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Wandel von Zukunftsmodellierungen im Theatrum Europaeum
Benjamin Bühler

1. Einleitung
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Das Theatrum Europaeum ist nicht eine Chronik in dem Sinne, dass alleine die bloße Folge von voneinander isolierten Ereignissen berichtet wird. Vielmehr tritt, vor allem in den ersten Bänden, ein Kommentator auf, der seine Meinung kundgibt, Ereignisse aufeinander bezieht und in einen regelhaften Zusammenhang bringt, weshalb er auch immer wieder Rückwendungen und Vorausdeutungen geben kann: Die Einbeziehung der zeitlichen Dimension sowie die Einführung einer vermittelnden Instanz, des Chronisten, macht das Theatrum Europaeum zu einem narrativen Text. Diesem narrativen Charakter soll im Folgenden anhand der Zukunftsmodellierungen und ihrem Wandel nachgegangen werden.

Von den ersten Bänden an spielen sowohl Wunderzeichen als auch die politische Prognostik eine zentrale Rolle, wobei erstere nach und nach zurücktritt bzw. an die Peripherie gedrängt wird. Die politische Prognostik wiederum findet sich im Theatrum geradezu auf jeder Seite, ob es um die Planung einer Schlacht oder mögliche Strategien vor einer Verhandlung geht, ob der kommende Verlauf des Kriegsgeschehens oder die Aussichten auf einen zukünftigen Frieden diskutiert werden. Zukunftswissen ist in diesen Fällen vor allem ein ungewisses und somit unsicheres Wissen: Es eröffnet sich ein Raum von Möglichkeiten, in dem verschiedene Handlungsoptionen durchgespielt werden können, zugleich wirken sich die Zukunftsszenarien auf die konkreten Entscheidungen aus.

Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht jedoch die Frage, wie die Chronik selbst mit Zukunftsmodellen operiert. Wesentlich sind hierfür zum einen in der Gegenwart zu beobachtende Zeichen, also etwa Prodigien, welche auf die Zukunft voraus verweisen, zum anderen verfügt der Chronist wie ein Erzähler über Zukunftswissen: Da der Zeitpunkt seines Berichtens nach den Ereignissen liegt, kann er nachträglich Voraussagen geben, bestätigen oder verwerfen, weshalb man hier von einer fingierten Prognostik sprechen kann. Fassen lässt sich diese mit den Erzähltheoretikern Martinez und Scheffel, die den Begriff einer „doppelten Zeitperspektive des Erzählens“ einführen (Martinez/Scheffel, S. 119-123; zur Narratologie von Zukunftsaussagen generell Lämmert; Weinrich; Genette). Gemeint sind damit die lebensweltlich-praktische bzw. die Agenten-Perspektive, die ein Geschehen als gegenwärtig aufnehme, und die analytisch-retrospektive bzw. Erzähler-Perspektive, welche dieselben Ereignisse als vergangen betrachte. Indem demnach in einem zeitlichen Abstand rückblickend von Ereignissen berichtet wird, enthält eine Erzählung immer schon einen Zukunftsbezug. Erzähler und Leser blicken in die Vergangenheit, während die berichteten Ereignisse auf die Zukunft bezogen sind. Allein aufgrund dieser zeitlichen Struktur werde das Erzählen des Anfangs und Endes, Aufstiegs und Niedergangs usw. möglich. Mit diesen Überlegungen ist nicht nur ein narratologischer Ansatz für die Lektüre des Theatrum gewonnen (aus einer etwas anderen Perspektive widmet sich Peter Heßelmanns „Zur Theorie der ‚historia‘ in den Paratexten des Theatrum Europaeum“ der Rolle des Erzählens im Theatrum Europaeum), darüber hinaus zeigt sich gerade in den Zukunftsbezügen die politische Dimension der Chronik.

Im ersten Teil soll an zwei Beispielen aus dem ersten und zweiten Band gezeigt werden, wie Vorhersagen in den Text der Chronik eingebettet sind. Danach gehe ich anhand eines Vergleichs von zwei Ausgaben des vierten Bandes auf die Semiotik des Vorzeichens ein, und abschließend darauf, wie sich das Theatrum an kommende Generationen wendet.

2. Nachträgliches Zukunftswissen
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Wie Zukunftszeichen erzählerisch eingesetzt werden, zeigt sich zu Beginn des ersten Bandes des Theatrum Europaeum, wenn Abelinus den Zweck des Unternehmens folgendermaßen angibt: Da der Krieg und die Verwüstungen wohl nicht enden würden, habe er es als nützlich und notwendig angesehen, „unserer werthen liben Posteritaet zur Gedaechtnus/ Erinnerung und Vermahnung/ den Verlauff unserer Welt-Actionen/ beschreiben zu lassen/ daraus zu ersehen/ warumben wir sie angefangen/ wie wir sie gefuehrt/ auch ohngefehr zu wissen/ aus was für Ursachen/ und vermittelst welcher Occasionen/ wir Land und Leut so jaemmerlich verderbet/ verwüstet/ ruiniret und devastiret haben“ (TE, 3. Aufl., Bd. 1, 1662, S. 1). Die lange Dauer des Krieges und die ungewisse Zukunft des Friedens fungiert demnach als ein Grund für das Schreiben der Chronik. Gestützt wird diese Begründung, und zwar in der Ausgabe von 1662, durch das Erscheinen eines Cometen im Oktober des Jahres 1618, den Gott als Zeichen unter das Firmament gesetzt habe, um zu zeigen wie er „unsere Consilia/ Lehren/ Leben und Actiones nunmehr züchtigen wolle“. Gott habe dieses Zeichen mit sonderbarer Bewegung begabt, auf das „wir ja seine Wirckung den Goettlichen Rath und Willen daraus erkennen lernen solten“ (TE, 3. Aufl., Bd. 1, 1662, S. 2).

Der Komet fungiert als ein Vorzeichen, das die Fortdauer des Krieges anzeigt. Diese Fortdauer ist dann selbst wieder ein Grund dafür, die Chronik überhaupt zu schreiben – und zwar gerade für die nachkommenden Generationen. Mit diesem Anfang unterscheidet sich die Ausgabe von 1662 von derjenigen aus dem Jahr 1635, welche mit einer ausführlichen Beschreibung der Landschaft und Geschichte Böhmens beginnt. In der späteren Ausgabe dagegen leistet die Verbindung der Beobachtung des Kometen mit der Adressierung zukünftiger Generationen einen regelrechten Erzähl-Auftakt. Möglich wird dies durch den zeitlichen Abstand: Nachträglich, im Jahr 1662, ist nicht mehr von der Hand zu weisen, dass der Komet tatsächlich ein Vorzeichen für die Dauer des Krieges war.

