Predigt Nr. 4 – Vetter 3 – BT 7va–8vb
[7va]
Überschrift
Absatz 1
FN-Anzahl: 3
1 Die
erst
predig1
an der heiligen dry künig tag
2 von dryen
myrrhen sagt, wie got uß grossen treuwen ordnet alle ding und lyden
zuͦ ewigem nutz eins yegklichen menschen.
2 Genommen nach der meinung uß
Mattheo .ij.:
3 "Magi obtulerunt domino
aurum thus et myrrham."
3
1 Die erste Predigt anlässlich des Festtages der Heiligen drei
Könige über die drei Eigenschaften der Myrrhe erklärt, wie Gott an seiner
Zusage festhält und alle Dinge und Leiden eines jeden Menschen so
einrichtet, dass sie ihm zum ewigen Leben nützlich sind.
2 Die Auslegung folgt Matthäus, 2. [Kapitel]:
3 "Magi obtulerunt domino aurum thus et
myrrham."
Abschnitt 1
Absatz 2
FN-Anzahl: 0
1 "Die künig habenn geopfferet gold,
weyrach und myrr."
1 "Die
Könige haben Gold, Weihrauch und Myrrhe geopfert."
Abschnitt 2
Absatz 3
FN-Anzahl: 8
1 Nun nymm zuͦ dem ersten die
myrr, die ist bitter unnd bedeüt die bitterkeit, die dazuuͦ
gehoͤrt, das der mensch gott fynde, als nun der mensch sich
zuͦ dem ersten keret von der welt zuͦ gott, das er denn alle
lüst und begird ußtreibe.
2 Wann das muͦß von
not sein, das alles daz uß muß, das der mensch mit lust besessen hat.
3 Das ist in dem ersten gar bitter und gar saur.
4 Alle ding muͤssen dir also bitter werden,
als der lust was, das ye sein muͦß.
5 Da
gehoͤret ein grosser sinn zuͦ und ein behender fleiß.
6 Darnach
a der lust groß
[b] was,
darnach wirt auch die myrre bitter und ein bittere bitterkeit.
7 Nun moͤ
Acht man sprechen:
8 Wie mag der mensch on lust, freud unnd begird sein, die weil
er in der zeyt ist?
9 Mich hungert, ich ysse.
10 Mich dürst, ich trinck.
11 Mich schlaffert, ich schlaff.
12 Mich freüert, ich
werm mich.
13 Daz kann mitnichte geschehen, das mir daß
bitter gesein moͤge sunder nach begirde der natur.
14 Das kann ich nimmer anders gemache als ferr die natur natur
ist.
15 Aber diß froͤde, lust, gemach,
gnuͤgte, wunsamkeit oder gefelligkeit
4 sol nit yngeen,
noch kein statt in der innigkeit haben.
16 Sy sol
hinfliessen mit den wercken und kein bleiben nicht sein.
17 Sy sol nit lust darauff setzen, sunder hinfliessen und nit
in einiger eigner besitzung, das man nit daruff rasten mit genuͤgde
oder gefallung,
5 die du
in dir findest zuͦ der welt und zuͦ den creaturen.
18 Du muͦst die creatur und lust in dir toͤdten
und überwinden.
6
19 Ja, die genuͤgde und freud, die du findest
mit den gottesfründen
7 unnd mit den guͦten menschen, diß
und darzuͦ du dich geneiget findest, muͦstu alles überwinden.
20 Alldieweil
Herodes und alles sein gesind, die des kindes seel
suͦchen,
8 in dir zuͦmal
warlich und sicherlich nitt todt seind.
21 Darumb so
betreüg dich nit selber.
22 Syhe gar eben, wie es mit
dir stee.
23 Und nit steiest zuͦ frey, das du on
forcht lebest.
9
1 Nun nimm als erstes die Myrrhe. Sie ist bitter und
offenbart uns die Bitterkeit, die damit verbunden ist, dass der Mensch Gott
finden kann, wenn denn der Mensch sich erstmals von der Welt abwendet hin zu
Gott, dass er dann alle Lust und Begierde aus sich vertreibe.
