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Der zweyte Abschnitt.
Von den feinern Empfindungskräften.
I.
Nach einer allgemeinen Betrachtung der
Kräfte des Verstandes und Willens
gehen wir nunmehro zur Untersuchung der fei
nern Kräfte der Empfindung, zu einigen andern
natürlichen Bestimmungen des Willens, und zu
den allgemeinen Gesetzen der menschlichen Na
tur, fort.
Ausser den Sinnen des Gesichts und Gehörs(Vergnü
gen der Ein
bildungs
kraft.)
haben die meisten Menschen, ob gleich in verschie
denen Graden, gewisse Empfindungskräfte von ei
ner feinern Art, als daß wir sie bey den meisten
unedlern Thieren, welche die verschiedenen Farben
und Figuren sehen, und die verschiedenen Töne hö
ren, voraussetzen könten. Wir können dieselben
das Gefühl der Schönheit und Harmonie, oder,
mit Addison, die Einbildungskraft
nennen.
Was für einen Nahmen aber wir ihnen auch geben
wollen: so ist es offenbar, daß die verschiedenen
nachfolgenden Eigenschaften der Gegenstände, von
(Erstes
Buch.)
60 Von den feinern
der Natur zubereitete Qvellen<Quellen> des Vergnügens sind;
oder daß die Menschen natürliche Kräfte und Be
stimmungen haben, von ihnen Vergnügen zu em
pfinden.
(Schönheit.)
1. Gewisse Gestalten sind dem Auge, ohne
alle Rücksicht auf das Vergnügen über lebhafte
Farben, angenehmer, als andere; besonders diejeni
gen zusammengesezten, worinnen Einförmigkeit
und ein richtiges Verhältnis der Theile unterein
ander, wahrzunehmen ist. Wir können, durch das
Geheis unsers Willens, eben so wenig einen Wohl
gefallen an allen Gestalten, ohne Unterschied, her
vorbringen, als wir dem Geschmack alle Gegenstän
de angenehm machen können.
(Nachah
mung.)
2. Gleichwie die Neigung nachzuahmen den
Menschen, von ihrer Kindheit an, natürlich ist: also
empfinden sie über jede Nachahmung
*
Vergnü
gen. Wenn das Original schön ist: so werden
wir ein doppeltes Vergnügen haben; aber eine voll
kommene Nachahmung der Schönheit oder der Häs
lichkeit, sie geschehe nun durch Farben, Figuren,
Sprache, Stimme, oder Bewegung, bringt an sich
selbst Vergnügen.
(Harmonie.)
3. Gewisse Zusammensetzungen von Tönen
sind allen Menschen überhaupt, unmittelbar ange
nehm, wovon uns die Musikverständigen leicht un
terrichten können. Die geringern Vergnügungen
entstehen von der Zusammenstimmung; aber ein
6
Empfindungskräften. 61
höhers Vergnügen entstehet aus solchen Zusammen(Zweyter
Abschnitt.)
setzungen, welche durch abgemessene Töne, die Ver
änderungen der menschlichen Stimme nachahmen,
wodurch die verschiedenen Neigungen der Seele,
bey wichtigen Gelegenheiten, ausgedrückt werden.
Plato
*
und Lykurg
**
fanden dahero in der Musik
einen moralischen Character, und glaubten, daß
sie auf die Sitten der Menschen einen Einflus
habe.
4. Da wir mit Vernunft begabt sind, dieje(Absicht.)
nigen Mittel, welche zu Erhaltung eines Endzwecks
geschickt sind, und die verschiedenen Beziehungen
und Verknüpfungen der Dinge zu unterscheiden:
so liegt ein unmittelbares Vergnügen in der Er
käntnis,
***
welches von dem Urtheil selbst unter
schieden ist, ob es gleich mit ihm in einer natürli
chen Verbindung steht. Wir empfinden auch ein
Vergnügen, wenn wir Kunst und Absicht in einem
Werke entdecken, das zu Erreichung wichtiger End
zwecke eingerichtet ist; oder in einem Geräthe, das
alles hat, was zu seiner Bestimmung gehört; wir
mögen Hofnung haben, davon Gebrauch zu machen
oder nicht. Wir empfinden ein Vergnügen, wenn
wir die Kräfte unserer Vernunft und unserer Er
findung beschäftigen und anwenden können; wir
freuen uns, wenn wir andere dieselben ebenfalls
anwenden sehen, und die kunstreichen Wirkungen
7
8 9
(Erstes
Buch.)
62 Von den feinern
davon wahrnehmen. In solchen Werken der Kunst
vergnügen wir uns, die Schönheit der Gestalt und
der Nachahmung vermischt zu finden, in so weit es
die Absicht derselben verstattet. Aber das höhere
Vergnügen, die Absicht auszuführen, verursacht,
daß wir das geringere, wenn es mit jenem nicht
zugleich bestehen kan, nicht achten.
(Ursachen der Verschieden
heit des Ge
schmacks.)
II. Wenn wir zugeben, daß alle diese Beschaf
fenheiten natürlich sind: so können wir von der
Verschiedenheit der Meinung und des Geschmacks,
die wir wahrnehmen, Rechenschaft geben. Denn
die mannichfaltigen Eigenschaften, an welchen wir
einen in unsrer Natur liegenden Wohlgefallen ha
ben, können von einem auf diese Art, von andern
auf eine andere Art, betrachtet werden. Der Dürf
tige, der Geschäftige, oder der Träge können die
Schönheit in Kleidungen, in Gebäuden und in Ge
räthe, zu der sie ausserdem gelangen könten, verab
säumen, ohne unempfindlich dagegen zu seyn. Ei
nigen kan es blos um eine ungekünstelte Einför
migkeit in den Theilen, zu thun seyn; andere kön
nen die Nachahmung der schönen Werke der Na
tur darunter mischen, und unter diesen können wie
derum einige eine Reihe solcher Gegenstände, wie
sie aus der Hand der Natur kommen, einige aber
Gegenstände von erhöheter Schönheit, wählen: es
kan auch die Art der Nachahmung mehr oder weni
ger vollkommen seyn. Einige können bey ihren
Arbeiten vornehmlich auf das Vergnügen, wel
ches aus der Wahrnehmung der Absicht und des
Nutzens entstehet, sehen, und das Vergnügen über
Empfindungskräften. 63(Zweyter Abschnitt.)
die Schönheit und Nachahmung, nur in so weit es
mit jenem besteht, zur Absicht haben. In den
seltsamsten Kleidungen ist eine Uebereinstimmung
der Theile, eine Einrichtung nach der Gestalt des
menschlichen Körpers, und oft auch eine Nachah
mung. Unsere Kleider sind nicht so leicht und so
beqvem<bequem>, als die ehemaligen, und sie sind weniger
geschickt, die Gestalt des Körpers sichtbar zu ma
chen. Diejenigen, welche auf diesen Endzweck se
hen, werden die ehemaligen Kleider; diejenigen
aber, welche daran nicht denken, oder darauf nicht
sehen, werden die neuen vorziehn.
In der Baukunst ist es eben so beschaffen.