Bevor der Text am Ende des Berichtsjahres 1618 auf den Kometen zurückkommt, ist ein Bericht eingeschaltet, bei dem ebenfalls eine Prophezeiung eine wichtige Rolle spielt: Nämlich der Bergsturz, der die Ortschaft Plurs auslöschte (TE, 3. Aufl., Bd. 1, 1662, S. 97-99; siehe dazu den Beitrag von Jörn Münkner: „Sensationeller Abgang: Bergsturz-Inszenierungen im Theatrum Europaeum und in der Bildpublizistik“). Für den vorliegenden Zusammenhang ist relevant, dass die Pluerer von benachbarten Bauern gewarnt worden waren, diese aber verlachten und als „falsche Propheten“ bezeichneten. Die Bauern aber waren überhaupt keine „Propheten“: Sie hatten einfach gesehen, wie starker Regen das Erdreich zum Rutschen brachte, und sie haben sich an einen Erdrutsch erinnert, der sich 10 Jahre zuvor ereignet hatte. Am Tag danach löschte der „Bergfall“ die gesamte Ortschaft aus (alle Zitate: TE, 3. Aufl., Bd. 1, 1662, S. 97). Es handelt sich demnach um einen anderen Typ der Vorhersage, der sich aus der Naturbeobachtung heraus ableiten lässt. Am Ende des Berichtes aber wird auch diese Vorhersage wieder religiös eingeholt, wenn von dem Fund eines Steines die Rede ist, in den in hebräischer Schrift eingeschrieben ist, dass die Strafe des Herrn kommen werde, und er ihnen ihre Bosheit, gemeint sind die Babylonier, vergelten werde. Für den narrativen Zusammenhang des ersten Berichtsjahres ist diese Geschichte insofern wichtig, als mit ihr der Glaubwürdigkeit des warnenden Charakters des Kometen Evidenz verliehen wird: Vorzeichen und Warnungen sind demzufolge nicht leeres Gerede. Möglich aber wird diese Beglaubigungsstrategie zuallererst durch den retrospektiven Blick des Chronisten.

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Abb. 1: Der Komet aus dem Jahr 1618, aus: TE, 3. Aufl., Bd. 1, 1662, S. 101.
Nachdem solchermaßen die Glaubwürdigkeit der von dem Chronisten autorisierten Zukunftsaussagen sichergestellt wurde, kommt der Text auf den Kometen zurück (Abb. 1). In ganz Europa habe man den Kometen mit dem langen brennenden Schweif gesehen. Und auch wenn die Deutungen der Astrologen unterschiedlich ausfielen, einig seien sich alle darin, dass es ein göttliches Zeichen gewesen sei: Diese „schroeckliche Fackel hat der Allmaechtige Gott für einen Bußprediger an die hohe Canzel des Himmels gestellet/ damit die Menschen sehen moechten/ wie er sie wege der Suend zustraffen/ und seine Zorn-Ruthen über sie ergehen zulassen beschlossen“ (TE, 3. Aufl., Bd. 1, 1662, S. 100). Rückblickend bestätigt der Chronist diese Vorhersage nochmals: „Unnd ist einmahl dieser Comet ein rechter Vorbott gewesen der kuenfftigen Straffen Gottes/ mit welchen wir heimgesucht und gezuechtiget werden sollen“ (TE, 3. Aufl., Bd. 1, 1662, S. 101).

Es folgen dann zwar noch Ausführungen zu Feuersbrünsten im Jahr 1618, gleichwohl rahmt der Bericht über den Kometen dieses Jahr ein: Mit dem Vorzeichen beginnt und endet der Bericht des Jahres 1618. Wie sich hier zeigt, sind Zukunftsmodellierungen keineswegs nur Teil der berichteten Ereignisse bzw. Vorzeichen werden nicht nur schlicht erwähnt: Im ersten Berichtsjahr fungiert das Vorzeichen des Kometen vielmehr als wichtiges Element einer narrativen Anordnung, in der die nachträglich bestätigte Antizipation mehrere Funktionen erfüllt: Die Ausführungen zum Kometen als Vorzeichen legitimieren den Zweck der Chronik, leisten einen Erzählauftakt, strukturieren den Bericht und führen nicht zuletzt sie vor, wer überhaupt dazu autorisiert ist, über die Zukunft zu sprechen: Nämlich der Chronist, der sich zum einen auf autorisierte Wissensformen wie die Astrologie stützt und zum anderen Zukunftsaussagen durch eine sich aus seiner nachträglichen Position ergebenden Kompetenz begründet.

Ein ebenfalls gutes Beispiel für die Rolle des nachträglich bestätigten Zukunftswissens liefert die Darstellung des schwedischen Königs Gustav Adolf. Seine Ankunft sei schon lange vorher angekündigt worden (TE, 3. Aufl., Bd. 2, 1646, S. 226f.), und als er schließlich auf der Insel Usedom landete, erschien er als „Löwe der Mitternacht“, der von Sieg zu Sieg voranschreitet, wie das Flugblatt „Der Mitternächtische Lewe/ welcher in vollen Lauff“ (1631/32) eindrücklich zeigt: Gustav Adolf verjagt als Löwe sowohl Kaiser Ferdinand II. (Adler) als auch Maximilian von Bayern (Bär) (Harms, Nr. 237). Das Flugblatt ist hierbei nur eines von vielen, zumal die strategisch betriebene Produktion von Flugblättern und -schriften durch Schweden einen medialen Höhepunkt im Dreißigjährigen Krieg markiert (z.B. Harms/Schilling; Tschopp). Dem Zukunftswissen kommt im Theatrum Europaeum vor allem in der Beschreibung von Gustav Adolfs Tod eine zentrale Bedeutung zu (TE, 3. Aufl., Bd. 2, 1646, S. 748f.). Seine Tötung, die Suche nach seiner Leiche, deren Auffinden sowie Abtransportieren erfahren eine ausführliche Schilderung, was keineswegs selbstverständlich ist, denn vom Tod eines Mansfeld oder Tilly berichtet das Theatrum Europaeum nur kurz und sachlich. Auch mit Blick auf eine andere Gattungsform wie das Kriegsbuch wird deutlich, dass es nicht unbedingt nötig gewesen wäre, die Gestalt des schwedischen Königs derart in den Vordergrund zu rücken: Zum Beispiel widmete sich Wilhelm Dillich in seiner Schrift Krieges-Schule (1689) ebenfalls der Schlacht bei Lützen, erläuterte ausführlich die Schlachtordnung und den Verlauf der Schlacht, die Verzögerung des Beginns durch Nebel, die jeweiligen Angriffe am linken und rechten Flügel, die Aufstellung der Geschütze sowie die Ankunft Pappenheims. Den Tod Gustav Adolfs erwähnt er aber nur in einem Nebensatz (Dillich, S. 318-320).