2 Denn das muss notwendigerweise geschehen, dass alles das
vertrieben werden muss, was der Mensch voller Lust besessen hat.
3 Das ist zunächst ganz und gar bitter und sauer.
4 Alle Dinge müssen dir genau so bitter werden, wie die Lust
war; das muss immer [so] sein.
5 Dazu bedarf es eines
umfassenden Verstandes und geschickter Sorgfalt Beflissenheit.
6 Wonach die Lust groß war, dem gegenüber wird auch die Myrrhe
bitter und eine tiefere Bitterkeit sein.
7 Nun könnte
man sagen:
8 Wie kann der Mensch frei von Lüsten,
Freude und Begierde sein, solange er auf Erden lebt?
9 Mich hungert, ich esse.
10 Mich dürstet, ich trinke.
11 Ich bin müde, ich schlafe.
12 Mich friert, ich wärme mich.
13 Das kann auf keinen
Fall geschehen, dass mir das bitter sein könnte, sondern die Natur verlangt
danach.
14 Daran kann ich nichts ändern, insofern als
die Natur eben Natur ist.
15 Allerdings dürfen diese
Freude, die Lust, das Angenehme, das Vergnügen, das Wohlbehagen oder die
Zuneigung nicht verinnerlicht werden und auch niemals Platz im Inneren
haben.
16 Sie gehen einher mit den Werken und dürfen
nichts Bleibendes sein.
17 Sie sollen nicht das Ziel
des Begehrens sein, sondern beiläufig einfließen und nicht in eigenem Recht
einer gemeinsamen Sache, so dass man nicht darauf ausruhe mit Annehmlichkeit
oder Zuneigung, welche du in dir zu der Welt und zu den Geschöpfen findest.
18 Du musst deine äußere Natur und die Gelüste in
dir töten und überwinden.
19 Ja, [selbst] das Vergnügen
und die Freude, die du mit den Gottesfreunden und mit den guten Menschen
findest, dies und wozu du dich hingezogen fühlst: alles das musst du
überwinden,
20 solange Herodes und sein ganzes Gesinde,
die des Kindes Seele verfolgen, in dir nicht endlich wahrhaft und sicher tot
sind.
21 Deshalb, betrüge dich nicht selbst.
22 Überprüfe ganz genau, wie es mit dir steht,
23 und ob du dich nicht zu sorglos verhältst, indem du ohne
[Gottes-] Furcht lebst.
Abschnitt 3
Absatz 4
FN-Anzahl: 5
1 Noch ist ein ander myrr, die ferr
übergeet die ersten.
2 Das ist die mirr, die gott
gibt.
3 Es sey, welcherley es sey, kummmer und leyden,
es sey inwendig oder ußwendig.
4 Ach, kündestu die
myrr in der lieb uß dem grunde nemen, da sy got ußgibt, wie ein wunnigkliche
weiß wurde geboren in dem menschen.
5 Ach, wie ein
freud und fryd und ein edel ding daz were!
6 Ja, das
minst und das meist leiden, das gott ymer laßt uff dich fallen, daz geet
hie
B uß dem grund seiner
unußsprechlichen lieb.
7 Und also grosse lieb, als die
hoͤchst unnd best gab, die er dir gebenn moͤcht oder ye gabe,
kannstu anders ir warnemen, sy wer dir nützer.
8 Ja,
alles das leyden, das aller mynst har, das von deynem haubt ye
[8ra]
gefiel, das du nit achtest – "ein har soll nitt ungezelt
bleiben"
10 –, ja es mag nymmer so
klein leyden uff dich gefallen, gott hat es vor ewigklich angesehen und das
geliebet unnd das gemeint unnd also gefelt auff dich.
9 Als dein finger oder dein haubt thuͦt dir wee, dich freyßt an deyn
fuͤß, dich hungert oder dich dürst, man betruͤbet dich mitt
wortten oder mitt wercken oder was dir widerfaren mag, da du not hast oder
leydst, das alles bereit dich also zuͦ dem edlen wunnigklichen wesenn
unnd ist alles von gott also angesehenn unnd geordnet, das dir das also
widerfaren und werden soll.
