Epistulae cum glossis
Weißenburg, Benediktinerkloster — um 850
Provenienz: 1r Benediktinerkloster Weißenburg, Besitzeintrag: Unterer Blattrand Codex monasterii sanctorum Petri et Pauli in Wißenburg. Oberer Blattrand Weißenburger Signaturenbuchstabe: .D. (14. Jh.). Die Handschrift gelangte über Heinrich Julius von Blum 1690 in den Besitz des Herzogs Anton Ulrich von Braunschweig. 2° 35 ( , 3–18).
Pergament — 101 Bl. — 29 × 21 cm
Lagen: II (4). IV (12). III (18). 9 IV (92). IV+1 (101). Lagenbezeichnungen in römischen Ziffern am unteren Blattrand zum Ende jeder Lage (Lage VII zusätzlich auf dem ersten Blatt rubrizierte Zählung). Die Lagenbezeichnungen gelegentlich gelb/durchsichtig überstrichen (vgl. Textbestandteile in 17 Weiss., 19 Weiss. und 46 Weiss.) und in Rechtecke und Quadrate gefasst. Neuere Tintenfoliierung. Schriftraum: 22,5 × 15 cm(ohne Glossen), einspaltig, 28 Zeilen. Karolingische Minuskel von mehreren Händen (Händescheidung vgl. , 176–182.). Überschriften und Incipits sowie Explicits in schwarzer und roter Capitalis. Die Minuskeln der Textanfangszeilen durchsichtig gelb überstrichen (vgl. auch Lagenbezeichnungen; gleiches Vorgehen in den Weißenburger Handschriften 17 Weiss., 19 Weiss. und 59 Weiss.). 1–4zeilige Initial- und Textmajuskeln in roter oder schwarzer Capitalis, farbig gefüllt. Variationsreiche schwarze und überwiegend rote Verweiszeichen. Lateinische und althochdeutsche Interlinear- und Marginalglossen (vgl. , Nr. 936, 1777–1779; , Glossen I, in: Zeitschrift für deutsches Alterthum 15 [1872], 534–538; , 176–182.; , Weißenburger Glossenhandschriften, in: Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie. Ein Handbuch, hrsg. von , , Berlin/New York 2009, Bd. 2, 1306–1309; , 9, 21, 86f., 225, 230). Ähnliche Glossen liegen in 66 Weiss. und Wien, ÖNB, Cod. 1239 vor. Auf 57r in Spruchform die Datierung der Glosse auf das Jahr 860 ( , 9, 21, 86f., 225, 230).
Roter Ledereinband (Nigerziegenleder; Neubindung 1964).
INHALT
1r–101v Epistulae cum glossis. 1r-7r Prologe, Argumenta, Genealogia Karolorum. 7r–17v Epistula Pauli ad Rm. 17v–41r Epistula Pauli ad I-II Cor. 41r–46r Epistula Pauli ad Gal. 46r–51r Epistula Pauli ad Eph. 51r–54r Epistula Pauli ad Phil. 54r–59r Epistula Pauli ad I-II Th. 59r–62r Epistula Pauli ad Col. 62r–68r Epistula Pauli ad Tim. 68r–70r Epistula Pauli ad Tit. 68r–70r Epistula Pauli ad Phlm. 70v–72v Epistula Pauli ad Hbr. 72v–83v Scripsit apostolus sine dubio hanc epistulam in urbe Roma ad Ebreos missam ad suam gentem ( , 100, 1031 [Alcuinus]; 112, 711 C [Hrabanus nach Iohannes Chrysostomus]). 83v–101v Epistulae catholicae (zu den Briefen und ihren Glossen vgl. ausführlich , 176–182; , Nr. 970).
AUSSTATTUNG
1 Initiale. 2 Zeichnungen.Zeichnungen (Randzeichnungen, koloriert): 66v am linken unteren Blattrand ein Krebs (3,5 × 4 cm, seitlich beschnitten). Auf dem unteren Blattrand ein Skorpion (3,5 × 8 cm). Beide Tiere aus der Draufsicht, mit großen mandelförmigen Augen und Augenbrauen, krallenförmig endenden Beinen. Gliedmaßen mit starken Gelenkverdickungen. Beide Tiere sorgfältig koloriert. Rückgrat, Nacken, Scheren und Krallen mit roten Punkten markiert (Sterne, vgl. Vorlage Tierkreiszeichen, s. u.; bez. mit cancer und scorpio in karolingischer Minuskel von der Hand des Textschreibers). Text: 2 Tim 2,17 et sermo eorum ut cancer serpit (und ihr Wort frisst um sich wie der Krebs; Z. 5 v.u.). Abb. 339.