Die Stilisierung Gustav Adolfs im Theatrum Europaeum, die von dessen protestantischer Ausrichtung herrührt, ist hierbei vor allem von Interesse aufgrund der erzählerischen Umsetzung des Zukunftswissens, also der Vorhersage seines Todes. Denn hier wird Gustav Adolf zum tragischen Helden, welcher selbst noch seinen Tod überdauert, wie auch das Flugblatt „Der Schwede lebet noch“ veranschaulicht (Harms, Nr. 305). Schon Tage vor der Schlacht habe der König seinem Hofprediger gegenüber Todesahnungen geäußert: Überall wo er hinkomme, empfingen ihn die Menschen mit großem „Frohlocken“, darüber aber vergesse das Volk das Gebet. Er ahne, dass Gott daher seiner Armee bald ein Unglück begegnen lassen werde oder ihn selbst durch den zeitlichen Tod hinwegnehmen dürfte (TE, 3. Aufl., Bd. 2, 1646, S. 750). Wie der Chronist weiter zu berichten weiß, hätten auch Vorzeichen das Unglück angekündigt. Der König habe sein Leib- und Hand-Ross verloren, und am Morgen der Schlacht sei sein Pferd mehrmals eingeknickt, was es zuvor nie getan habe.

Wichtiger jedoch als diese Vorzeichen ist in dem erzählten Zusammenhang, dass die Todes-Ahnungen Gustav Adolf nicht davon abhalten, an vorderster Front zu kämpfen, im Gegenteil: Er nimmt eine angebliche Schuld (überall, wo er hin komme, werde er mit großer Freude empfangen, darüber vergesse das Volk aber das Gebet und vertraue auf Menschen mehr als auf Gottes Hilfe, TE, 3. Aufl., Bd. 2, 1646, S. 750) auf sich und zieht in die Schlacht. Die Dramatik des Todes des größten protestantischen Hoffnungsträgers entwickelt sich somit aus dem Wechselspiel der prophetischen Zeichen mit dem Eintreffen der Vorhersagen, was, bildlich unterstützt (Scholz-Williams), aus Gustav Adolf einen tragischen Helden bzw. Märtyrer macht. Dass die Zukunftsbezogenheit des Erzählten gerade bei diesen beiden Passagen eine wichtige Rolle spielt, verwundert nicht: Der Komet, auf den im Theatrum Europaeum immer wieder Bezug genommen wird, markiert den Beginn und die Dauer des Krieges, der Tod Gustav Adolfs eine wichtige Wende im Krieg. Um diese Ereignisse hervorzuheben, werden sie mit erzählerischen Mitteln dramatisiert und durch das Verhältnis von Zukunftswissen bzw. Zukunftsahnungen und Ereignissen strukturiert. Gleichwohl lässt sich festhalten, dass in den späteren Bänden solche Kopplungen nicht mehr stattfinden: Kometen rücken zunehmend an die Peripherie und markieren Ereignisse, die auf natürlichen Ursachen zurückzuführen sind und einen gewissen Unterhaltungswert bieten. Auch in der Darstellung des Herrscher-Todes verschiebt sich der Akzent der Erzählung: Im Bericht über den Tod Kaiser Ferdinands im achten Band von 1698 ist die Rede von einem „unvermuteten Todesfall“. Vorzeichen spielen dabei nur eine Nebenrolle. Erwähnt wird eine Feuersbrunst in der Stadt, außerdem habe man zwei tote Adler gefunden, und ein dritter Adler habe kurz vor seinem Tod noch ein Ei gelegt. Doch als sich diese „Vorzeichen“ ereignen, liegt der Kaiser bereits im Sterben: Sie sind damit nur das Dekor, das sein Sterben begleitet (TE, 2. Aufl. Bd. 8, 1693, S. 1ff.). Und als über den Tod Leopold I. im 17. Band berichtet wird, richtet sich das Augenmerk auf die Vorgänge im Sterbezimmer, das solchermaßen zur Bühne seines Sterbens wird: Berichtet werden verordnete Heilmittel, der Abschied des Kaisers von Angehörigen, seine Beichte und letzte Ölung sowie seine letzten Worte, wie auch die folgenden Verrichtungen nach seinem Tod. Weitere „Bühnenorte“ sind die Ritter-Stube, in der der Leichnam „zur Schau“ gestellt wird, die Kapelle, in der die Bestattung von Herz und Zunge stattfindet, die Trauerprozession sowie die Kirche, in der der Leichnam beigesetzt wird (TE, 1. Auf., Bd. 17, 1718 (Berichtsjahr 1705), S. 69ff.).

Erzählt wird demnach auch hier. Allerdings verändern sich die Erzählformen – und das nicht nur, weil es sich hier nicht um protestantische Könige, sondern um katholische Kaiser, die in ihrem eigenen Bett sterben, handelt. Der entscheidende Unterschied liegt vielmehr darin, dass Vorhersagen und Ahnungen keine vorrangige Rolle spielen, dafür richtet sich das Interesse auf die Zeremonien, die in aller Ausführlichkeit geschildert werden. An dieser Verschiebung in der Repräsentationsform zeigt sich auch eine politische Dimension: Mit dem Philosophen Claude Lefort lässt sich unter „dem Politischen“ das In-Form-Setzen des menschlichen Miteinanderseins verstehen, das sich vermittelt durch „zahllose Zeichen“ vollzieht, mit denen eine Gesellschaft sich eine „quasi-Repräsentation“ ihrer selbst gibt (Lefort, S. 37-39). Die Verschiebung von futurischen zu zeremoniellen Zeichensystemen, auf die es hier ankommt, zeigt damit auch den Wandel der politischen Repräsentation im Theatrum Europaeum an: Die Konstituierung souveräner Macht in Bild und Text (Marin) repräsentiert sich nicht mehr in Zukunftsaussagen, die auf die Dauer des Krieges bzw. den ausbleibenden Frieden ausgerichtet sind, sondern offenbart ein zeremonielles Narrativ, in dem es alleine um die Repräsentation der Macht geht.