10 Wann es ist gemessen,
gewegen unnd gezelt
11 unnd mag nit mynder
noch anders geseyn.
11 Nuͦn das mir meyn aug
steet in meynem haubtt, das ist also ewigklichen von gott angesehen.
12 Nuͦn das fare mir uß unnd werde blindt
oder toub, das hatt der hymelisch vatter ewiglich angesehen, das das also
kommen soltt und einen ewigen rat darumb ewigklichen gehabt unnd hat das
ewigklich in im verlassen.
13 Soll ich dann nit meyne
innerliche augen uffthuͦn oder orenn unnd dancken des meynem gott,
das seyn ewiger rat an mir vollbracht ist?
14 Solt es
mir leid sein?
15 Zwar: es solt
C mir wunderlichen zuͦ dancken sein.
16 Des gleychen ist der verlust an freüden
12 oder des guͦtts oder der eren oder
des trosts oder was das sey, das dir gott gibt, das bereit dich alles unnd
dienet dir zuͦ warem fryd.
17 Kündest du es
nuͦr genemen.
1 Es
gibt noch eine zweite Myrrhe, welche die erste weit übertrifft.
2 Das ist die Myrrhe, die Gott gibt.
3 Das kann sein, was es will, Kummer und Leiden, innerlich oder äußerlich.
4 Ach, könntest du diese Myrrhe in Liebe direkt aus
der Quelle nehmen, aus der Gott sie gibt, welche freudige innere Haltung
würde in dem Menschen geboren.
5 Ach, welch eine
Freude und welcher Friede und was für eine kostbare Sache das wäre!
6 Ja, das kleinste und das größte Leiden, das Gott
jemals über dich verhängt, das kommt genau hierher aus der Quelle seiner
unaussprechlichen Liebe.
7 Und eine so große Liebe wie
diese höchste und beste Gabe, welche er dir geben könnte oder jemals gab –
könntest du sie auf andere Weise spüren, wäre sie dir nützlicher.
8 Ja, alles das Leiden, das aller kleinste Haar, das je von
deinem Kopf herunterfiel, das du nicht beachtest – "kein einziges Haar soll
ungezählt bleiben" –, ja, es kann dich niemals ein noch so kleines Leid
treffen, dass Gott es zuvor nicht schon immer gekannt und geliebt und es
bedacht unnd so für dich bestimmt hätte.
9 Wenn dein
Finger oder dein Kopf dir weh tut, es dich an deinen Füßen friert, dich
hungert oder dich dürstet, man dich mit Worten oder mit Taten betrübt oder
was dir [noch] widerfahren kann, wovon du dich bedrängt fühlst oder worunter
leidest – das alles macht dich ganz bereit für das edle freuderfüllte Sein,
und das ist alles von Gott genau so vorgesehen und geplant, dass es dir eben
so widerfahren und geschehen soll.
10 Denn es ist
gemessen, gewogen und gezählt und kann [darum] weder weniger noch anders
sein.
11 Sieh, dass mir mein Auge in meinem Kopf sitzt,
das ist seit Ewigkeit von Gott genau so vorgesehen.
12 Wenn es mir nun ausfällt und blind oder untauglich wird, dann hat das der
himmlische Vater seit Ewigkeit vorherbestimmt, dass das genau so kommen
sollte, und einen ewigen Ratschluss darüber vor ewiger Zeit gefasst, und er
hat das seit jeher in sich [für dich] vorbestimmt.
13 Soll ich dann nicht meine inneren Augen oder Ohren auftun und dafür meinem
Gott danken, dass sein seit jeher für mich bestimmter Plan mit mir erfüllt
wurde?
14 Sollte es mich ärgern?
15 Nein, wirklich: Es sollte für mich ein Grund sein, mich staunend zu
bedanken.
