge der Herzog-August-Bibliothek 86)
Härtel Lamspringe H. Härtel, Lamspringe. Ein mittelalterliches Skriptorium in einem Benediktinerinnenkloster, in: Kloster und Bildung im Mittelalter, hrsg. von N. Kruppa und J. Wilke, Göttingen 2006 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 218 = Studien zur Germania sacra 28), 115–153
Heinemann O. von Heinemann, Die Helmstedter Handschriften, Bd. 1–3, Wolfenbüttel 1884–1888, ND Frankfurt/M. 1963–1965 (Kataloge der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel. Die alte Reihe 1–3)
Kat. Illuminierte Hs. HAB 1 Die illuminierten Handschriften der Herzog August Bibliothek. Teil 1: 6. bis 11. Jahrhundert, beschrieben von S. Westphal (in Bearbeitung)
Krämer S. Krämer, Handschriftenerbe des deutschen Mittelalters, Bd. 1–3, München 1989–1990 (Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz. Ergänzungsband 1)
Müller Einflüsse M. E. Müller, Einflüsse aus West und Ost in der Hildesheimer und in der thüringisch-sächsischen Buchmalerei des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Zentrum oder Peripherie? Kulturtransfer in Hildesheim und im Raum Niedersachsen (12.–15. Jahrhundert), hrsg. von ders. und J. Reiche, Wiesbaden 2017 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 32), 305–366
Oldermann-Meier R. Oldermann-Meier, Der Kirchenschatz des ehemaligen Benediktinerinnenklosters Lamspringe. Zusammensetzung und Einziehung zur Zeit der lutherischen Reformation, in: Die Diözese Hildesheim in Vergangenheit und Gegenwart 66 (1998), 111–146
Röckelein Klosterfrauen H. Röckelein, Schreibende Klosterfrauen – allgemeine Praxis oder Sonderfall?, in: Die gelehrten Bräute Christi. Geistesleben und Bücher der Nonnen im Hochmittelalter. Mit einer Einführung von H. Härtel, hrsg. von H. Schmidt-Glintzer, Wiesbaden 2008 (Wolfenbütteler Hefte 22), 15–38
Stegmüller RB F. Stegmüller, Repertorium biblicum medii aevi, Bd. 1–11, Madrid 1950–1980
Wolter-von dem Knesebeck Lamspringe H. Wolter-von dem Knesebeck, Lamspringe, ein unbekanntes Scriptorium des Hamersleben–Halberstädter Reformkreises zur Zeit Heinrichs des Löwen, in: Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Welfen 1125–1235. Katalog der Ausstellung Braunschweig 1995, Bd. 2: Essays, hrsg. von J. Luckhardt und F. Niehoff, München 1995, 468–477
Wordsworth/White Novum Testamentum domini nostri Iesu Christi latine secundum editionem sancti Hieronymi, Bd. 1: Quattuor Evangelia, hrsg. von J. Wordsworth und H. J. White, Oxford 1898

Beschreibung erstellt im Rahmen des Projektes Katalogisierung der mittelalterlichen Helmstedter Handschriften Teil IV.
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