Augustinus, In Iohannis evangelium tractatus 1–23
Weißenburg, Benediktinerkloster — 9. Jh., 1. Drittel
Provenienz: 2r und 90r Benediktinerkloster Weißenburg, Besitzeintrag: Codex monasterii sancti Petri in Wissenburg ordinis sancti Benedicti. 2r Weißenburger Signaturenbuchstabe: .E. (14. Jh.). Die Handschrift gelangte über Heinrich Julius von Blum 1690 in den Besitz des Herzogs Anton Ulrich von Braunschweig ( 2°9; , 3–18).
Pergament — 162 Bl. — 33 × 25 cm
Lagen: 20 IV (160). II (162). Lagenbezeichnung in griechischen Zahlzeichen (Lage 1–5), teilweise durch römische Zahlen ergänzt (Lagen 9–16, 18, 19). Verlust der Lagenbezeichnungen aufgrund des Blattbeschnitts (Lagen 6–8, 17, 20). Neuere Tintenfoliierung. Schriftraum: 26 × 20 cm, zweispaltig, 34 Zeilen. Karolingische Minuskel von mehreren Händen. Adallandus-Gruppe, Haupthand wie in 18 Weiss. ( , 104, 105.). Adallandus-Gruppe, zugehörig: 10 Weiss., 14 Weiss., 17 Weiss., 18 Weiss., 24 Weiss., 13 Weiss., 43 Weiss., 67 Weiss. (?) und 81 Weiss. ( , 51–59). Die Kapitula (1v, 2r), der Eintrag AMEN in Majuskeln am Textende (161r) und wahrscheinlich einige der zahlreichen Korrekturen (68v 2 hanc; 70v 2; 80v 2; 136r, Sp. 1 usw. von der Hand Otfrids von Weißenburg ( , 102, 107). 2rb, Z. 1, Z. 15 Weißenburger Hand, 2. Hälfte 10. Jh. (?); 161v, 162r Gebete und Federproben von Weißenburger Händen, 1. Hälfte 11. Jh. (?) ( , 308). Incipit und Textbeginn in Capitalis Monumentalis zeilenweise rot/schwarz wechselnd (2v Textzierseite und 3r mit anschließender Unzialis), Traktatanfänge in roter Capitalis Rustica, Initial- und Satzmajuskeln - teils mit farbig gefüllten Binnenfeldern. 119v Rubrikator- bzw. Maleranweisungen an den Blatträndern. Mehrere Korrektureinträge.
Hellbrauner Schafsledereinband (1689 - Pertz und Wiedemann/Wolfenbüttel).
INHALT
1v–2r Capitula 1–23 (Nachtrag, 9. Jh., 2. Hälfte). 2rb Audi benigne conditor ( , 1451). 2v–161v : Tractatus in evangelium Iohannis , Liber 1–23 ( 35, 1379–1592; 36, 1–244; 278). 161vb Orationes.
AUSSTATTUNG
10 unverzierte und farbig hinterlegte Initialen. 35 Zierinitialen. Eine historisierte Initiale.Historisierte Initiale: 3r Johannes-Initium. Zu Beginn des Textes eine historisierte Initiale. Auf dem Initialstamm oben aufliegend eine aufgeschlagene Handschrift mit seitlich herabhängenden Schließen (die Bibel). Darauf stehend ein Adler als Evangelistensymbol des Johannes. Über dem Adler, von oben herabragend die Hand Gottes mit seitlich flankierenden Strahlen (am oberen Rand beschnitten). 26,0 cm. Vgl. Abb. 3r+.