16 Dasselbe gilt für den Verlust von Freude
oder von Besitz oder des Ansehens oder von Zuversicht, oder was immer es
sei, was dir Gott zuteilt, das bereitet dich alles vor und dient dir zu
echtem Frieden.
17 Könntest du es nur
annehmen!
Abschnitt 4
Absatz 5
FN-Anzahl: 4
1 Nuͦn sprechen etlich
menschen:
2 "Herr, es geet mir übel, und hab vil
lydens und betruͤbnyß."
3 So sprich ich, im sey
recht also.
4 So sprechent sie:
5 "Nein, herr, ich hab es verdient.
6 Ich hab ein
boͤß bild in mich gezogen."
7 Ruͦch
dich!
8 Es sey verdienet oder unverdient:
9 Acht, das das leyden von gott sey unnd danck unnd leyde dich
unnd lasse dich!
10 Alle mirrenn, die gott gibt, die
seind in rechter ordnung, das er den menschen dardurch zuͦ grossen
dingen will ziehen.
11 Durch leydens willenn hatt er
alle
[b] ding gesetzt in widerwertigkeit wider den menschenn.
12 Als wol unnd also leychtlich
D het gott das brot lassen wachsen als das
korn, dann das der mensch in allen dingen muͦß geuͤbt sein.
13 Unnd also ein yegklichs hat er in seyner ordnung
geordnet unnd versehen, das der maler nymmer also ver
Esicht in seynem synn, wie er einen yegklichen
strich gestreiche an dem bilde, wie kurtz, wie lang, wie breit es seyn soll,
das doch nit anders kann gesein, soll anderst das bilde ein meisterliche
form gewinnen unnd die rot unnd blaw farb erscheynen.
14 Gott ist tausentmal mer geflissen, wie er denn menschenn mitt manchen
strichen des leydens und mancher farb zuͦ der form bringe, das er im
gefellig werde uff das hoͤch ste.
15 Wer es, das
wir diser gabe unnd myrren recht theten.
16 Aber etlich
menschen genuͤgt nit an den mirren, die in gott gibt:
17 Sie woͤllen ir auch mer auff sich laden und machen
boͤse haͤupter unnd kranckenn fanthasyen unnd haben lang
gelitten unnd vil unnd thuͦnd den dingenn nitt recht.
18 Und würt in wenig genad daruß, wann sie bauwen uff iren
eygnen uffsatze, es sey in penitentz oder abstinentz oder in gebett oder
andacht.
19 Do muͦß gott irer
muͤssigkeitt erbeitten.
20 Biß das sie das ir
gethuͦnd, da würt nicht uß.
21 Gott hatt sich
des beraten, das er nicht lone dann
F seynen eygnen wercken.
22 In dem hymelreych kroͤnet er nichts in der
ewikeit dann seyn werck unnd nitt die deynen.
23 Was er
nicht in dir wirckt, da helt er nicht von.
13
1 Nun sagen aber
viele Menschen:
2 "Herr, es geht mir schlecht, und ich
leide sehr und bin bedrückt."
3 Darauf antworte ich,
das sei für sie genau richtig.
4 Darauf erwidern sie:
5 "Nein, Herr, ich habe es verdient.
6 Ich habe ein schlechtes Vorbild verinnerlicht."
7 Kümmere dich nicht darum!
8 Gleichgültig, ob es verschuldet oder unverschuldet ist:
9 Denke daran, dass das Leiden von Gott komme, und sei
dankbar, und ertrage das Leid in dir und überlasse dich [ihm]!
10 Jede Myrrhe, die Gott [den Menschen] gibt, findet ihren
richtigen Platz, denn er will die Menschen durch sie zu grossen Dingen
anspornen.
11 Um des Leidens willen hat Gott alle Dinge
zu einer Bewährungsprobe für den Menschen werden lassen.
12 Gott hätte genauso gut und ebenso leicht das Brot anstelle
von Korn wachsen lassen können, doch der Mensch soll sich in allen Dingen
anstrengen.