Diejenigen, welche auf die Nachahmung der Ver
hältnisse des menschlichen Körpers, in gewissen Thei
len der Baukunst, aufmerksam sind, werden an den
Bauarten, welche damit übereinstimmen, Vergnü
gen finden. Andere, die den Gebrauch kennen,
welchen die äussere Einrichtung gewisser Theile so
gleich entdeckt, kan diese wahrgenommene Absicht
gefallen. Einige können, ohne hierauf zu sehen,
an der Uebereinstimmung der Theile Wohlgefallen
haben; einige aber können, durch Verbindung ge
wisser Begriffe, etwas billigen oder misbilligen;
wovon wir hernachmals reden wollen.
Wenn man alles Gefühl der Schönheit blos
auf einen wahren oder scheinbaren Nutzen gründen
wollte: so würde man niemals im Stande seyn,
zu erklären, warum man auch an denjenigen nütz
lichen Dingen Gefallen findet, wovon man, ausser
dem Vergnügen, sie zu betrachten, keinen Vor
(Erstes
Buch.)
64 Von den feinern
theil zu gewarten hat; warum uns die Gestalt der
Blumen, der Vögel, des Wilds, vergnügt, auch
wenn wir keinen wahren oder scheinbaren Nutzen
von ihnen zu hoffen haben; warum einer, der die
Baukunst gar nicht versteht, an der Betrachtung
eines schönen Gebäudes, Gefallen findet; woher es
kömt, daß uns die Nachahmungen solcher Gegen
stände Vergnügen bringen, welche, wenn sie an
eben dem Orte sich wirklich befänden, wo ihre Ab
bilder sind, keinen Nutzen schaffen würden. Man
könte eben sowohl behaupten, daß wir, ehe uns et
was Wohlschmeckendes vergnügte, zuvor die klein
sten Theilchen desselben kennen und wissen müsten,
daß ihre Natur unsern Nerven nicht unange
nehm sey.
(Grosser Nutzen im menschlichen
Leben.)
Das Vergnügen dieser feinern Empfindun
gen
*
ist von keiner geringen Wichtigkeit in dem
Leben der Menschen. So sehr auch dasselbe von
denjenigen, welche nach Reichthum und Ansehn
streben, oft hindangesetzt zu werden scheint: so ha
ben sie es doch für sich, auf ihre künftige Lebenszeit,
oder für ihre Nachkommenschaft eben so wohl zur
Absicht, als andere, welche einen bessern Geschmack
haben, und dasselbe zum Endzweck ihrer meisten
Bemühungen machen. Bey dem grössten Theil
10
Empfindungskräften. 65(Zweyter Abschnitt.)
der Menschen, welche vor unruhigen Begierden ei
nigermassen gesichert sind, äussert sich ein Gefallen
an diesem Vergnügen. So bald die Nationen
dem Frieden im Schoos sind: so bald fangen sie
an, sich in den Künsten zu üben, welche dieses Ver
gnügen verschaffen; wie wir aus den Geschichten
aller Zeiten und Völker lernen.
Zu diesen Vergnügungen der Einbildungs(Vergnü
gen an Neu
heit und Grösse.)
kraft kan man noch zwo andre angenehme Empfin
dungen rechnen, welche aus der Neuheit und Grös
se der Dinge entstehen. Die erstere wirkt allemal
eine angenehme Bewegung, wenn wir müssig sind,
welche sich vielleicht auf die Wissensbegierde grün
det, die so tief in unsrer Seele liegt. Wir wer
den hiervon im Verfolg reden. Die Grösse ist
eine angenehme Beschaffenheit in einem Gegen
stand der Betrachtung, die von der Schönheit und
den Verhältnissen desselben unterschieden ist. Ja,
auch alsdenn, wenn diese letztern nicht vorhanden
sind, vergnügt sich die Seele an allem, was weit,
von grossem Umfange, hoch oder tief ist, ohne
Rücksicht auf einen Vortheil, der aus diesen Be
schaffenheiten entstehen könte. Die Endursachen
dieser natürlichen Bestimmungen, oder Empfindun
gen des Vergnügens kan man bey vielen
*
Schrift
stellern finden.
III. Eine andere wichtige Bestimmung oder(Sympa
thien.
Mitleiden.)
Empfindung der Seele kan die sympathetische
11
(Erstes
Buch.)
66 Von den feinern
genennet werden, die von allen äusserlichen Sin
nen unterschieden ist, und vermöge welcher unsere
Herzen mit denjenigen, deren Zustand uns bekant
ist, zugleich fühlen. Wenn wir den Schmerz, die
Traurigkeit und das Elend, welches andre empfin
den, sehen oder wissen, und unsre Gedanken darauf
richten: so fühlen wir ein starkes Mitleiden und
ein Bestreben, ihnen beyzustehen, so lange keine
entgegengesetzte Leidenschaft uns zurückhält. Und
dieses
*
geschieht ohne alle Absicht auf den Vor
theil, der uns aus diesem Beystand zuwachsen kön
te, oder auf den Verlust, den wir befürchten mü
sten, wenn dieses Leiden fortdauerte. Wir sehen,
daß dieser Trieb bey Kindern heftig wirkt, bey wel
chen man doch die wenigsten Absichten auf einen
Vortheil vermuthen kan. Zuweilen äussert die
selbe sich mit so vieler Heftigkeit, daß er auch bey
Leuten, die eben nicht die weichherzigsten sind, wenn
sie grausamen Hinrichtungen zusehen, Ohnmachten
veranlasst. Dieser Trieb ist von keiner kürzern
Dauer, als unser Leben.
(Gemein
schaftliche Freude.)
Wir haben auch eine Neigung, an der Freu
de anderer Theil zu nehmen, wenn keine vorherge
gangene Nacheiferung, keine eingebildete Hinde
rung unsers Vortheils, und kein Vorurtheil dersel
ben entgegen sind. Wir haben diese Sympathie
selbst mit den unvernünftigen Thieren gemein, und
eben daher komt es, daß uns die Beschreibungen,
welche die Dichter von ihrer Freude machen, so
12
Empfindungskräften. 67(Zweyter Abschnitt.)
sehr gefallen. Aber gleichwie unsre eigennützigen
Neigungen, welche das Uebel zurücktreiben, der
gleichen Furcht, Zorn und Rache sind, insgemein
die Seele stärker bewegen, als diejenigen, durch
welche wir unser Bestes zu erreichen gedenken:
also wirkt das Mitleiden stärker auf uns, als der
Trieb, uns mit andern zu freuen. Und dieses ist
eine sehr weise Einrichtung, weil die Befreyung
vom Schmerz nothwendig vor dem Genus des Gu
ten vorherzugehen scheint. Die heftigern Bewe
gungen der Seele sind dahero auf dasjenige gerich
tet, was am nothwendigsten ist. Diese Sympa
thie scheint sich in allen unsern Neigungen und Lei
denschaften zu äussern. Sie scheinen sich alle an
dern mitzutheilen. Wir sind nicht nur traurig
mit den Betrübten, wir freuen uns nicht nur mit
den Glücklichen, sondern auch die Verwunderung,
oder das Erstaunen, welches sich an jemanden äus
sert, erregt eine ähnliche Bewegung der Seele in
allen, die ihn sehen. Wenn wir wahrnehmen, daß
andere sich fürchten: so fürchten wir uns mit ih
nen, ehe wir noch die Ursachen davon wissen. Ein
Gelächter bewegt uns zum Lachen, Liebe gebiert in
uns Liebe, und die andächtigen Regungen, welche
wir in andern entdecken, sind für uns Einladungen
zur Andacht. Man sieht leicht, was für einen un
mittelbaren Einflus diese Sympathie auf die grosse
Bestimmung der Seele hat, die allgemeine Glück
seligkeit zu befördern.