Initiale: 31v zum Textbeginn eine kolorierte Initiale 3,5 cm. als Füllmotiv das Zickzackband mit Knospenansätzen, im Bogen ein gliedernder Steg. Im Besatz die Profilpalmette mit rückgeschlagener Spitze und ein Knospenblatt.
Farben: Tiere: Grün, Gelb und Rot, in feinen Abstufungen. Die Initiale mit Orange und Grün. Schwarze Initial- und Satzmajuskeln hinterlegt mit Grün, Gelb und Orange/Rot, rote Buchstaben mit Blau.
STIL UND EINORDNUNG
Die vorliegenden paulinischen und katholischen Briefe geben ein eindrucksvolles Beispiel Weißenburger Glossenarbeit, das vermutlich im Jahr 860 abgeschlossen wurde (vgl. ausführlich , 86f.). In der auf 31v beschränkten Initialausstattung finden sich Füll- und Besatzmotive, die im Weißenburger Spektrum bereits in der 1. Hälfte des 9. Jhs. vorkommen (vgl. Zickzackband mit Knospeneinsätzen in 17 Weiss., 85v und 273v, Weißenburg, 2. Jahrzehnt 9. Jh.). Die beiden qualitätvoll ausgeführten Tiere auf 66v, Krebs und Skorpion, stellen eine Besonderheit dar, da sie, auf die Blattränder gezeichnet, vorerst in keinerlei Kontext zu stehen scheinen. Ein Textzusammenhang ist jedoch nachzuweisen. Das Bild des Krebses bezieht sich auf die direkt angrenzenden Verse 2 Tim 2,17 et sermo eorum ut cancer serpit (und ihr Wort frisst um sich wie der Krebs; Z. 5 v.u.). Der Skorpion wurde vermutlich als Vergleich hinzugegeben. Die auf den Tierkörpern befindlichen roten Punkte sind als Sterne zu deuten und verweisen auf die verwendete Bildvorlage, nämlich Krebs und Skorpion als Tierkreiszeichen, wie sie, ausgehend vom griechischen Dichter Aratos Solensis und dessen zwischen 276–274 v. Chr. entstandenen Phainomena, in den sogenannten Aratea (Himmelsbeschreibungen und Sternenkatalogen) vorliegen. In karolingischer Zeit wurden am Hof Karls des Großen nach antiken Textvorlagen die sogenannten Libri computi zusammengestellt (810–812), deren 5. Buch sich mit astronomischen Phänomenen auseinandersetzt. Zu diesen entstand in Aachen um 820 ein Sternbildzyklus (Madrid, BN, Ms. 3307; , Nr. 33), der wiederum den um 816 im Auftrag Ludwigs des Frommen konzipierten Leidener Sternbildatlas Leiden, UB, Cod. VLQ 79 voraussetzt (zur Handschrift vgl. , Nr. 23). Anders als in der Aachener, höfischen Prunkausgabe mit ihren ganzseitigen, in Deckfarbe ausgeführten Miniaturen, fügte man im Kloster Fulda, unter Abt Hrabanus Maurus, in eine Ausgabe des Germanicus Bilder in Federzeichnung in den Text ein (Basel, UB, AN IV 18, Fulda, 820–830; , Nr. 6), ein Vorgehen, das an die Bilder der Weißenburger Handschrift erinnert. Der Stil der Tiere, mit ihren betonten, mandelförmigen Augen weist in den südwestdeutschen Raum. Parallelen zeigen eine zeitgleiche Handschrift aus dem Bodenseegebiet (Sammelhandschrift, St. Gallen, StiB, Cod. Sang. 902; , Nr. 59) und eine St. Galler Sammelhandschrift aus dem ausgehenden 10. Jh. (St. Gallen, StiB, Cod. Sang. 250; , Nr. 58).13, 243 (Hs. A 1). — , Nr. 4131 (Heinemann Nr.). — , Bd. 4, 664, 665 Nr. 637. — , 707. — , 176–182. — , 19 Anm. 536, 120 u. Anm. 548, 134, 136, 142, 148, u. Anm. 678, 150. — , 87, 88 Anm. 28, 92 Anm. 44, 93, 94. — , Bd. 1,1.2, 824. — , Nr. 970. — , 227. — , Nr. 7396. — , 9 (Einleitung). — , 86f., Abb. 2, Farbabb. 1 und 6. — , 21, Abb. 1. — , 361.