13 Und genauso hat er in seiner Plan alles
zugeordnet und vorherbestimmt, [etwa] dass der Maler in seinem Inneren es
schon genau sieht, wie er einen jeden Pinselstrich in dem Bild führen muss,
wie kurz, wie lang, wie breit er sein muss, was auch nicht anders sein kann,
wenn das Bild eine meisterhaft werden soll und rote und blaue Farbe strahlen
sollen.
14 Gott legt bemüht sich tausendmal mehr, wie
er den Menschen mit vielen Strichen des Leidens und unterschiedlichen Farben
so forme, dass er ihm im höchsten Maße gefalle.
15 Wäre
es [doch so], dass wir diesem Geschenk und dieser Myrrhe entsprechend
handeln würden!
16 Aber viele Menschen begnügen sich
nicht mit den Myrrhen, die Gott ihnen gibt:
17 Sie
wollen sich noch mehr davon aufladen und zerbrechen sich den Kopf und
[entwickeln] blühende Fantasien und haben lange und viel gelitten und gehen
mit diesen Dingen nicht richtig um.
18 Deshalb erfahren
sie dadurch keine Gnade, denn sie folgen nur ihren eigenes Gesetzen, es sei
hinsichtlich Buße oder Enthaltsamkeit, oder [auch] in Gebet oder Andacht.
19 Bei ihnen muss Gott auf eine Ruhezeit warten.
20 Solange dass sie ihren eigenen Vorsätzen folgen,
wird nichts daraus.
21 Gott hat sich entschlossen, dass
er nichts belohnen will außer seinen eigenen Werke.
22 Im Himmelreich verherrlicht er für alle Zeiten nichts außer seinen eigenen
Werken, niemals die deinen.
23 Was nicht er in dir
wirkt, darauf gibt er nichts.
Abschnitt 5
Absatz 6
FN-Anzahl: 1
1 Zuͦ dem dritten ist gar ein
bitter mirr, die gott gibt, inwendige getrenge unnd inwendige visterniß.
2 Der des will warnemen und sich darin lassen, des
verzerren fleysch und bluͦtt und die natur und verwandelt die farb
vil mer das inwendig werck dann groß uͤbung von aussen.
3 Wann gott kumpt mit greülicher anfechtung unnd in
wunderlichen dingen und sunderlichen weysen, die niemant erkennet, dann der
sie entpfindet.
4 Es haben die menschen also
wunderbarlichs leyden un
[8va]
der in also maͤngerley myrre, das sich yemandt kaum darab
gerichten mag.
5 Aber gott weißt wol, was er damit
will.
6 Und so man des nit war nimpt, das ist
schaͤdlich, das den schaden mag niemant verklagen.
7 In welcher unbegreyflicher liebe gott dise myrr gibt, das
mage kein hertz begryffen.
8 Die solten wir zuͦ
unserm nutz gebrauchen,
14 die lassen wir hingeen in einer schlaͤfferige
unachtsamkeit unnd württ nüt daruß.
9 So kommen dann
solliche und sprechen:
10 "Ach herr, ich bynn so dürr
unnd so vinster von inen."
11 Sprich ich:
12 "Liebs kind, leyd dich, so bist du vil baß daran, dann ob du
in grossem befinden und andacht werest."
1 Die dritte Myrrhe, die Gott gibt, ist eine ganz
und gar bittere Myrrhe, eine innere Bedrängnis und innere Finsternis.
2 Wer das wahrnehmen und sich dem überlassen will,
dem zerreisst es Körper und Blut und seine Natur, und dieser innere Kampf
verändert die Farbe weit mehr als schwere äußerliche Prüfungen.
3 Denn Gott kommt mit schrecklichen Anfechtungen und
verwunderlichen Dingen und auf sonderbare Weise, die niemand erkennt außer
demjenigen, der sie verspürt.
4 Diese Menschen
erfahren unter derart vielfältigen Myrrhen ein so außergewöhliches Leiden,
dass kaum jemand sich damit abfinden kann.
5 Doch Gott
weiß genau, was er damit [erreichen] will.