Zierinitialen: Zu den vorangestellten Evangelienabschnitten unverzierte und farbig hinterlegte Initialen (9v, 10r, 15v, 22v, 29r, 37r, 56r, 62r, 80v; 1,5–4 cm). Die Traktate eingeleitet durch Zierinitialen (2,5–9,5 cm). Es handelt sich um farbig gefüllte Hohlinitialen, wobei die Buchstaben häufig schwarz hinterlegt wurden (besonders bei der Verwendung von Flechtband). Als Füllmotive dienen einfaches Treppenmuster (T-Formen 15v), Flechtband - teils mit Kreis- und Achterschlingen und geädert 3r, 47r, 125v, 140v, 73r, 73v, 109r, 112v, 113r, 119v), Zickzackband (109r, 46v mit Knospeneinsätzen), Ranke mit Spiralfädchen (37v), Seilschlinge mit Äderung (62r, 93v, 119v, 142v), doppelt geführtes Wellenband mit Spiralfädchen (81r), randständige Rechtecke (125r, 142v), Kreise (87r, 140v, 153v), schmetterlingsartige Blütenformen (3r), Kreuzblüten (23r, 68r, 86v, 99v, 100v), 109v, 113r, 134v, 140v, 153v), Schlangen (56r, lappiges Füllmotiv (62r), gegenständige Halbpalmetten (73v, 153v), dreiblättrige Blüten (73v), Vierpassblüten (99v, 109r, 153v) und Wellen- Palmettenfriese (93v, 94r, 112v, 113r, 134v, 140v). Im Besatz einfach konturierte Halbpalmetten meist mit rückwärts eingerollter Blattspitze (3r, 29v, 37v, 46v, 56r, 62r, 68r, 81r, 86v, 93v, 94r, 99v, 100v, 109r, 109v - flügelartig gegenständig angeordnet, 112v, 119v, 125r, 125v, 134v- als Bogenersatz mit mehreren Blütenständen, 134v, 149v,142v), gestielte, dreiblättrige Blüte (29v), Schnallen (29v, 109r, 140v), Tierköpfe (68r, 86v), Herzblatt (134v), Kleeblatt (134v). Fische mit delphinartigen Köpfen und gelappten Schwänzen als Bogenersatz (68r - ohne Auge, 86v, 87r mit Flossen, 99v mit Schuppen, 109r), als Balken der H-Initiale (93v) und der A-Initiale (119v) oder als Initialstammfüllung (109v). 153v als Cauda-Ersatz ein Vierbeiner (Hund?) mit Vogel im Maul. Als Initialstammendungen einfache Blüten mit einem oder mehreren Fruchtständen (23r, 29v, 37v, 47r, 62r, 81r, 94r, 99v, 100v, 113r, 125r, 142v, 153v), gegabelt (86v), gelappt (142v).
Farben: Blau, Gelb, Rot, Minium, braun-silbriges Braun, Rosé. Viele Ornamentelemente ausgespart, d.h. pergamentfarben.
STIL UND EINORDNUNG
Die Handschrift beinhaltet den ersten Teil der auf drei Bände angelegten Traktat des Augustinus zum Johannesevangelium. Die Aufteilung des Textes auf drei Handschriften ist im frühen 9. Jh. für das Bodenseegebiet durch mehrere erhaltenen Teilbände belegt: Fulda, HLB, Aa 3, Tract. XXII-LIV (Konstanz (?), 8./9. Jh. ( , Nr. 6); Stuttgart, WLB, HB VII 17, Tract. II,2-XXI,12, Bodenseegebiet, 2. Jahrzehnt 9. Jh. ( , Nr. 27); St. Gallen, StiB, Cod. Sang. 20 (Wolfcoz-Psalter), 1. Viertel 9. Jh. ( , Nr. 41); Karlsruhe, BLB, Cod. Aug. perg. 76, Tract. I-XXI, Reichenau, 1. Viertel 9. Jh. ( , Nr. 46). Zusammengehörig mit 18 Weiss. (Tractatus 24–54) wurde die Handschrift paläographisch von Butzmann und Bischoff nach Weißenburg lokalisiert und in das frühe 9. Jh. datiert. Butzmann zählt 10 Weiss. zu den Handschriften der sogenannten Adallandus-Gruppe (14 Weiss., 17 Weiss., 24 Weiss., 43 Weiss. und 81 Weiss.) und erkennt ihre Haupthand ebenfalls in den Handschriften 18 Weiss. und 14 Weiss. Das in der Handschrift verwendete Ornamentspektrum gliedert sich direkt an die Weißenburger Handschriften aus der Zeit um 800 an, wobei 17 Weiss. mit dem bereits