3. Semiotik des Vorzeichens
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Ereignisse wie die Geburt von Monstren, Blutregen, Vulkanausbrüche, Erdbeben, Hagelschäden oder vorbeifliegende Kometen galten in den ersten Bänden des Theatrum Europaeum auf der einen Seite als natürliche Ereignisse, auf der anderen Seite hatten sie aber auch den Status von Zeichen der Zukunft (exemplarisch seien aus der Forschungsliteratur genannt: Schenda; Barnes; Soergel; Krusenstjern; Ewinkel; Park/Daston). Wie diese Ereignisse Zukunftswissen verkörpern und welche Wissensformen dafür relevant sind, möchte ich im Folgenden anhand eines Vergleichs der Schilderung eines Erdbebens und der Erscheinung dreier Sonnen in zwei Fassungen des vierten Bandes verfolgen: Die erste Ausgabe mit einem Umfang von 978 Seiten erschien im Jahr 1643, die dritte mit einem Umfang von 904 Seiten im Jahr 1692.

Die Fassung von 1643 berichtet in aller Ausführlichkeit von einem Erdbeben in den Niederlanden sowie von Zeichen, die das Erdbeben begleiteten, wie ein blutroter Mond oder Feuerflammen in der Luft, die wie ein Drache ausgesehen hätten. Wiedergeben wird auch der Brief eines Syndicus über die Ursachen des Erdbebens, welcher unter Rekurs auf eine ganze Reihe von Schriften, wie SenecasQuestiones Naturales oder Palingenius‘ Zodiacus vitae zum einen mögliche natürliche Erklärungen des Erdbebens gibt und erwähnt, dass Zeichen das Erdbeben angekündigt hätten. Zum anderen sei das Erdbeben selbst ein Vorzeichen – und zwar in einem doppelten Sinn: Nach Erdbeben komme es häufig, wie Naturkundige beobachteten, zu großen Tier- und Viehsterben. Der Grund liege in aufsteigender fauler und vergifteter Feuchtigkeit, die die Luft verunreinige. Diesem natürlichen Grund einer möglichen Folge von Erdbeben folgt jedoch wieder der Verweis auf das göttliche Zeichen: „So bezeuget auch der Evangelist Matthaeus Cap. 24 daß vor dem letzten Gericht ein Erdbeben hergehen werde“ (TE, 1. Aufl., Bd. 4, 1643, S. 231; TE, 3. Aufl., Bd. 4, 1692, S. 208). Das Erdbeben wird damit als ein Zeichen verstanden, das auf die zukünftige Bestrafung der Menschen durch Gott verweist. Da aber das Zeichen nun als Warnung in der Welt ist, besteht auch die Möglichkeit der Buße und Reue: Die Prophezeiung wird solchermaßen zur, um mit einer Formulierung des Soziologen Robert Merton zu sprechen, „suicidal prophecy“: „The suicidal prophecy […] alters human behavior from what would have been its course had the prophecy not been made that it fails to be borne out. The prophecy destroys itself.“ (Merton, S. 196) Die Prophezeiung führt möglicherweise zu Aktionen, die die Prophezeiung als falsch erweisen (es handelt sich demnach um die Kehrseite einer self-fulfilling prophecy: „The self-fulfilling prophecy is, in the beginning, a false definition of the situation evoking a new behavior which makes the originally false conception come true.“Ebd., S. 195).

Dem Brief folgt in der früheren Ausgabe von 1643 der Kommentar des Chronisten, welcher hervorhebt, dass Erdbeben immer„über-, wider- und unnatürliche Bewegungen“ seien. Sie seien zu verstehen als Vorboten geheimen göttlichen Vorhabens (TE, 1. Aufl., Bd. 4, 1643, S. 232). Zwar wiederholt er die von dem Briefeschreiber angeführte natürliche Ursache, aber die Feuer und Wasser in den Höhlen der Erde würden aufgerührt von Geistern, die Gott zu seinem Werk gebrauche. Damit durchkreuzt er die natürliche Erklärung, die der Brief noch gab, und behandelt das Erdbeben allein als göttliches Zeichen. Die Zeichenhaftigkeit wird weiterhin dadurch bestätigt, dass eine ganze Reihe früherer Erdbeben und deren Folgen angeführt werden. Bemerkenswert ist hierbei, dass er Beispiele gibt, die nicht zeigen, was im auf das Erdbeben nachfolgenden Jahr geschah, sondern das, was in drei Jahren auf das Erdbeben folgte: Bezogen auf das niederländische Erdbeben von 1640 fragt er damit nach dessen Wirkung auf das Jahr 1643, den Zeitpunkt der Veröffentlichung des Bandes (TE, 1. Aufl., Bd. 4, 1643, S. 232). Die allerletzte Bedeutung dieses Vorzeichens findet der Chronist im Rekurs auf den Kometen, der im Jahr 1618 mit mächtiger Rute erschienen war: die Uneinigkeit der Religionen. Die spätere Fassung von 1692 ist dagegen wesentlich sachlicher, denn der Bericht über das Erdbeben endet mit dem Brief des Syndicus, womit die übernatürliche Deutung des Erdbebens wegfällt (TE, 3. Aufl, Bd. 4, 1692, S. 208).

Die Vorzeichen folgen somit keineswegs einer einfachen Logik. Ereignisse können durch Vorzeichen angekündigt worden sein und zugleich selbst als Vorzeichen fungieren, sie können Aussagen über die Zukunft oder aber auch Warnungen und Drohungen, natürliche oder übernatürliche Erscheinungen oder auch alles zugleich sein. Und nicht zuletzt gibt es regelrechte Master-Ereignisse wie die Kometenerscheinung aus dem Jahr 1618, auf die immer wieder rekurriert werden kann.