6 Wenn man
dies nicht bemerkt, so schadet das in einer solchen Weise, dass niemand
diesen Schaden [hinreichend] beklagen kann.
7 In
welcher unerfassbaren Liebe Gott diese Myrrhe schenkt, das kann kein Herz
begreifen.
8 Die [Gaben], welche wir zu unserem Nutzen
gebrauchen sollten, die verschlafen wir unachtsam und machen nichts daraus.
9 Und dann kommen solche [Leute] und erklären:
10 "Ach Herr, ich bin innerlich verdorrt und und
finster.“
11 [Darauf] antworte ich:
12 "Liebes Kind, gib dich diesem Leiden hin, dann bist du viel
besser dran, als wenn du in großen Empfindungen und Andacht
verharrtest.“
Abschnitt 6
Absatz 7
FN-Anzahl: 0
1 Nuͦn dise myrr würt
angesehen in zweyerley weyß: mit den synnen unnd mit der vernunfft.
2 Die usser myrr württ angeruͤrt mitt den
synnen, also das soͤlliche menschen woͤllen also wissend sein
unnd woͤllen es mitt irer weyßheit beweren unnd geben dise außwendige
gevaͤll dem glück und dem unglück unnd meinen, sie sollen die leyden
baß bewert habenn.
3 Wer es also gethon, so wer es wol
bekommen und das leyden were wol bewert.
4 Sie
woͤllen gott zuͦ wyß syn unnd in leren unnd in meisteren unnd
koͤnden nit die ding von im nemen.
5 Die haben
groß leyden unnd würt in ir myrr gar bitter.
1 Diese Myrrhe lässt sich nun in zwei
unterschiedlichen Weisen wahrnehmen:
2 mit den Sinnen
unnd mit der Vernunft.
3 Wird die äußere Myrrhe mit
Hilfe der Sinne erspürt, so meinen diese Menschen, sie seien derart
kenntnisreich, dass sie es mit ihrer Klugheit verhindern können, und sie
schreiben diese äußeren Schicksalsschläge dem Glück oder dem Unglück zu und
sind der Auffassung, dass sie das Leid besser abgewehrt hätten.
4 Könnte man auf diese Weise handeln, so wäre es gut
ausgegangen und das Leid wäre tatsächlich abgewehrt.
5 Sie wollen gegenüber Gott zu weise sein und ihn belehren und sein Meister
sein, und sie verstehen es nicht, die Dinge von ihm annehmen.
6 Die haben schweres Leid und ihre Myrrhe wird ihnen sehr
bitter.
Abschnitt 7
Absatz 8
FN-Anzahl: 4
1 Die anderen tasten die inwendig myrr an mit
irer natürlichen behendigkeit unnd brechen sich auß disem getreng.
2 Das ist mitt vernünfftigen dingen unnd
bilden15.
3 Und geend offt einfaͤltig leüt
schnelligklicher zuͦ unnd vil baß, dann die mitt den vernünfftigen
dingen
G umbgeend.
4 Wann die einfaͤltigen volgen gott
einfaͤltigklich.
16
5 Sie wissen nit anders, sunder das sie hoffen.
17
6 Volgeten die vernünfftigen unnd liessen sich im
allein, sie kemen vil adenlicher unnd wunnigklicher in.
7 Wann ir vernunfft diente in zuͦ allen dingenn vil
adenlicher unnd freyer.
8 Ach, die sich allein disem
liessen, so were kein bluͦttstropff so klein, es dienet alles
sunderlich darzuͦ.
[b]
1 Die anderen bekämpfen die
innere Myrrhe mit ihrer natürlichen Tatkraft und befreien sich [so] aus
dieser Bedrängnis.
2 Das geschieht mit Hilfe
vernünftiger Überlegungen und Vorstellungen.
3 Oft
kommen [aber] einfältige Menschen schneller und weitaus besser voran als
diejenigen, die sich auf ihren Verstand verlassen.
4 Denn die einfältigen [Menschen] folgen Gott auf einfache Art.
5 Sie wissen es nicht anders, als dass sie ihre Hoffnung in
ihn setzen.