IV. Ehe wir noch einiger anderer feinern Em(Ein natür
licher Trieb zur Bewe
gung in den meisten be)
pfindungen erwähnen, deren Gegenstände die mensch
(Erstes
Buch.)
68 Von den feinern
(seelten Ge
schöpfen.) lichen Handlungen sind, müssen wir die allgemeine
Bestimmung der Seele, alle ihre thätige Kräfte
beständig zu üben, bemerken. Wir entdecken an
den Menschen, gleich von der Kindheit an, einen
Trieb zur Beschäftigung und zur Bewegung. Die
Kinder berühren, ergreifen, betrachten und kosten
alles. Wenn sie älter werden, so äussern sich an
dere Kräfte. Sie wollen alle mögliche Versuche
machen, sie beobachten alle Veränderungen, und
untersuchen ihre Ursachen; und dieses aus einem
Triebe zur Beschäftigung, und aus einer eingepflanz
ten Wissensbegierde, wenn sie auch von keiner
Hofnung einigen Vortheils gereizt werden. Wir
nehmen wahr, daß die meisten andern Thiere, so
bald sie das Licht erblicken, aus gleichem Triebe, auf
die von dem Urheber der Natur bestimmte Art,
ihre verschiedenen Kräfte üben; und sie sind bey
dieser Uebung, so mühsam und ermüdend sie auch
sey, weit glücklicher, als sie in dem Stand einer
sinnlichen Trägheit seyn würden. Die Schlangen
versuchen ihre kriechenden Bewegungen; das Wild
richtet sich auf, und geht oder läuft; die Vögel er
heben sich auf ihren Flügeln und schwingen sich in
die Höhe; das Wassergeflügel begiebt sich aufs
Wasser, so bald es dasselbe gewahr wird. Das
Füllen übt sich im Rennen; der Stier
*
braucht
seine Waffen, die Hörner; und der Hund folgt
seiner Bestimmung zur Jagd.
13
Empfindungskräften. 69
(Zweyter Abschnitt.)
Die Kinder sind, so lange sie wachen, in Be(Besonders im Men
schen.)
wegung, und scheuen weder Ermattung noch Ue
berdrus. Sie haben so lange eine Abneigung ge
gen den Schlaf, bis er sie wider ihren Willen über
wältiget. Sie bemerken, was vorgeht, erinnern
sich daran, und denken darüber nach. Sie lernen
die Benennungen der Dinge, untersuchen die Na
tur, den Bau, den Gebrauch und die Ursachen der
selben, und ihre Neugier wird keinen Verweisen
nachgeben. Gegen diejenigen, die liebreich gegen
sie sind, äussern sie bald liebreiche Neigungen. Sie
sind dankbar, und begierig, in allem, was man lobt,
vortreflich zu seyn. Bey ihren Spielen sind sie
entzückt, wenn sie glücklich sind, und die Oberhand
behalten; und sie werden ausserordentlich nieder
geschlagen, so bald andere sie übertreffen. Sie
erzörnen sich geschwind über eine eingebildete Be
schimpfung oder Beleidigung. Sie fürchten sich
vor einen empfundenen Schmerz und werden über
die Ursache desselben unwillig; aber sie geben sich
zufrieden, so bald sie finden, daß andre ihn nicht
mit Vorsatz verursacht haben, oder, daß sie ihre
Reue bezeigen. Sie nehmen nichts so übel auf,
als falsche Beschuldigungen oder Vorwürfe. Sie
sind zur Aufrichtigkeit, zur Wahrheit und Offen
herzigkeit geneigt, so lange sie nicht einige daraus
entstandene üble Folgen erfahren haben. Sie sind
voll Ungedult, andern etwas neues oder seltsames,
oder etwas, das Verwunderung oder Gelächter er
regen kan, zu erzählen. Sie sind bereit, andern
mit allem zu dienen, was sie selbst nicht brauchen.
Sie sind begierig, sich andern gefällig zu machen,
(Erstes
Buch.)
70 Ven den feinern
und kennen keinen Argwohn, so lange sie keine Be
leidigungen empfangen haben.
Dieser Trieb zur Beschäftigung dauret so
lange wir leben, und den Gebrauch unserer Kräfte
behalten. Die verworfensten und trägsten Men
schen sind nicht ganz müssig; sie haben eine Art von
Geschäften, ihre Cabalen und ihren Umgang, wo
sie ihre Kräfte anwenden, oder sie haben einige an
dre geringe Empfindlichkeit gegen sinnliche Ver
gnügungen. Wir sehen überhaupt, daß die Men
schen, blos durch diese oder jene Art zu handeln,
glücklich werden können, und die Uebung der Kräf
te des Verstandes ist, von unsrer Geburt an, bis
zu unsern Tod, eine Qvelle<Quelle> des natürlichen Ver
gnügens. Die Kinder sind über die Entdeckung
einer neuen oder kunstreichen Sache entzückt, und
voller Ungedult, sie andern zu zeigen. Oeffentli
che Schauspiele, Seltenheiten, Pracht, unterhalten
ihre ganze Aufmerksamkeit. Vornehmlich aber
sind die wichtigen Handlungen grosser Männer, ihr
Glück, und der Stand, darinnen sie gelebt haben,
man mag davon erzählen hören, oder lesen, oder sie
vorstellen sehen, das Vergnügen eines jeden mensch
lichen Alters. Hier wird das Vergnügen durch
unser geselliges Gefühl der Freude erhöhet; und
durch unsern Trieb zum Mitleiden, und durch den
Antheil, den wir an Personen, die wir bewundern,
zu nehmen pflegen, wird der Eifer der Untersuchung
vermehret.
Wenn einigen Menschen ein fähiger Geist
verstattet, sich den schwerern Wissenschaften zu na
Empfindungskräften. 71(Zweyter Abschnitt.)
hen: was für eine heftige Begierde bemerkt man
alsdenn nicht an ihnen zur Käntnis der Geometrie,
Arithmetik, Astronomie und der Geschichte der Na
tur? Es ist ihnen eine Freude, alle Mühe anzu
wenden, und ganze Nächte zu wachen. Haben wir
nöthig, die Fabelgeschichte und Philologie zu er
wähnen? Es ist offenbar, daß in der Wissen
schaft ein hohes natürliches Vergnügen liegt, das
mit keinen Reitzungen eines Vortheils verknüpft
ist. Ein gleiches Vergnügen liegt in der Känt
nis desjenigen, was die Geschäfte des Lebens be
trift, und derjenigen Wirkungen, welche die Hand
lungen auf die Glückseligkeit einzelner Personen
oder ganzer Gesellschaften haben. Wie sehr sind
alle diese Erfahrungen derjenigen Philosophie ent
gegen, nach welcher der einzige Trieb, oder die
einzige Bestimmung der Seele in einer Begierde
nach den Vergnügungen, welche der Körper gewährt,
oder nach der Befreyung vom körperlichen Schmerz,
liegen soll.