Abgekürzt zitierte Literatur
Katalog der althochdeutschen und altsächsischen Glossenhandschriften, bearbeitet von R. Bergmann und S. Stricker, Bd. 4, Teil C. Katalog Nr. 780–1070, Berlin 2005 | |
B. Bischoff, Katalog der festländischen Handschriften des neunten Jahrhunderts (mit Ausnahme der wisigotischen), Teil 3: Padua–Zwickau, aus dem Nachlass hrsg. von B. Ebersperger, Wiesbaden 2014 | |
D. Blume, M. Haffner, W. Metzger, Sternbilder des Mittelalters. Der gemalte Himmel zwischen Wissenschaft und Phantasie, 2 Bde., Berlin 2012 | |
H. Butzmann, Die Weissenburger Handschriften, Frankfurt/M. 1964 (Kataloge der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel. Die Neue Reihe 10) | |
C. Grifoni, Auf Otfrids Spuren in der frühmittelalterlichen Bibliothek Weißenburg, in: | , 79-101|
E. Hellgardt, Die exegetischen Quellen von Otfrids Evangelienbuch. Beiträge zu ihrer Ermittlung, Tübingen 1981 (Hermaea; N.F. 41) | |
W. Kleiber, Otfrid von Weißenburg. Untersuchungen zur handschriftlichen Überlieferung und Studien zum Aufbau des Evangelienbuches, Bern/München 1971 (Bibliotheca Germanica 14) | |
R. Kottje, Verzeichnis der Handschriften mit den Werken des Hrabanus Maurus, bearbeitet von R. Kottje unter Mitarbeit von T. A. Ziegler, Hannover 2012 (MGH Hilfsmittel 27) | |
S. Krämer, Handschriftenerbe des deutschen Mittelalters, Bd. 1–3, München 1989–1990 (Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz. Ergänzungsband 1) | |
E. Lesne, Histoire de la proprieté ecclésiastique en France, Lille 1938 | |
Marginalien in Bild und Text. Essays zu mittelalterlichen Handschriften, hrsg. von P. Carmassi und C. Heitzmann, Wiesbaden 2019 (Wolfenbütteler Forschungen 156) | |
Monumenta Germaniae Historica. Scriptores (in Folio), Bd. 1–, Hannover 1826– | |
C. Moulin, Rand und Band. Über das Spurenlesen in Handschrift und Druck, in: | , 19-59|
Patrologiae cursus completus. Series Latina, Bd. 1–221, hrsg. von J. P. Migne, Paris 1844–1865 | |
E. Steinmeyer/E. Sievers, Die althochdeutschen Glossen, gesammelt und bearbeitet, 4 Bde., Berlin 1879–1922 | |
S. Westphal, Karolingische Buchmalerei aus dem elsässischen Kloster Weißenburg, in: Die Handschriften der Hofschule Karls des Großen. Individuelle Gestalt und Europäisches Kulturerbe, Tagung Trier 2018, Trier 2019, 357–391 | |
Liste der von H. J. Blum im Jahre 1673 der Wiener Hofbibliothek angebotenen Handschriften meist Weissenburger Herkunft, in: T. Gottlieb, Die Weissenburger Handschriften in Wolfenbüttel, Wien 1910 (Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse 163,6) | |
Die Handschriften der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel, Abt. 3: Die Weissenburger Handschriften, beschrieben von O. von Heinemann, in: Die Handschriften der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel, Abt. 2 Teil 5, Wolfenbüttel 1903, 268–443 |
Beschreibung erstellt im Rahmen des Projektes Katalogisierung der illuminierten Handschriften der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Teil I (6.–11. Jh.).