Wie der Vergleich der beiden Fassungen des vierten Bandes zeigt, fallen die übernatürlichen Erklärungen zunehmend weg. Diese Bewegung findet sich auch am Ende des Berichts-Jahres 1642: Während die spätere Fassung nur in einem kurzen fünfzeiligen Abschnitt von dem Erscheinen dreier Sonnen berichtet, geht die erste Fassung in sechs Spalten und einer zusätzlichen Abbildung darauf ein (TE, 1. Aufl., Bd. 4, 1643, S. 963-966; TE, 3. Aufl., Bd. 4, 1692, S. 898).

Berichtet wird von drei Sonnen, die man im Jahr 1642 bei Colmar und Prag gesichtet habe. Deren Bedeutung bleibe zwar geheim, doch derjenige, für den sie bestimmt seien, werde sie erkennen. Der Chronist des vierten Bandes Oraeus gibt auch die Wissensformen an, die für die Entzifferung der Bedeutung zuständig seien: Die Astrologia gehe von der Position der Sonnen aus, die Hieroglyphia von deren Figura, die Magia von der Erscheinung selbst. Diesen Deutungen fügt Oraeus eine historische zu: Vor 12 Jahren trafen sich drei hohe Herren – der Römische Kaiser, der König von Frankreich und der König Schwedens – und auch während dieser Friedensverhandlungen habe man drei Sonnen gesehen. Wie bereits im Fall des Erdbebens, spielen auch hier natürliche Ursachen nur eine geringfügige Rolle, zumal alleine „dienstbare gute Geister Gottes“ das Vermögen hätten, uns solche Figuren vorzustellen (TE, 1. Aufl., Bd. 4, 1643, S. 964). Die Kunst der Entzifferung werde allerdings dadurch erschwert, dass gefallene Geister solche miracula imitierten, als Beispiel nennt er den „Spiritus reprobatus“ im Riesengebirge, nämlich „Riebenzahel“, der seine Possen mit Vorstellungen und Verwandlungen getrieben habe (ebd.).

Um die Erscheinungen der falschen Geister von denen der wahren Geister zu unterscheiden, gibt Oraeus jedoch kein Kriterium an: Vielmehr autorisiert er sich selbst zu demjenigen, der die Zeichen zu lesen versteht. Eine wichtige Strategie, diese Autorität zu festigen, ist die Anführung von Vorzeichen, die sich nachträglich als wahr erwiesen haben. Eine weitere Strategie ist die Abgrenzung von falschen Propheten, wie sie das Theatrum Europaeum gegenüber Johann Warner von Bockendorffs Visionen durchführt (TE, 1. Aufl., Bd. 4, 1643, S. 658-661; TE, 3. Aufl., Bd. 4, 1692, S. 626-629, mit Portrait). Johann Warner meinte, von Gott direkt beauftragt worden zu sein: Gott spreche zu ihm und sende ihm Visionen, wie Warner in seiner Schrift mit dem sprechenden Titel Johann Warners Auß Bockendorff/ im Lande Meissen bürtig/ selbst eigene Beschreibung etzlicher Visionen, Welche ihm sind von Gott/ wegen des Zustandes der Lutherischen Kirchen und ihrer Widerwertigen/ innerhalb 9. Jahren/ gezeiget worden. Auff Göttlichen Befehl/ nunmeer jedermänniglich für Augen gestellet/ und vom Autor selbst in öffentlichen Druck gegeben/ die Frommen in ihrem Trübsal zu trösten/ die Gottlosen aber zu verwarnen (1642) behauptete. Im Theatrum Europaeum dagegen spielt diese Form der Zukunftsvision gerade keine Rolle. Es geht hier nicht um Visionen und ihre unmittelbare Bedeutungsoffenbarung, sondern um das Lesen von Zeichen – welches gleichwohl nachträglich erfolgt. Somit kann man Johann von Warner vorwerfen, dass seine Vorhersagen ja nie eingetroffen seien.

Für die Deutung der drei Sonnen geht die Fassung von 1643, wie erwähnt, auf eine andere Erscheinung dreier Sonnen ein, welche der zweite Band des Theatrum Europaeum nur erwähnt hatte. Oraeus gibt eine Abbildung dieser Erscheinung vom 19. April 1630, liefert deren Deutung nach und setzt sie in Beziehung zu den drei Sonnen aus dem Jahr 1642 (Abb. 2).

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Abb. 2: Drei Sonnen, aus: TE, 1. Aufl., Bd. 4, 1643, S. 964.

Der Zirkel D bezeichnet das Römische Reich, folgerichtig zeigt die mittlere Sonne A den Kaiser. Zwei Glieder, die eigentlich zum Reich gehören, haben sich daraus entfernt: Das sind die halben Mondscheiben G und H, Chur-Sachsen und der Pfalzgraf Friedrich (H stehe niedriger als G, was auf dessen Erniedrigung hinweise, wobei der Regenbogen F auf eine kleine Gnade deute). Dafür sind zwei Glieder bzw. „Cronen“ ins Reich eingedrungen: B und C, das sind Frankreich und Schweden. Diese drei Sonnen seien nun zwölf Jahre später wieder erschienen, denn es gebe laut Oraeus noch immer keinen Frieden. Oraeus gibt im Weiteren unter Rekurs auf die Schrift Meteorologia von Johannes Garcaeus eine natürliche Ursache an – drei Sonnen zeigten an, dass in der Luft viel Wasser sei (TE, 1. Aufl., Bd. 4, 1643, S. 966). In dieser Richtung argumentiert auch der Astronom Gian Domenico Cassini: Nach ihm handelt es sich bei Erscheinungen von drei Sonnen um die Wirkung der Brechung des Sonnenlichts an Eiskristallen in der Atmosphäre (Mémoires de l’Académie Royale des Sciences, 1693). Während die drei Sonnen in der Naturgeschichte des 17. Jahrhunderts somit, mit einem Ausdruck von Katharine Park und Lorraine Daston, „seltsame Tatsachen“ (S. 253ff., zu Cassinis drei Sonnen S. 390) darstellen, sind sie im vierten Band des Theatrum Europaeum Gegenstand einer Theorie des Vorzeichens.