V. Durch eine höhere Kraft der Empfin(Ein mora
lisches Ge
fühl.)
dung, als alle bisher erwähnte sind, liegt für die
Menschen in den Handlungen die grosse Quelle ihrer
Glückseligkeit zubereitet, nämlich durch diejenige,
vermittelst welcher sie moralische Begriffe von
Handlungen und Charactern erhalten. Niemals
ist, ausser den Jdioten, eine Art von Menschen ge
wesen, welche alle Handlungen für gleichgültig an
gesehen hätten. Sie finden alle den moralischen
Unterschied der Handlungen, ohne Absicht auf den
Vortheil oder Nachtheil, den sie davon zu gewar
(Erstes
Buch.)
72 Von den feinern
ten haben. Da dieses moralische Gefühl von gros
ser Wichtigkeit ist: so soll in einem folgenden Ab
schnitt weitläuftiger davon gehandelt werden. Ge
genwärtig mag es genug seyn, das anzumerken,
was wir alle fühlen, nämlich, daß gewisse edle
Neigungen und die daraus fliessenden Handlungen,
wenn wir uns ihrer selbst bewust sind, die ange
nehmsten Empfindungen des Beyfalls und einer
innerlichen Zufriedenheit in uns hervorbringen;
und daß, wenn wir diese Neigungen und Hand
lungen an andern bemerken, wir nicht nur ein in
niges Gefühl des Beyfalls und eine Empfindung
ihrer Vortreflichkeit in uns wahrnehmen, sondern
auch eine daher entstehende Gewogenheit und einen
Eifer für ihre Glückseligkeit empfinden. Wenn
wir uns der entgegengesetzten Neigungen und
Handlungen selbst bewust sind: so fühlen wir die
Verweise unsers Gewissens, und ein Misfallen an
uns selbst; wenn wir sie an andern bemerken: so
misbilligen wir ihre Gemüthsbeschaffenheit, und
halten sie für niederträchtig und hassenswürdig.
Die Neigungen, welche diesen moralischen
Beyfall erregen, sind entweder alle unmittelbar auf
das gemeine Beste gerichtet, oder sie stehen, mit die
sen gemeinnützigen Gesinnungen, in einer natürli
chen Verbindung. Diejenigen aber, welche das
moralische Gefühl misbilligt und verwirft, sind
entweder so bösartig, daß sie darauf gerichtet sind,
andre in Unglück zu stürzen; oder sie haben den ei
genen Vortheil so sehr zur Absicht, daß sie ungü
tige Gesinnungen verrathen, oder doch die gemein
Empfindungskräften. 73(Zweyter Abschnitt.)
nützigen Neigungen den Grad der Höhe nicht er
reichen lassen, der zur Beförderung des gemeinen
Besten erfordert, und von Menschen ordentlicher
Weise erwartet wird.
Dieses moralische Urtheil ist nicht nur wohl(Ist allen Menschen gemein.)
erzogenen und nachdenkenden Personen eigen. In
den rauhesten Menschen entdeckt man Spuren da
von; und junge Gemüther, die am wenigsten, an
den verschiedenen Einflus der Handlungen auf sich
selbst oder auf andre, denken, und ihren eigenen
künftigen Vortheil wenig zu Herzen nehmen, fin
den gemeiniglich an allem, was moralisch ist, den
meisten Gefallen. Daher komt es, daß die Kin
der, sobald sie die verschiedenen Benennungen der
Neigungen und Gemüthsarten wissen, so sehr
begierig sind, solche Geschichten erzählen zu hören,
welche den moralischen Character der Menschen
und ihre Glücksumstände vor Augen stellen. Da
her entsteht die Freude über den Wohlstand des
Gütigen, des Redlichen und des Gerechten; und
der Unwillen über das Glück des Grausamen und
des Verräthers. Von dieser Kraft werden wir im
Verfolg ausführlich handeln.
VI. Gleichwie wir, von der vorhergehenden(Ein Ge
fühl der Eh
re.)
Bestimmung, zu dem Wohlgefallen und Misfal
len an uns selbst und an andern, wie es der wahr
genommenen Beschaffenheit des Gemüths gemäs ist,
angewiesen werden: also empfinden wir, vermöge
einer andern natürlichen Bestimmung, die wir das
Gefühl der Ehre und Schande nennen können, ein
grosses Vergnügen, wenn wir durch unsre guten
(Erstes
Buch.)
74 Von den feinern
Handlungen den Beyfall und die Hochachtung an
drer erhalten, und wenn sie uns ihre Dankbarkeit
zu erkennen geben; hingegen gehn uns Tadel,
Verachtung und Vorwürfe durchs Herz. Alles
dieses äussert sich im Gesichte. Wir erröthen,
wenn wir uns für Schande, Tadel, oder Ver
achtung fürchten.
Es ist wahr, wir bemerken, von unsrer Kind
heit an, daß die Menschen denjenigen, welche sie
ehren und hochachten, Gutes zu erzeigen geneigt
sind. Aber wir berufen uns auf das Herz der
Menschen, ob sie nicht, wenn sie geehrt und hoch
geachtet werden, ein unmittelbares Vergnügen
empfinden, ohne daß sie dabey auf einen künftigen
Vortheil denken; und ob sich dieses Vergnügen
nicht auch alsdenn eben so sehr äussert, wenn sie
gleich voraus wissen, daß sie keinen Vortheil er
warten dürfen. Bemühen wir uns nicht insge
samt um einen guten Ruf nach unserm Tode? Und
woher komt es, daß nur die Furcht der Schande
und nicht auch die Furcht anderer Uebel, die Er
röthung zur Gefährtin hat, wenn dieses nicht ein
unmittelbarer Trieb ist?
Die Ursache, welche Aristoteles
*
von die
sem Vergnügen angiebt, ist zwar wohl ausgedacht,
aber sie ist nicht die richtige. Er meint, wir hät
ten an der Ehre um deswillen Gefallen,
weil sie ein Zeugnis von unsrer Tugend sey,
14
Empfindungskräften. 75(Zweyter Abschnitt.)
welche, wie wir uns bewust wären, das
höchste Gut ausmache. Diese Betrachtung
kan zuweilen die Ehre denjenigen angenehm ma
chen, welche, in Ansehung ihres eigenen Verhal
tens, zweifelhaft und mistrauisch sind. Aber haben
nicht auch Männer von den grössten Vorzügen,
die von der Güte ihres Verhaltens vollkommen
überzeugt sind, über ein Lob, das man ihnen bey
legt, eine gleiche natürliche Freude, die ganz et
was anders ist, als der Beyfall, den ihnen ihr in
neres Urtheil zugesteht.
Die gütige Absicht, welche Gott bey Ein
pflanzung dieses Triebes gehabt hat, ist offenbar.
