Psalter in tironischen Noten
Hofschule Karls des Kahlen — 9. Jh., 3. Viertel
Provenienz: Der Psalter war im Besitz des Herzogs August von Braunschweig-Lüneburg (Erwerbung vor 1627, Eintrag im Bücherradkatalog auf pag. 1523; Notae Romanorum des Jan Gruter). Zweites Vorsatzblatt (Papier) Erklärung der Tironischen Noten von G. B. Lauterbach (Wolfenbütteler Bibliothekssekretär). Erstes Vorsatzblatt (Pergament) Eintrag aus dem Jahr 1593 von Michael Daniel Poland. Poland identifiziert den Psalter mit einer Handschrift, die von Johannes Trithemius im 6. Buch seiner Polygraphia "De notis" (Libri Polygraphiae VI, Straßburg 1600, 600) als mit goldenen Buchstaben geschrieben und als Psalter in tironischen Noten bezeichnet wird. Die Handschrift soll sich im Besitz der Kathedrale von Straßburg befunden haben und dort als Psalterium in lingua armenica geführt worden sein. Ein entsprechender Vermerk befindet sich auf dem Rückdeckel des Einbandes, dort Psalterium Armenicum. Der von B. Bischoff in den westdeutsch-elsässischen Raum lokalisierte Eintrag auf 3v (s.u.), mag darauf hinweisen, dass sich der Psalter bereits im 10. Jahrhundert in Straßburg befunden hat.
, 119). Dieser schenkte sie Philipp II. Herzog von Pommern und erhielt sie, nach dessen Tod, wieder zurück hatte (Vermerk in dem Wolfenbütteler Exemplar derPergament — 122 Bl. — 23 × 18 cm
Lagen: II-1 (3). III+1 (10). IV (18). 13 IV (122). Lagenbezeichnungen in schwarzen römischen Zahlen auf den letzten Blättern der Lage, Blattmitte unten. Zwei ungezählte Vorsatzblätter (Papier- und ein Pergamentbl.). Neuere Tintenfoliierung. Schriftraum: 13,5 × 10,1 cm, einspaltig, 16 Zeilen. 1r–3r Karolingische Minuskel von einer Hand. 4r–122v Text des Psalters und der Cantica in tironischen Noten. Überschriften der Prologe und der Psalmen in roter Capitalis rustica. Zu den Textanfängen der Prologe und zu Beginn jedes Psalms einfache rote Capitalen.
Holzdeckel mit gelblichem Lederüberzug. Abdrücke von nicht mehr vorhandenen Buckeln. Zwei Lederschließen (eine davon verloren).
INHALT
1r–114r Psalterium. 1r–2v Praefatio ( 1, Nr. 414). 2v–3r Prolog ( 1, Nr. 430). 4r–114r Psalter (Ps 1-Ps 150). 3v Eintrag ( , 3730; nach B. Bischoff von einer Hand des 10. Jhs. aus der westdeutschen-elsässischen Region, vgl. Anm. bei , 123). 114v–122r Cantica 114v–120v Cantica. 114v–119r Cantica Veteris Testamenti (Isaiae, Ezechiae, Annae [auf Rasur], Moysi I [auf Rasur], Abacuc, Moysi II; 21g). 120r–122r Te Deum, Canticum Simeonis ( 21h), Pater Noster, Credo, Quicumque. Zur Auswahl und Anordnung der Cantica vgl. , 56, 57.
AUSSTATTUNG
1 Initialzierseite.Auf 4r eine große B-Initiale (11,7 cm; Abb. 442) mit anschließendem Text in tironischen Noten. Die Initiale als Goldinitiale mit Gelenk-, Endgeflecht und in Paneelen segmentierter Stammfüllung. Paneele und Initialstamm mit roter Konturlinie, die Paneelen mit zusätzlich farbiger Randung. Als Füllmotiv ausgespartes, zum Teil koloriertes Flechtband vor Goldgrund und roter Grundierung (Zwickel). Im Besatz geschwungene Halpalmetten mit rückgebogener, volutenförmig eingerollter Spitze sowie ein Viererblatt mit spitz zulaufendem Endblatt. Im unteren Bogenfeld axialsymmetrisch angelegtes Flechtband, das in vegetabilen Ansätzen aus dem Initialstamm entspringt. Zwickel und Binnenfelder der Verflechtungen farbig gefüllt.
Farben: Goldauftrag. Als Füllfarben Gelb, Grün, Blau und Orange.