So hebt Oraeus denn auch die geistige Ursache dieser Erscheinung hervor. Immer wenn mehrere Sonnen zu sehen seien, könne es zu neuen, heimlichen Bündnissen oder Zusammentreffen kommen, um denen, die das Reich jetzt besitzen, dieses zu entziehen und zu rauben. Die drei Sonnen seien daher Offenbarungen geheimer und schädlicher Ratschläge, welche sich als göttliches Zeichen am Himmel zeigen, um die Menschen vor solchen Bündnissen zu warnen und zu ermahnen (TE, 1. Aufl., Bd. 4, 1643, S. 966). Wie schon im Fall des Erdbebens spielen auch hier natürliche Ursachen eine nachrangige Rolle, zugleich wird der Sinn der von Gott gesandten Erscheinung aus dem historischen Geschehen entwickelt, wenn Oraeus auf die „Erfahrung der vergangenen Historien“ rekurriert (ebd.). Und auch hier lässt sich beobachten, wie die frühere Fassung durch die Kombination des Berichts der Ereignisse mit Erzähltechniken der Rück- und Vorausschau eine Geschichte konstruiert, die spätere Fassung dagegen diese Erzählung auf den Bericht der zeitlichen Abfolge der Ereignisse reduziert.

In den Folgebänden werden seltsame Erscheinungen nur noch beschrieben, aber nicht weiter kommentiert – zum Beispiel berichtet der 15. Band ohne weiteren Kommentar von einem Geistlichen, der, als er gerade auf der Kanzel vom Jüngsten Gericht predigte, umfiel und seinen Geist aufgab (TE, 1. Aufl., Bd. 15, 1701, S. 510) – oder zunehmend aus natürlichen Ursachen heraus erklärt, wobei sich auch der wissenschaftliche Bezugsrahmen ändert: Astrologie und Hieroglyphik werden ersetzt durch die Naturgeschichte bzw. die aufkommenden Naturwissenschaften. Eine analoge Bewegung findet sich in Eberhard Werner Happels Relationes Curiosae (Schock). Damit sei hier nicht behauptet, das Theatrum sei ein Beleg für die in sämtlichen Bereichen des Wissens und des Sozialen durchgreifende Säkularisierung: Dass sakrale Denkformen auch in den folgenden Jahrhunderten relevant bleiben, versteht sich von selbst. Für den Fall des Theatrum Europaeum lässt sich aber eine klare Tendenz zu einer säkularen Berichterstattung bzw. einem säkularen Zeichen-Lesen feststellen.

4. Kommende Generationen
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Wie bereits erwähnt spielt die Adressierung der Nachkommen eine zentrale Rolle als Legitimation für das Verfassen der Chronik: Weil es in der Zukunft jemanden geben wird, der wissen sollte, was in seiner Vergangenheit geschah, wird überhaupt die Chronik verfasst: Es geht hier also nicht alleine um das Ansprechen der gegenwärtigen Leser wie im Fall einer Zeitung. Die eigene Zeit wird vielmehr immer auch schon als vergangene Zeit betrachtet, womit das Theatrum Europaeum darauf abzielt, bereits in der Gegenwart, möglichst zeitgleich mit den Ereignissen, was freilich nicht gelingt, ein Archiv für die Zukunft anzulegen. Dieses Archiv versteht sich als Lehrmeisterin der Nachkommen, was das Titelbild des zweiten Bandes denn auch darstellt: Eine ältere Frau zeigt einem Kind ein Papier mit der Aufschrift „historia“, was um die Inschrift „magistra vitae“ auf dem Sockel ergänzt wird (Abb. 3).

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Abb. 3: Titelkupfer des zweiten Bandes, aus: TE, 3. Aufl., Bd. 2, 1646.
Was Merian hier bildlich umsetzt, beschreibt er in der Vorrede des ersten Bandes: „Als wil ich nicht zweiffeln/ sondern vielmehr hoffen/ dass es nicht allein denen jetztlebenden jucundissima Recordatio praeteritarum rerum sui temporis, und ein angenehmes Werck/ sondern auch der lieben Posteritaet und Nachkoemmlingen nutz/ lieb und werth seyn werde“ (TE, 3. Aufl., Bd. 1, 1662, Widmung, unpag. [S. 2]). Die Lehre für die Nachkommen besteht dabei nicht zuletzt in der Unbeständigkeit der Welt, in der Widmung des dritten Bandes schreibt Merian: „Die Histori und Beschreibung vergangener Geschichten stellet uns vor Augen die Unbestaendigkeit und Untergang aller Dinge/ wie gar nichts beharrlichs noch bestaendigs in der gantzen Welt sey/ wie Fr. Petrarcha sagt: […] Unter dem Himmel ist kein Ding bestaendig noch vest/ sondern alles eytel/ unbestaendig/ und dem Untergang unterworf“ (TE, 3. Aufl., Bd. 3, 1670, Widmung, unpag [S. 3]). Merian schließt hier an den u.a. durch Petrarcas Schriften begründeten Neustoizismus an (zu nennen ist insbesondere Petrarcas Schrift De remediis utriusque fortunae (1366 fertiggestellt), Merian zitiert allerdings die ersten Verse von Petrarcas Gedicht Triumphus Aeternitatis aus den Trionfi (1470), die Populärphilosophie des 17. Jahrhunderts. Justus Lipsius, neben Petrarca einer der Gründer des neustoischen Diskurses, formulierte dessen Kernaussagen in seiner vielgelesenen Schrift De constantia (Leiden 1584) folgendermaßen: Angesichts der Unbeständigkeit aller Dinge gerade in Zeiten des Krieges, bleibt nur die Besinnung auf die Beständigkeit, die mit Lipsius gesprochen, „rechtmesige vnnd vnbewegliche stercke des gemuets/ die von keinem eusserlichen oder zufelligen Dinge erhebt oder vntergedrueckt wird“ (Lipsius, S. 10; zur Bedeutung von Lipsius für Merian: Schreurs). Es geht um die innere Stabilisierung angesichts äußerer Unruhe, die jedoch nicht Verhärtung meint, sondern Festigung des Gemüts aus einem begründeten Urteil heraus. Dabei verlagert sich der äußere Kriegszustand ins Innere: Im Menschen hängen nach Lipsius Seele und Körper in „uneinigen einigkeit“ zusammen, jeder der beiden Teile ziele auf die Herrschaft über den anderen, woraus im Menschen ein Zwiespalt entstehe, so als wenn „immer zwey theil gegen einander zu Felde legen/ und alle stunde mit einander scharmuetzelten.“ (Lipsius, S. 12) Die Beschreibung der sich im Krieg befindenden niederländischen Gesellschaft wird damit in das Innere des Menschen verlagert, wobei beide der Stabilisierung bedürfen. Der Bezug zwischen der den Einzelnen betreffenden Moralphilosophie und der den Staat betreffenden politischen Theorie wird über die metaphorische Verschaltung hergestellt, womit sich hier auch die Komplementarität der beiden zentralen Werke von Lipsius, des Lehrgesprächs De constantia sowie des politischen Hautpwerks Politica zeigt. Und auch Merian verschaltet in seiner Widmung diese beiden Dimensionen, wenn er den Verlauf der „Haendel““ (TE, 3. Aufl., Bd. 3, 1670, Widmung, unpag. [S. 4]) in der „Teutschen Nation“ als Exempel für die Nachkommen ansieht und sich die Widmung an einen Fürsten wendet: Machten Historien doch auch „recht weyse/ kluge und loebliche Regenten“ (TE, 3. Aufl., Bd. 3, 1670, Widmung, unpag. [S. 5]). Die Darstellung menschlicher und historischer Unbeständigkeit steht somit im Dienste der Stabilisierung – sowohl des Einzelnen als auch des Staates.