Er reizt zu allem, was vortreflich und liebenswür
dig ist; er giebt der Tugend eine angenehme Be
lohnung; er übersteigt oft die Hindernisse, welche
ihr von niedrigen Vortheilen der Welt in den Weg
geleget werden; er ermuntert selbst Leute von ge
ringen Tugenden zu solchen nützlichen Dienstlei
stungen, die sie ausserdem von sich abgelehnt haben
würden. Solchergestalt werden diejenigen, welche
nur auf ihren eigenen Vortheil sehen, wider ihre
Neigung angetrieben, den allgemeinen Vortheil
zu befördern; und diejenigen, welche ihm zuwider
handeln, werden bestraft.
Ein andrer Beweis, daß dieses Gefühl der
Ehre ein ursprünglicher Trieb sey, ist dieser: Wir
bestimmen den Werth des Lobes, das uns andre
zugestehen, nicht nach ihrer Fähigkeit, uns zu die
nen, sondern nach ihrer Geschicklichkeit, über der
gleichen Sachen zu urtheilen. Wir fühlen den
(Erstes
Buch.)
76 Von den feinern
Unterschied zwischen dem eigennützigen Verlangen,
einem angesehenen Manne zu gefallen, von dem
wir unsre Befördrung erwarten können; und zwi
schen der innern Freude über den Beyfall eines
Kenners, der uns ausserdem keine Dienste leisten
kan. Man fieht<sieht>, daß die Liebe zum Ruhm eine
der allgemeinsten Leidenschaften der Seele sey.
(Ein Gefühl der Anstän
digkeit und Würde.)
VII. Ob gleich die Handlungen, durch das
moralische Gefühl, den grössten Einflus auf unser
Glück oder Elend haben: so ist doch klar, daß die
Seele, in manchen Kräften des Körpers und des
Geistes, noch andere Vortreflichkeiten wahrnimmt.
Wir müssen sie entweder in uns selbst oder in an
dern bewundern, und wir finden, an gewissen Ue
bungen derselben, Vergnügen, ohne sie als morali
sche Tugenden anzusehen. Wir vermengen die
Worte oft zu sehr, und wir suchen nicht, die ver
schiedenen Empfindungen der Seele, mit gehöriger
Unterscheidung auszudrücken. Wir wollen für
unsere Urtheile über solche Fähigkeiten, Neigungen
und die daraus fliessenden Handlungen, die wir für
tugendhaft halten, den Nahmen des moralischen
Beyfalls
beybehalten. Wir finden, daß dieser Bey
fall eine Empfindung ist, die sich von der Be
wunderung und dem Wohlgefallen unterscheidet,
welchen wir an verschiedenen andern Kräften und
Fähigkeiten haben. Wir werden auch durch ein
Gefühl der Anständigkeit und der Würde vergnügt.
Dieses Gefühl ist uns ebenfalls natürlich, aber
von dem moralischen Beyfall ganz und gar unter
schieden. Wir kennen nicht nur den Nutzen, wel
Empfindungskräften. 77(Zweyter Abschnitt.)
chen diese schätzbaren Kräfte und ihrer Uebung, ih
ren Besitzern gewähren; sondern sie bringen auch
die angenehmen Bewegungen der Bewunderung
und des Wohlgefallens, in verschiedenen Graden,
hervor. Solchergestalt ist Schönheit, Stärke,
Geschwindigkeit, Leichtigkeit des Körpers anständi
ger und schätzbarer, als ein starker gefrässiger Ma
gen, oder ein Geschmack, der sich auf gute Spei
sen versteht. Man sieht männlichen Belustigun
gen, dem Reiten und Jagen, mit mehrerem Ver
gnügen und Gefallen zu, als dem Essen und Trin
ken, wenn es auch mässig geschieht. Eine Ge
schicklichkeit in diesen männlichen Uebungen ist oft
hochzuschätzen; dahingegen ein Hang zur blosen
Sinnlichkeit auch selbst alsdenn Verachtung
verdient, wenn er nicht zu Ausschweifungen verlei
tet, und, auf das gelindeste zu reden, nur unschul
dig ist. Ja es kan sich in der Gestalt des Leibes,
in den Geberden, in den Bewegungen, entweder
etwas anständiges und edles, oder etwas unan
ständiges und unedles äussern, ohne, daß sich die
Hoffnung eines Vortheils in das Urtheil der Zu
schauer mischt.
Aber dieses äussert sich noch mehr bey den(In ver
schiedenen Graden.)
Kräften der Seele, und in der Uebung derselben.
Die Bewunderung eines durchdringenden Ver
stands, einer Fähigkeit zu Geschäften, eines Ver
mögens, mit einem anhaltenden Fleisse zu arbeiten,
eines treuen Gedächtnisses, eines ungesuchten Wi
tzes, ist uns natürlich; aber sie ist von dem mora
lischen Beyfall ganz und gar unterschieden. Es
(Erstes
Buch.)
78 Von den feinern
scheint, als wenn wir, für jede natürliche Kraft,
mit einem richterischen Geschmack versehen wä
ren, der die eine Art ihrer Anwendung empfiehlt,
und die entgegengesetzte misbilligt. Daher gefal
len uns alle schöne, und alle mechanische Künste, als
die Mahlerey, Bildhauerkunst, Dichtkunst, die
Musik, die Baukunst, Gärtnerkunst. Wir be
trachten nicht nur die Werke selbst mit Vergnügen,
sondern wir empfinden auch eine natürliche Bewun
derung der Personen, in welchen wir einen Ge
schmack und Geschicklichkeit in diesen Künsten wahr
nehmen. Hingegen werden die niedern Kräfte,
welche blos auf die Befriedigung der Sinne ge
richtet sind, gleichgültig angesehen, und sie sind oft
Ursachen der Schaam und Verachtung.
(Die Glück
seligkeit han
delnder We
sen liegt in den Hand
lungen.)
Die Anmerkung des Aristoteles ist also
richtig: „Die vornehmste Glückseligkeit han
delnder Wesen entspringt aus den Hand
lungen; und zwar nicht aus allen Ar
ten von Handlungen, sondern aus solchen,
welche ihrer Natur angemessen sind, und
welche die Natur empfiehlt.“ Wenn wir
den körperlichen Begierden Gnüge leisten; so em
pfinden wir ein unmittelbares Vergnügen, das auch
die Thiere empfinden, aber keine weitere Befriedi
gung. Wir finden nichts edles, wenn wir darüber
nachdenken; wir haben nicht zu hoffen, daß andere
Gefallen daran haben werden. Es giebt eine An
wendung anderer körperlicher Kräfte, welche mehr
Edles und Angenehmes zu haben scheint. Es sind
überall verschiedene Grade; ein feiner Geschmack in
Empfindungskräften. 79(Zveyter<Zweyter> Abschnitt.)
den schönen Künsten ist immer angenehmer; die Aus
übung bringt Vergnügen; die Werke gefallen dem
Zuschauer, und verschaffen dem Verfertiger Ruhm.
Die Uebung der höhern Kräfte des Verstandes in
Entdeckung der Wahrheit, und richtiger Schlüsse,
ist desto rühmlicher, je wichtiger die Sachen sind.