STIL UND EINORDNUNG
Bereits in den Vorarbeiten W. Koehlers zu den Karolingischen Miniaturen wurde der Wolfenbütteler Psalter in tironischen Noten in der sogenannten Hofschule Karls des Kahlen, der letzten der karolingischen Hofschulen, verortet (vgl. , 12, 13). Vorarbeiten bezüglich der Gruppenzusammenstellung leisteten bereits H. Janitschek, der die Gruppe unter dem Begriff "Schule von Corbie" führte, sowie G. Swarzenski und A. Boinet (Die Trierer Ada-Handschrift, bearb. und hrsg. u.a. von , , , Leipzig 1889, 96; , Die Karolingische Malerei und Plastik in Reims, in: Jahrbuch der Preussischen Kunstsammlungen 23 [1903], 96; , La miniature carolingienne, Paris 1913, Taf. CXXXIV). Mit insgesamt 12 Handschriften umfasst die Gruppe einen geschlossenen Bestand, deren frühe Werke kurz nach Mitte des 9. Jh. einsetzen: München, Schatzkammer der Residenz, Gebetbuch Karls des Kahlen (s.n.); Paris, BnF, lat. 323, Evangeliar Karls des Kahlen; Paris, BnF, lat. 324; Paris, BnF, lat. 17436, Antiphonar aus Compiègne/Antiphonar Karls des Kahlen; Paris, BnF, lat. 1152, Psalter Karls des Kahlen ( , Nr. 70); Paris, Bibliothèque de l'Arsenal, Ms. 1171, Arsenal-Evangeliar (vgl. 75–156). Der Beginn der Schule wird mit dem Niedergang der Skriptorien in Metz (um 855) und in Tours (853) in Zusammenhang gebracht, deren Künstler vermutlich in der Hofschule Karls des Kahlen ein neues Betätigungsfeld fanden ( , 67). Zu den späten Glanzstücken der Schule zählt der Münchener Codex München, BSB, Clm 14000, Codex Aureus von St. Emmeram ( 175–197), der mit der fixen Datierung auf das Jahr 870 gleichzeitig einen Endpunkt der Schule setzt. Die Wolfenbütteler Handschrift wurde von Koehler in den Vorbereitungen zu den Karolingischen Miniaturen zusammen mit Paris, BnF, lat. 17436, Antiphonar aus Compiègne/Antiphonar Karls des Kahlen chronologisch direkt in den Anschluss an die frühe Gruppe (Paris, BnF, lat. 323, Evangeliar Karls des Kahlen; Paris, BnF, lat. 324; Paris, BnF, lat. 1152, Psalter Karls des Kahlen) gesetzt. Dies entspricht einer ungefähren zeitlichen Einordnung in die frühen 60er Jahre des 9. Jhs. Das aus dem Metzer Skriptorium (zum Skriptorium vgl. ) in die Hofschule Karls des Kahlen übertragene üppige vegetabile Ornament wird in der Frühphase der Schule in das Flechtwerk der Initialen integriert und erscheint leicht umgewandelt in Form von langgezogenen Halbpalmetten in Kombination mit Dreier- und Viererblättern mit spitz zulaufendem Endblatt (vgl. Paris, BnF, lat. 323, Evangeliar Karls des Kahlen, 20v und Paris, BnF, lat. 324, 34r; , Taf. V, 18f und 21d). Diese Formen, ebenso wie die starke goldene Randleiste der Initialen (vgl. Paris, BnF, lat. 323, Evangeliar Karls des Kahlen, 10v) zeigen enge Parallelen zum Ornament sowie zur Initialform des Wolfenbütteler Psalters und unterstützen Koehlers chronologische Einschätzung. Der vorliegende Psalter, verfasst in der römischen Kurzschrift, den Tironischen Noten, stellt eine Besonderheit dar. Die hier verwendete Schrift, aus dem Römischen übernommen und in fränkischer Zeit gerne für Glossen, Nachträge und Entwürfe eingesetzt, dürfte im Psalter als Übungsmaterial genutzt worden sein. Sein lateinischer Text galt als einer der standarisiertesten des Frühmittelalters überhaupt und bot, aufgrund seiner allgemeinen Bekanntheit, eine gute Grundlage und Gelegenheit zur Anwendung der Kurzschrift. Zusammen mit dem lexikalischen Nachschlagewerk der Commentarii oder Notae Senecae, das ebenfalls in Wolfenbüttel vorliegt (9.8 Aug. 4°), wurde er u.a. zum Erwerb des Zeichensystems verwendet ( , Bd. 3, 302).Faks. Das Tironische Psalterium der Wolfenbütteler Bibliothek, hrsg. vom Königl. stenographischen Institut zu Dresden. Mit einer Einleitung und Übertragung des Tironischen Texte von O. Lehmann, Leipzig 1885. —
, Introduction à la lecture des notes tironiennes, Paris 1900, Taf. 9. — , Nr. 3025 (Heinemann Nr.). — , Bd. 1, Nr. 46, 132. — , 164. — , Bd. 3, 302. — , 10, 12 (Zugehörigkeit zu der Gruppe); 13, 67 (Datierung); 13–16, 69–71 (Lokalisierung); 33 (Initial); 54–57 (Text); 123–126 (Beschreibung); Tafel. 23. — , 65–68. — , Bd. 1,1.2, 743. — , Nr. 19. — , Nr. 8. — , 13f. — . — , 6, 14, 69, 75ff., 83, 86, 88, 90, 97, 101, 262. — , Bd. 1, 276. — , Nr. IV.51 ( ).Abgekürzt zitierte Literatur
Beschreibung erstellt im Rahmen des Projektes Katalogisierung der illuminierten Handschriften der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Teil I (6.–11. Jh.).