Die doppelte Ausrichtung der Chronik, sowohl Archiv der Vergangenheit als auch Lehrmeisterin der zukünftigen Generationen zu sein, findet sich auf dem Titelbild des letzten Bandes wieder, das einen, wie sich aus den Postamentinschriften erschließen lässt, in die Vergangenheit und die Zukunft blickenden Januskopf zeigt (Abb. 4).

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Abb. 4: Titelkupfer des 21. Bandes, aus: TE, 1. Aufl., Bd. 21, 1738.
Allerdings unterscheidet sich dieser letzte Band in Sachen Zukunftsmodellierung von den ersten Bänden grundlegend. Nicht um die Unbeständigkeit der Welt und auch nicht um einen Bericht an die kommenden Generationen handelt es sich hier, sondern vor allem um ein politisches Werk, das in spezifischer Weise auf die Gegenwart zielt.

Nach einem kursorischen Überblick über das, was das Theatrum Europaeum in seiner hundertjährigen Geschichte geboten hat, geordnet nach Ländern, betont auch dieser Band den exemplarischen Charakter des Unternehmens, nun aber zur Erläuterung und Bewährung des gegenwärtigen Staatsrechts (TE, 1. Aufl., Bd. 21, 1738, Vorrede). Dementsprechend entsteht aus diesem Ansatz ein anders sortiertes Register, in welchem Begriffe und Lehren des Staatsrechts mit Exempeln aus den Theatrum-Bänden verknüpft werden. Daraus ergibt sich die Frage an den Leser: „Ob nicht aus unserm Theatro […] so viel vorkommen sey/ daraus man sehen koenne/ was die Staende selbst von allen denen Puncten/ wie mannigfaltig/ sonderbar und kitzlich auch dieselbigen seyn moegen/ vor Meynung geheget und geaeussert haben/ die von denen Lehrern des Teutschen Staats-Recht vorgetragen zu werden pflegen?“ (TE, 1. Aufl., Bd. 21, 1738, Vorrede, unpag. [S. 11]). Rhetorisch ist diese Frage schon deshalb, weil das Werk bereits so gebraucht wurde, erwähnt wird zum Beispiel das Werk von Philipp Reichard Vitriarius sowie dessen Bearbeitung durch Johann Friedrich Pfeffinger. Nicht zuletzt würden solche Werke auflösen, wie der auf dem Titelbild als Zweck aller Geschichte erscheinende Janus zu verstehen sei. Hervorgehoben wird demnach der konkrete Gebrauch des Werkes, der allerdings nicht mehr in der moralischen Belehrung gesehen wird. Im Zentrum steht vielmehr das Theatrum als ein politisches Werk, da es allererst die materielle Basis für das Staatsrecht liefert. Auf diese Weise ist es als Gedächtnis des Vorübergegangenen immer auch Voraussicht des Kommenden – denn „wenn man die geschehene Dinge samt deren Folgen reiflich überleget“, lasse sich auch eine nicht unbegründete Vermutung fassen, was „unter Gottes Verfuegung oder Zulassung inskuenfftige zu hoffen oder zu fuerchten sey“ (TE, 1. Aufl., Bd. 21, 1738, Vorrede, unpag. [S. 12]).

5. Schluss
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Bei dem Wandel der Zukunftsmodellierungen handelt es sich im Theatrum Europaeum um eine Bewegung vom Vorzeichen zum historischen Ereignis, die gekoppelt ist an den Wandel von Wissensformen und Autorisierungsstrategien. Weiterhin spielt eine Politik der Ermahnung zur Umkehr, Reue und Buße in den späteren Bänden keine Rolle mehr, die Ereignisse rücken in ein wissenschaftliches bzw. rechtliches Bezugssystem ein. Und auch die Adressierung der Nachkommen ändert sich: Während sich die Chronik zu Beginn als Lehrmeisterin des Lebens versteht bzw. den späteren Generationen eine Erklärung für die Länge und Heftigkeit des Krieges geben will, liegt der „Zweck aller Geschichte“ in den letzten Bänden in der Analyse und Beurteilung politischer Handlungen und ihrer rechtlichen Grundlage. Damit wird die Prognostik im Theatrum Europaeum zu einer säkularen politisch-rechtlichen Technik, wobei die im 18. Jahrhundert zunehmend wichtiger werdenden probabilistischen Aussageformen keine Rolle spielen und es überhaupt im Vorstadium der „Sattelzeit“ bleibt, denn Erfahrungsraum und Erwartungshorizont treten hier gerade nicht auseinander (Koselleck).

Zukunftsbezügen kommen im Theatrum Europaeum somit eine ganze Reihe unterschiedlicher Funktionen zu, wobei deutlich wird, dass es sich nicht um zukünftige Gegenwarten, sondern um gegenwärtige Zukünfte handelt. Genau darin liegt überhaupt die politische Dimension dieser Zukunftsbezüge: Die Verankerung des erzählten Geschehens in der Zukunft, die Ermahnungen und Drohungen sowie der didaktische und korrektive Gebrauch sind letztlich Techniken der Regulierung gegenwärtiger und zukünftiger sozialer Beziehungen mit dem Ziel der politischen Stabilität.