Aber den höchsten Grad des Edlen erreichen die tu
gendhaften Neigungen und Handlungen, die Ge
genstände des moralischen Gefühls.
Einige andere Fähigkeiten der Seele, welche,(Nebenbe
griffe.)
mit den gemeinnützigen Neigungen, in einer na
türlichen Verwandschaft stehen, und weder den
höchsten Grad des Eigennutzes noch der Sinnlich
keit neben sich leiden, scheinen von dem moralischen
Gefühl selbst unmittelbar gebilliget zu werden.
Von diesem wollen wir an einem andern Orte
handeln. Wir müssen hier nur anmerken, daß
gewisse vergesellschaftete Begriffe; beständige Ver
gleichungen in Metaphern und Gleichnissen; und
andere Ursachen, einigen unbeseelten Dingen Ne
benbegriffe von Würde, Anständigkeit und Heilig
keit mitgetheilt haben. Einige sind gering und
verächtlich: andere hingegen sind in dem mittlern
Stande der Gleichgültigkeit. Unsere Neigung,
nachzuahmen, und Uebereinstimmungen zu bemer
ken, hat alle Sprachen mit Metaphern erfüllt.
Gleichnisse und Allegorien gefallen in vielen Aus
arbeitungen ungemein. Daher komt es, daß wir
viele Gegenstände mit Nebenbegriffen von solchen
Eigenschaften ausschmücken, deren sie eigentlich
nicht fähig sind. Einige von diesen Begriffen
(Erstes
Buch.)
80 Von den feinern
sind gros und verehrungswürdig; andere niedrig
und verächtlich. Einige suchen die natürliche Ur
sache oder Gelegenheit des Lachens, einer Bewegung
der Seele, deren alle fähig sind, und die allen an
genehm ist, durch ein natürliches Gefühl des
Lächerlichen in Gegenständen oder Begebenhei
ten zu erklären.
(Die Noth
wendigkeit vergesell
schafteter Begriffe.)
IIX. Ehe wir zu den Fähigkeiten des Wil
lens fortgehen, wollen wir noch eine natürliche
Bestimmung, die ausser unsrer Willkühr ist, an
merken, nämlich, solche Vorstellungen, die zugleich
vorgekommen sind, oder auf einmal einen starken
Eindruck auf die Seele gemacht haben, neben
einander zu stellen, oder zusammen zu knüpfen, so,
daß immer einer die andre begleitet, wenn ein Ge
genstand eine oder mehrere davon lebhaft macht.
Gleichwie wir dieses in geringern Fällen wahrneh
men: also erstreckt sich diese Erfahrung auch auf
unsre Begriffe vom natürlichen und moralischen
Guten oder Bösen. Wenn die Gewohnheit und
die Meinung der Welt gewisse Handlungen oder
Begebenheiten uns, eine Zeit lang, als gut oder böse
vorgestellt hat: so wird es uns schwer, die Ver
einbarung aufzuheben, ungeachtet vielleicht unsere
Vernunft von dem Gegentheil überzeugt ist. Man
hat also eine dunkle Einbildung von dem Anstän
digen oder Unanständigen gewisser Handlungen;
von dem Elend eines Zustands und von dem Glück
eines andern; so wie man bey Kirchhöfen sich Ge
spenster vorstellt. Obgleich viele Widerwärtigkei
ten und Laster aus dieser Quelle entspringen: so
Empfindungskräften. 81(Zweyter Abschnitt.)
müssen mir<wir> doch gestehen, daß diese Bestimmung
schlechterdings nothwendig sey. Ohne sie würde
für uns das Gedächtnis, die Erinnerung, und selbst
die Sprache einen geringen Nutzen haben. Wie
mühsam würde es seyn, wenn wir bey jedem Wor
te, das wir hören, oder zu sprechen verlangen, eine
besondere Erinnerung nöthig hätten, um ausfindig
zu machen, was für Worte und Begriffe, durch
die Gewohnheit der Sprache, verbunden sind?
Es würde eine eben so beschwerliche Arbeit seyn,
als wenn wir eine verborgene Schrift, wozu wir
einen Schlüssel gefunden, entziffern wollen. Ton und
Begriffe sind mit einander so genau verknüpft, daß der
eine allemal von dem andern begleitet wird. Wie
geht es zu, daß wir uns erinnern? Wenn wir um
eine vergangene Begebenheit gefragt werden: so
wird der Zeit, oder des Orts, eines Nebenum
stands, oder einer damals gegenwärtigen Person
erwähnt; und diese bringen das ganze Gefolge der
vergesellschafteten Begriffe mit sich. Man spricht
von einer Streitigkeit; eine Person, die davon un
terrichtet ist, findet, daß, ehe sie es noch will, die
vornehmsten Schlüsse beyder Theile, sich ihrer Seele
vorstellen. Dieser Fähigkeit mus man grössten Theils
die Gewalt der Erziehung schuld geben, welche in
unsrer Kindheit, viele Verknüpfungen der Begriffe
hervorbringt. Wenige haben die Gedult, oder den
Muth, zu untersuchen, ob dieselben, in der Natur,
oder in der Schwachheit ihrer Anführer, gegrün
det sind.
IX. Viele von den natürlichen Bestim(Der Wille und die Fer
tigkeiten.)
mungen des Willens sind von denjenigen, welche
(Erstes
Buch.)
82 Von den feinern
hiervon besonders gehandelt, und die natürlichen
Gelegenheiten der verschiedenen Leidenschaften und
Neigungen aufgesucht haben, hinlänglich erklärt
worden. Auf diese Schriftsteller wollen wir uns
hiermit beziehen. Wir haben die starke natürliche
Neigung zu Handlungen oben betrachtet. Wir
wollen eine andre Bestimmung, oder ein anderes
Gesetz unsrer Natur bemerken, vermöge dessen die
öftere Wiederholung einer Handlung, uns nicht
nur die Verrichtung derselben, durch den Wachs
thum unserer thätigen Kräfte, erleichtert, sondern
auch die Seele zur künftigen Unternehmung ge
neigt, oder dieselbe unwillig macht, wenn sie gewalt
sam davon zurückgehalten wird. Und dieses wird
eine Fertigkeit genennt. Bey unsern leidenden
Empfindungen wird Vergnügen und Schmerz
durch das beständige Gefühl vermindert; und doch
wird die Unzufriedenheit über den Mangel des
Vergnügens vermehret, wenn wir ihn lange erlit
ten haben. Von so schädlichen Folgen die Fertig
keit in dem Laster ist: so gros sind die Vortheile,
welche die Fertigkeit in der Tugend verschaft. Es
ist ein Vorzug, der vernünftigen Wesen gemein
ist, daß sie auf diese Art einige ihrer Kräfte, nach
ihren Gefallen verstärken, und die Dauer und
Lebhaftigkeit derselben befördern können. Es
ist auch allemal in unsrer Gewalt, eine Fertigkeit
dadurch zu schwächen, wenn wir uns entweder al
ler Anwendung derselben enthalten, oder ihr stand
haft entgegen handeln. Könten wir keine Fertig
keiten erlangen: so müsten unsre Kräfte immer
schwach bleiben, und eine jede Handlung, welche
Empfindungskräften. 83(Zweyter Abschnitt.)