6 Würden die Vernünftigen ihm folgen und
sich ihm allein überlassen, sie kämen viel erhabener und erfreulicher [zu
ihm].
7 Denn ihr Verstand würde ihnen in allen Dingen
viel unabhängiger und freier nützlich sein.
8 Ach,
wenn sie sich allein ihm überließen, so wäre kein Blutstropfen so klein,
auch er würde dabei nützlich sein.
Abschnitt 8
Absatz 9
FN-Anzahl: 4
1 Hie von waͤchßt ein edles
ruͤtlin, ein zweyglin des edlen weyrauchs koͤrnlin.
2 Das weyrauch korn hatt guͦten rauch, also wenn das
feüwr das koͤrnlin begreifft,
H so luͦgt es und suͦcht den rauch, der
in dem koͤrnle,
18 das er uff gee unnd
würt ein guͦter rauch darauß.
3 Das feüwr ist
anders nüt dann brinnende lieb zuͦ gott, die in dem gebett leyt:
4 Das ist der weyrauch, der da ußlaͤßt den
rechten guͦten rauch der heiligen andacht.
5 Wann als geschriben steet:
6 "Das gebett ist
nüt anders dann ein uff
Igang des gemuͤts in gott."
19
7 Recht als das stro ist umb des korns willen und
nicht mer:
8 Man woͤll dann ein bett darauß
machen, da du uff ruͦwest oder einen myst.
9 Also ist ußwendig gebett nitt mer nütz dann so ferr, als es zu diser edlen
andacht den menschen reitzet und denn ußbricht der edel rauch.
10 Wenn der dann ußkompt, so laß das gebett des munds
kuͤnlichen faren.
11 Hie schleüß ich auß, die
von gebott der heyligen kirchenn zuͦ gebett verbunden seind oder die
etwas gebetts verheissen habent.
12 Oder den von
beychtvaͤttern gebett uffgelegt ist.
20
1 Hiervon wächst ein edler Trieb,
ein kleiner Zweig des edlen Weihrauchkörnleins.
2 Das
Weihrauchkorn verströmt guten Rauch, so dass das Feuer, wenn es das Körnchen
erfasst, sogleich umherschaut und den Rauch sucht, der in dem Körnlein
[ist], damit er herausströme und ein guter Duft daraus werde.
3 Dieses Feuer ist nichts anderes als brennende Liebe zu Gott,
die im Gebet enthalten ist:
4 Das ist der Weihrauch,
der da den rechten guten Duft der heiligen Andacht herauslässt.
5 Denn, wie es geschrieben steht:
6 "Das
Gebet ist nichts weiter als ein Aufstieg des Gemüts zu Gott."
7 Genauso wie es das Stroh [lediglich] nur wegen des Kornes
gibt und aus keinem anderen Grund,
8 es sei denn, man
wolle dann eine Matratze daraus machen, auf dem du ruhst, oder auch
Einstreu.
9 Ebenso ist das Gebet mit dem Mund zu
nichts weiter nützlich als dafür, dass es den Menschen zu dieser edlen
Andacht anstiftet und dann der edle Duft herausströmt.
10 Wenn der dann herauskommt, so lass das Gebet deines Mundes
voller Zuversicht bleiben.
11 Hier schließe ich [aber]
die aus, die durch Vorschriften der heiligen Kirche [her] zu Gebeten
verpflichtet sind oder die gelobt haben, irgendwelche Gebete zu sprechen,
12 oder denen von Beichtvätern Gebete auferlegt
sind.
Abschnitt 9
FN-Anzahl: 0
1 Das wir
dise vorgemelten myrren also brauchent unnd unsers hertzens andacht also
zuͦ gott ufftringe, helff uns
Christus
Jesüs der künig der eeren.
2 Amen.
1 Dass wir diese oben beschriebenen
Myrrhen genau so verwenden und dass die Andacht unsers Herzens ebenso zu
Gott empordringe, [dazu] helfe uns Christus Jesus, der König der Ehren.
2 Amen.