verwendeten Blau und den fehlenden Textzierseiten aus Hohlbuchstaben, die fortschrittlichste und somit die zeitlich nahe stehendste ist. Das Füllmotiv der Ranke mit Spiralfädchen auf 37v, findet sich in dem ebenfalls in Weißenburg entstandenen Heidelberger Evangelienbuch des Otfrid von Weißenburg wieder (Heidelberg, UB, Cod. Pal. lat. 52, Weißenburg, um 870, 78r; Lit. ). Die für die Handschriften um 800 festgestellten Bezüge zur St. Galler Buchmalerei treten bei 10 Weiss. und 18 Weiss. in den Hintergrund, so dass das in St. Gallen in der Wolfcoz-Gruppe (816–837) entwickelnde Endgeflecht der Initialstämme und die Verwendung von doppelt gezogenen Abläufen (vgl. St. Gallen, StiB, Cod. Sang. 20 (Wolfcoz-Psalter); , Nr. 33) in der Weißenburger Handschrift nicht zu finden ist. Allgemeine Übereinstimmung mit Formen der Buchmalerei aus dem Bodenseeraum hingegen bestehen weiterhin (vgl. 14 Weiss.). Eine ähnliche Initialstruktur wie in 10 Weiss., mit gelängten zum Teil stark verdünnten Buchstabenstämmen (vgl. 147v, 100v, 113r) und hakenförmig abgewinkelten Gelenken begegnet in der oben genannten Konstanzer (?) Augustinus-Handschrift (vgl. , Abb. 44 und 45). Des weiteren lassen sich Handschriften aus Bayern zum Vergleich heranziehen (vgl. Grundmuster wie: Seilband, Stufenband, Zickzackband mit oder ohne Knospen, Schlangenband - Zusammenstellung vgl. , 65). Spezielle motivische Parallelen liegen zu zwei Handschriften aus dem Elsass vor, dem 1870 verbrannten Rachio-Codex (Straßburg, 788; ) und dem sogenannten Evangeliar aus Schuttern (London, BL, Add MS 47673, Schuttern, 1. Drittel 9. Jh.; , 481). Die ältere Handschrift, der 788 entstandene Rachio-Codex, zeigt u.a. ähnlich strukturierte Fische und starke Wellenbänder, während das jüngere Evangeliar aus Schuttern die Nähe zur Weißenburger Handschrift mit seinem entwickelten Flechtband andeutet (vgl. die bei aufgeführten Motive Abb. 6,2 und 5,4). Die Handschrift ist für den Gebrauch in Weißenburg bestimmt gewesen und dort auch geblieben, wie es die Einträge Otfrid von Weißenburgs (s.o.) und Weißenburger Hände des 10. und 11. Jh. belegen.
, 48, Nr. 125. — , Nr. 4094 (Heinemann Nr.). — , A list of the oldest extant manuscripts of St. Augustinus, in: Miscellanea Augustiniana 2, Roma 1931, 236ff. — , 707. — , 104, 105. — , 102, 107, 113, 118, 123–130, 134, 146, 270 Anm. 380. — , 525. — , 87, 88 Anm. 30, 92, 144, 188, 216. — , 19. — , Bd. 1,1.2, 824. — , 56, 57. — , Bd. 1, 308. — , Nr. 7369. — , 83. — , 360, 363. — , Bd. 2, 115 (Hs. erwähnt).
Abgekürzt zitierte Literatur
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Liste der von H. J. Blum im Jahre 1673 der Wiener Hofbibliothek angebotenen Handschriften meist Weissenburger Herkunft, in: T. Gottlieb, Die Weissenburger Handschriften in Wolfenbüttel, Wien 1910 (Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse 163,6) | |
Die Handschriften der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel, Abt. 3: Die Weissenburger Handschriften, beschrieben von O. von Heinemann, in: Die Handschriften der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel, Abt. 2 Teil 5, Wolfenbüttel 1903, 268–443 |
Beschreibung erstellt im Rahmen des Projektes Katalogisierung der illuminierten Handschriften der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Teil I (6.–11. Jh.).