Kunst erfordert, würde uns beständig so schwer
seyn, als wir sie bey unsern ersten Versuchen
finden.
Aber alle diese Verknüpfungen, Fertigkeiten,(Weder Fer
tigkeit noch
Gewohnheit bringen neue Begriffe her
vor.)
Gewohnheiten, oder Vorurtheile machen uns die
Gegenstände angenehm, oder unangenehm, nach
dem Begriffe, von einer Eigenschaft oder Art, den
wir durch unsre von der Natur erhaltenen Sinne
empfangen haben; allein sie können keine neuen Be
griffe hervorbringen. Es werden dahero keine
Empfindungen des Beyfalls oder der Abneigung,
kein Wohlgefallen oder Misfallen hinlänglich er
klärt, wenn man sie dem Vortheil, der Gewohn
heit, oder Erziehung, oder der Verbindung der
Begriffe zuschreibt; woferne man nicht vollkom
men zeigen kan, was dieses für Begriffe sind, und
zu was für einer Empfindung sie gehören, nach
welcher diese Gegenstände entweder gebilliget oder
gemisbilliget werden.
X. In einem gewissen Alter entsteht unter(Die eheli
chen und ver
wandschaft
lichen Nei
gungen.)
beyden Geschlechtern ein neuer Trieb, der auf die
Fortpflanzung unsrer Art gerichtet ist, und der um
deswillen, weil er in unsern ersten Jahren, ehe wir
die zu Erhaltung der Nachkommen erforderliche
Wissenschaft und Erfahrung erlangt haben, schäd
lich oder unnützlich seyn würde, in der Ordnung
der Natur weislich nachgesetzt worden ist. Dieser
Trieb in dem Menschen zielt nicht blos auf eine
sinnliche Lust ab, wie bey den Thieren; er ist kein
blindes Verlangen, das in dem Menschen eben so,
wie bey den Thieren, nach einer vorhergegangenen
(Erstes
Buch.)
84 Von den feinern
Erfahrung der Lust wirkt. Er besteht in einem
natürlichen Wohlgefallen an der Schönheit, welche
uns liebenswürdige Eigenschaften zu versprechen
scheint. Wir stellen uns etwas moralisch Gutes
vor, und daher entsteht Zuneigung und Hochach
tung, ein Verlangen nach der Gesellschaft auf Le
benszeit; Freundschaft, Liebe und Gegenliebe, und
vereinigte Vortheile. Dieses Urtheil und dieses
Verlangen begleitet den natürlichen Trieb der Men
schen. Sie haben also alle ein Verlangen, Nach
kommen zu haben, wenn keine stärkern Betrach
tungen, die daneben nicht bestehen können, sie zu
rückhalten.
In dem Menschen liegt, wie in den Thieren,
eine besondere starke Zuneigung gegen seine Nach
kommenschaft, und eine zärtliche Sorgfalt, sie zu
erhalten und glücklich zu machen. Diese Zunei
gung dauert bey den Menschen so lange als das Le
ben, und als die Aeltern ihren Abkömmlingen Gu
tes thun können. Sie erstreckt sich, unvermin
dert, bis auf Enkel und Urenkel. Bey den Thie
ren trift man dieselbe nur zu der Zeit an, da die
Jungen Beystand nöthig haben; wo dieser nicht
mehr nöthig ist, wird auch jene nicht mehr wahr
genommen. Sie dauert so lange, bis die Jungen
sich selbst erhalten können, und alsdenn hört sie völ
lig auf. Diese ganze Einrichtung ist ein überzeu
gender Beweis von der Weisheit des Urhebers der
Natur. Eine ähnliche, aber schwächere Zunei
gung begleitet die Bande des Bluts unter den Sei
tenverwandten. Diese zärtliche Neigungen sind
Empfindungskräften. 85(Zweyter Abschnitt.)
die Quellen von mehr als der Hälfte der Bemü
hungen und Sorgen der Menschen; und wenn ei
nige Kräfte da sind: so ermuntern sie die Seele zu
Fleis und Arbeit, und zu grossen und anständigen
Unternehmungen. Durch ihre Vermittelung wird
das Herz einer jeden zärtlichen liebreichen und gesel
ligen Neigung fähiger gemacht.
XI. Man kan dem Menschen schwerlich ei
nen natürlichen Trieb zur Gesellschaft mit seinen(Die Men
schen sind ge
sellig, und zur bürgerli
chen Gesell
schaft ge
schickt.)
Nebenmenschen streitig machen. Es ist dieses ein
unmittelbarer Trieb, welchen wir bey vielen Arten
von Thieren ebenfalls wahrnehmen. Wir können
die Geselligkeit nicht ganz den Bedürfnissen zuschrei
ben. Die andern Grundtriebe der Menschen, ihre
Neugier, ihre Neigung, das, was ihnen begegnet,
einander mitzutheilen, ihr Trieb zur Thätigkeit,
ihr Gefühl der Ehre, ihr Mitleiden, ihre Wohlge
wogenheit, ihr Trieb zur Freude, und das morali
sche Gefühl würden in der Einsamkeit entweder gar
nicht, oder doch nur wenig angewendet werden
können, und aus dieser Ursache vereinigen sich die
Menschen, ohne daß ein Zwang, oder eine Betrach
tung ihrer Bedürfnisse, der unmittelbare und letzte
Bewegungsgrund dazu seyn sollte. Die Bande
des Bluts würden eben diese Wirkung haben,
und wahrscheinlicher Weise haben dieselben vie
le Menschen, welche sich ihren Mangel in der
Einsamkeit vorgestellet, zuerst veranlasst, daß sie
sich, mit dem Vorsatz, einander beyzustehen, und
sich zu vertheidigen, vereinigt haben. Nachdem
diese Vereinigung geschehen war: so gewann die
vorzügliche Redlichkeit, Klugheit oder Herzhaftig
(Erstes
Buch.)
86 Von den feinern
keit einiger unter ihnen, die vorzügliche Achtung
und das Vertrauen aller übrigen. Es entstanden
Streitigkeiten. Sie sahen bald ein, daß die Ent
scheidung derselben durch Gewalt, von üblen Fol
gen sey. Sie bemerkten, wie viel Gefahr es brin
ge, wenn bey den Berathschlagungen über die Ver
besserung ihres Zustands oder über die gemein
schaftliche Vertheidigung, die Stimmen getheilt
wären, ob sie gleich alle sich nur einen Endzweck
vorgesetzt hätten. Diejenigen, für welche sie die
meiste Achtung hatten, wurden zu Schiedsrich
tern in ihren Streitigkeiten, und zu
Vorstehern
der ganzen Gesellschaft, in Angelegenheiten, die den
gemeinen Vortheil betrafen, erwählet. Diese ga
ben nach ihrer Einsicht, Gesetze, und machten Ein
richtungen zum Besten des gemeinen Wesen. Die
übrigen empfanden die Annehmlichkeiten einer gu
ten Ordnung, der Sicherheit, der Gesetze, und
hatten Ehrfurcht gegen die Gesellschaft, gegen ihre
Vorsteher und die eingeführte Verfassung. Die
feinern Geister fühlten patriotische Gesinnungen,
und die Liebe des Vaterlands in der Brust; und
alle wurden, durch die Bande der Verwandschaft,
durch gemeinschaftliche Geschäfte, und durch den
Genus der Beschützung ihrer selbst und ihrer Gü
ter, zur Liebe der Gesellschaft und zum Eifer für die
Vortheile derselben angetrieben.