6. Bibliographische Nachweise und Forschungsliteratur
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6.1. Quellen
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  • Wilhelm Dillich: Wilhelmi Dilichii, […] Hochvernünfftig gegründet- und auffgerichtete/ in gewisse Classen eingetheilte/ bißher verschlossen gelegen/ nunmehr aber Eröffnete Krieges-Schule: Worinnen/ nach genau und zuwissen genugsamer/ Der alten Römer und Griechen zu Wasser und Land geführten/ mit so viel als lebendigen Farben dargestellten Methode/ zusamt deren vorgestellten Methode/ zusamt deren vorgezeigten/ damal üblichen/ Waffen und Rüstungen; statt ordentlicher allen dessen Unterrichts Begehrenden vor- auffgegebenen Lectionen/ und vermittelst kluger und vertsändlicher Lehr-Art/ gewiesen wird/ welcher gestalt Generals-Personen/ hohe Befehlichshaber/ zusamt denennachgestzten Obern/ in Anricht- Werb und Musterung einer Armee/ Erziehung rechtschaffener/ erfahrner Soldaten/ durch fleissig und zeitliche Anführung zudenen gewöhnlichen Exercitien/ nothdürfftiger derselben Verpflegung/ Anstellung einer Schlachtordnung/ halteneden Treffen/ Belägerungen/ Stürmen/ wohlanzubringenden Kriegs-Listen/ etc. sich klüglich zu verhalten […]. Frankfurt a.M. 1689 [vd17] [opac]
  • Wolfgang Harms (Hg.): Die Sammlung der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Kommentierte Ausgabe. Bd. 2: Historica. München 1980 [opac]
  • Justus Lipsius: Von der Bestendigkeit/ De constantia. Faksimiledruck der deutschen Übersetzung des Andreas Viritius nach der zweiten Auflage von c. 1601 mit den wichtigsten Lesarten der ersten Auflage von 1599. Hg. von Leonhard Forster. Stuttgart 1965 [opac]
  • Matthaeus Merian: Theatrum Europaeum. 21 Bde., Frankfurt a.M. 1633-1738 (ausführliches Siglenverzeichnis). [opac]
  • Johann Warner: Johann Warners Auß Bockendorff/ im Lande Meissen bürtig/ selbst eigene Beschreibung etzlicher Visionen, Welche ihm sind von Gott/ wegen des Zustandes der Lutherischen Kirchen und ihrer Widerwertigen/ innerhalb 9. Jahren/ gezeiget worden. Auff Göttlichen Befehl/ nunmeer jedermänniglich für Augen gestellet/ und vom Autor selbst in öffentlichen Druck gegeben/ die Frommen in ihrem Trübsal zu trösten/ die Gottlosen aber zu verwarnen. o.O. 1642. [vd17] [opac]

6.2. Forschungsliteratur
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  • Robin Bruce Barnes: Prophecy and Gnosis. Apocalypticism in the Wake of the Lutheran Reformation. Stanford 1988 [opac]
  • Lorraine Daston, Katharine Park: Wunder und die Ordnung der Natur 1150-1750. Frankfurt a.M. 2002 [opac]
  • Irene Ewinkel: De monstris. Deutung und Funktion von Wundergeburten auf Flugblättern im Deutschland des 16. Jahrhunderts. Tübingen 1995 [opac]
  • Gérard Genette: Die Erzählung. München 1994 [gbv]
  • Wolfgang Harms, Michael Schilling: Das illustrierte Flugblatt der frühen Neuzeit. Traditionen, Wirkungen, Kontexte. Stuttgart 2008 [opac]
  • Reinhard Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 1988
  • Benigna von Krusenstjern: Prodigienglaube und dreißigjähriger Krieg, in: Hartmut Lehmann, Anne-Charlott Trepp (Hg.): Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1999, S. 55-78 [opac]
  • Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens. Stuttgart 1955 [opac]
  • Claude Lefort: Fortdauer des Theologisch-Politischen? Wien 1999 [gbv]
  • Louis Marin: Le Portrait du Roi. Paris 1981 [opac]
  • Matias Martinez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 2. Aufl. München 2000 [opac]
  • Robert K. Merton: The self-fulfilling prophecy, in: Antioch Review, 8 (1948), S. 193-210 [gbv]
  • Rudolf Schenda: Die französischen Prodigiensammlungen in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts. München 1961
  • Flemming Schock: Zur Kommunikation von Wunderzeichen in der ersten populärwissenschaftlichen Zeitschrift Deutschlands (Relationes Curiosae, 1681-1691), in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 9 (2007), S. 76-100 [opac]
  • Gerhild Scholz-Williams: Formen der Aufrichtigkeit. Zeitgeschehen in Wort und Bild im Theatrum Europaeum (1618-1718), in: Claudia Benthien (Hg.): Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Tübingen 2006, S. 343-373 [opac]
  • Philip Soergel: Die Wahrnehmung der Endzeit in monströsen Anfängen, in: Hartmut Lehmann, Anne-Charlott Trepp (Hg.): Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1999, S. 33-51 [opac]
  • Anna Schreurs: Der Vesuvausbruch von 1631, ein Spektakel auf der Weltbühne Europa. Anmerkungen zu Joachim von Sandrarts Beitrag zum Theatrum Europaeum von Matthäus Merian, in: Flemming Schock, Oswald Bauer, Ariane Koller, metaphorik.de (Hg.): Ordnung und Repräsentation von Wissen. Dimensionen der Theatrum-Metapher in der frühen Neuzeit. Hannover 2008, S. 305-341, zugleich in: metaphorik.de 14 (2008) [opac]
  • Silvia Serena Tschopp: Heilsgeschichtliche Deutungsmuster in der Publizistik des Dreißigjährigen Krieges. Pro- und antischwedische Propaganda in Deutschland 1628 bis 1635. Frankfurt a.M. [u.a.] 1991 [opac]
  • Harald Weinrich: Tempus. Besprochene und erzählte Welt. Stuttgart 1964. [opac]

6.3. Abbildungsnachweise
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