(Die natür
liche Reli
gion.)
XII. Da die Ordnung, Grösse, die regel
mäsige Einrichtung und Bewegung in der sichtba
ren Welt die Seele mit Bewunderung erfüllet; da
die verschiedenen Classen der Thiere und Pflanzen,
Empfindungskräften. 87(Zweyter Abschnitt.)
in ihrer ganzen natürlichen Beschaffenheit, die vor
treflichste Kunst, den regelmäsigsten Bau, die deut
lichsten Absichten, und die bequemsten Mittel zu ge
wissen Endzwecken zeigen: so müssen aufmerksame
und nachdenkende Menschen ein oder mehrere ver
nünftige Wesen, wahrnehmen, von welchen alle
diese weise Ordnung und diese Pracht abhängt.
Das Grosse und Schöne erfüllt die Seele mit Ehr
furcht, und es veranlasset uns, zu schliessen, daß
dasselbe unter einem vernünftigen Geiste stehe, und
von ihm geordnet werde. Eine sorgfältige Be
trachtung unserer eigenen Natur und ihrer Kräfte
leitet uns zu eben dieser Folgerung. Unser mora
lisches Gefühl, unsre Empfindung von Güte und
Tugend, von Kunst und Absicht; unsre Erfahrung,
daß es eine moralische Auftheilung in uns gebe,
nach welcher Glück und Unglück auf Tugend und
Laster unmittelbar folgt; und daß eine gleiche
Austheilung auch in äusserlichen Dingen, vermit
telst einer natürlichen Richtung, vorhanden sey;
alles dieses mus uns eine moralische Regierung in
der Welt entdecken. Und da die Menschen geneigt
sind, ihre Wissenschaften, Erfindungen und Muth
massungen einander mitzutheilen: so müssen die Be
griffe von einer Gottheit und Vorsehung bald aus
gebreitet werden, und eine geringe Anwendung der
Vernunft wird sie zur völligen Ueberzeugung füh
ren. Auf diese Art wird eine gewisse Gottesfurcht
und Frömmigkeit gemein werden, von der man mit
Recht sagen kan, daß sie einem vernünftigen Sy
stem natürlich sey. Eine frühzeitige Offenbarung
und eine von Zeit zu Zeit fortgeführte Erzählung
(Erstes
Buch.)
88 Von den feinern
ist der menschlichen Erfindung hierinnen zuvorge
kommen; aber diese allein würden kaum den Glau
ben so allgemein gemacht haben, wenn ihnen die
augenscheinlichen Gründe, welche in den Werken
der Natur liegen, nicht geholfen hätten. Die
Begriffe von der Gottheit und eine Art der Anbe
tung sind wirklich unter den Menschen allemal eben
so gemein gewesen, als das gesellschaftliche Leben,
der Gebrauch der Sprache, oder auch die Fort
pflanzung ihres Geschlechts; und also müssen sie für
natürlich gehalten werden.
Die verschiedenen Kräfte, Fähigkeiten, und
Bestimmungen, wovon wir bisher geredet haben,
werden in dem ganzen menschlichen Geschlecht ge
funden, wenn nicht irgend ein Zufall einige einzel
ne Personen verunstaltet, oder sie gar verstümmelt,
und ihnen eine natürliche Kraft geraubt hat.
Aber, in den verschiedenen einzelnen Personen trift
man nicht alle diese Fähigkeiten, in gleichem Grade,
an; bey einem ist diese grösser; bey einem andern
jene; und eben daher entstehet die grosse Verschie
denheit in den Charactern, Doch, bey ei
ner bequemen Gelegenheit, und wenn von ei
nem stärkern Triebe kein Widerstand vorhanden
ist, wird sich eine jede äussern, und ihre Wir
kung thun.
(Die Ursa
chen des La
sters.)
XIII. Ungeachtet alle diese edlern Kräfte,
von welchen wir gehandelt haben, uns natürlich
sind; so sind doch die Ursachen des Lasters und der
Empfindungskräften. 89(Zweyter Abschnitt.)
Verderbnis der Sitten offenbar. Wir wollen die
Ursachen, die uns das Licht der Natur nicht ent
deckt, mit Stillschweigen übergehn, und anmerken,
daß die Menschen, wenn sie keine sorgfältige Er
ziehung haben, die Jahre ihrer Jugend mit Be
friedigung ihrer sinnlichen Begierden, und mit
Uebung einiger niedern Kräfte, welche durch eine
lange Nachsicht immer zunehmen, verbrin
gen. Das Nachsinnen über moralische Begriffe,
die feinern Vergnügungen, und die Verglei
chung derselben mit den unedlern, ist eine müh
same Beschäftigung. Die Begierden und Lei
denschaften entstehen von sich selbst, wenn ihre
Gegenstände, wie es sich oft zuträgt, vorkom
men. Sie zu unterdrücken, zu prüfen, und im
Gleichgewicht zu erhalten, ist ein schweres
Werk. Vorurtheile und ungegründete Verbin
dungen der Begriffe, sind Menschen von gerin
ger Aufmerksamkeit sehr gewöhnlich. Unsere
eigennützigen Leidenschaften gelangen, durch un
sere Nachsicht, bald zu einer gewissen Macht.
Das menschliche Leben ist also eine unzusammen
hängende Vermischung vieler geselligen, liebrei
chen, unschuldigen; und vieler eigennützigen,
menschenfeindlichen und sinnlichen Handlungen,
nachdem es sich zuträgt, daß eine oder die andre
unserer natürlichen Fähigkeiten erregt wird, und
über andere die Oberhand behält.
(Erstes
Buch)
90 Lezte Bestimmungen
[voriger Abschnitt] 3/21 [nächster Abschnitt]
6
*
Aristoteles nennt im
vierten Abschnitt seiner Poe
tik den Menschen ζ%;ωον
μι- μητικώτατον.
7
*
Im dritten Buche von
der Republik.
8
**
Plutarch im Leben
des Lykurgs.
9
***
Man sehe die Unter
suchung im dritten Ab
schnitt des ersten Buchs.
10
*
Wenn man dieselben
alle zu Empfindungen der
äusserlichen Sinne machen
und läugnen wollte, daß es
eine von denselben unter
schiedene Empfindungskraft
gebe: so würde man eben
sowohl behaupten müssen,
daß das Vergnügen der
Geometrie oder Perspectiv,
sinnlich wären, weil wir
durch die Sinne den Be
grif von Figur empfan
gen.
11
*
Man sehe den Zu
schauer im 412 Stück, und
die Untersuchung über die
Schönheit.
12
*
Man sehe den zwey
ten Abschnitt, der Un
tersuchung über die Tu
gend.
14
*
im fünften Abschnitt des ersten Buchs der Sittenlehre.