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Von der dramatischen Dichtkunst

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Von der dramatischen Dichtkunst.

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An meinen Freund Herrn Grimm.

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Von der dramatischen Dichtkunst An Herrn Grimm.

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Vice cotis, acutum Reddere quae ferrum valet, exsors ipsa secandi.

[] Wenn ein Volk nie eine andere, als muntere und lustige Art von Schauspielen gehabt hätte, und man schlüge ihm eine ernsthafte und rührende Gattung vor, wissen Sie wohl, mein Freund, was es davon denken würde? Ich irre mich sehr, oder selbst Leute von Verstande würden, wenn sie auch die Möglichkeit davon eingesehen hätten, dennoch sagen: Wozu diese Gattung? Hat das Leben nicht wirkliche Unlust genug, daß man uns
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noch mit erdichteten Uebeln täuschen muß? Warum sollten wir die Traurigkeit sogar bis in unsere Ergetzungen dringen lassen? — Kurz, sie würden als Leute reden, denen das Vergnügen gerührt zu werden, und Thränen zu vergiessen, völlig fremd ist. [] Gewohnheit fesselt. Stehet ein Mensch auf, der Funken vor Genie zeigt, und irgend ein Werk ans Licht bringt: so ist das die erste Wirkung, daß er die Gemüther in Erstaunen setzt und theilet. Nach und nach macht er sie wieder einig; nun folgen ihm eine Menge Nachahmer; der Muster werden mehr; man macht häuffige Anmerkungen; man setzt Re geln fest; die Kunst entstehet; man giebt ihr Grenzen und thut den Ausspruch, daß alles was nicht in dem engen Bezirke, den man gezeichnet hat, enthalten ist, widersinnig und schlecht sey: es sind die Säulen des Herkules, über die man sich nicht hinaus wagen kann, ohne sich zu verirren.
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[] Doch wider die Wahrheit ist kein Vorur theil stark genug. Das Schlecht fällt Trotz den Lobsprüchen, die es von der Einfalt erhalten hat; und das Gute begleibt Trotz der Unentschließigkeit der Unwissenden, Trotz dem Geschrey des Neides. Das verdrießlichste dabey ist dieses, daß den Menschen nicht eher Gerechtigkeit widerfährt, als bis sie nicht mehr sind. Erst muß man ihnen ihr Leben sauer gemacht haben, ehe man eine Handvoll geruchloser Blumen auf ihr Grab streuet. Was ist zu thun? Entweder die Hände in den Schooß zu legen, oder sich einem Gesetze zu unterwerffen, das sich bessere, als wir, haben müssen gefallen lassen. Wehe jedem, der sich beschäftiget, wenn seine Arbeit nicht die Quelle seiner süssesten Augenblicke ist; wenn er sich nicht mit dem Beyfalle weniger befriedigen kann! Die Anzahl guter Richter ist sehr klein. O Freund, lasse ich etwas ans Licht treten, es sey der Entwurf eines Schau-
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spiels, oder eine philosophische Idee, oder ein Stück aus der Moral oder Litteratur, denn mein Geist ruhet sich durch die Abwechslung aus: so komme ich zu Ihnen. Fällt Ihnen meine Gegenwart nicht zur Last; eilen Sie mir mit einer vergnügten Mine entgegen: so will ich geduldig warten, bis Zeit, bis Billigkeit, welche sich mit der Zeit beständig äussert, den Ausspruch über mein Werk thun. [] Ist Eine Gattung vorhanden: so ist es schwer eine neue einzuführen. Ist diese eingeführt: so hat man ein ander Vorurtheil zu bestreiten. Man bildet sich ein, daß die zwey angenommenen Gattungen mit einander grenzen. [] Zeno leugnete die Wirklichkeit der Bewegung. Statt aller Antwort, ging sein Gegner auf und nieder; und wenn er auch gehinkt hätte, er würde doch geantwortet haben.
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[] Mit meinem unehelichen Sohne habe ich den Versuch eines Schauspiels machen wollen, das zwischen der Komödie und der Tra gödie stehe. [] Der Hausvater, den ich damals versprach und den beständige Zerstreuungen zurückgehalten haben, stehet zwischen der ernsthaften Gattung des unehelichen Sohnes und der Komödie. [] Und wenn ich einmal Zeit und Muth bekomme, so hoffe ich ein drittes Schauspiel zu verfertigen, das zwischen der ernsthaften Gattung und der Tragödie zu stehen kommen soll. [] Nun mag man diesen Werken einiges Verdienst zugestehen, oder man mag ihnen keines zugestehen: so werden sie doch immer so viel beweisen, daß es mit dem Abstande, den ich zwischen den beiden angenommenen Gat tungen bemerkt habe, seine Richtigkeit hat.
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[] Das dramatische System, nach seinem ganzen Umfange wäre also dieses: Die lustige Komödie, welche das Laster und das Lächer liche zum Gegenstande hat; die ernsthafte Komödie, welche die Tugend und die Pflichten des Menschen zum Gegenstande hat; das Trauerspiel, das unser häußliches Unglück zum Gegenstande hätte; und die Tragödie, welche zu ihrem Gegenstande das Unglück der Großen und die Unfälle ganzer Staaten hat. [] Aber wo ist Er, der uns die Pflichten der Menschen mit Nachdruck mahle? Welches sind die Eigenschaften des Dichters, der sich dieses Werk vornehmen wollte? [] Er sey Philosoph; er sey in sich selbst herabgestiegen; er habe die menschliche Natur kennen lernen; er sey von den gesellschaftlichen Ständen auf das genaueste unterrichtet; er kenne ihre Beschäftigungen und ihre Wichtigkeit, ihre Vortheile und Unbequemlich keiten.
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[] Aber wie soll man alles, was zu dem Stande eines Menschen gehöret, in die engen Grenzen eines Schauspiels bringen? Wo ist die Verwicklung die diesen ganzen Gegenstand fassen könnte? Man wird in dieser Gattung Stücke machen müssen, die aus lauter episodischen Auftritten bestehen, die unter sich keine Verbindung haben, oder nur aufs höchste vermöge einer kleinen Intrigue, die sich durch sie schlinget, zusammenhangen *: aber da wird an keine Einheit, an keine Handlung, an kein Interesse zu denken seyn. Jede Scene für sich wird vielleicht die zwey Punkte, die Horaz so sehr empfiehlt, verbinden; aber etwas zusammen werden sie nicht ausmachen, und das Ganze wird ohne Festigkeit und Kraft seyn. [] Wenn uns die Stände der Menschen auch nur Stücke schaffen, so wie die Ueberlästi- 1
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gen des Moliere sind, so ist es doch schon etwas: ich glaube aber, daß man sie noch weit besser nutzen kann. Die Verbindlichkeiten und Ungemächlichkeiten eines Stanudes, sind nicht alle gleich wichtig. Mich dünkt also, man könne sich bloß an die vornehmsten halten, diese zu der Grundlage des Stückes machen, und die übrigen in die Ausführung versparen. Und so habe ich es in dem Hausvater gemacht, wo die Versorgung eines Sohnes und einer Tochter meine zwey Hauptstützen sind. Vermögen, Geburt, Erziehung, was Aeltern ihren Kindern, was Kinder ihren Aeltern schuldig sind, Heyrath, eheloses Leben, alles was mit dem Stande eines Hausvaters in Verbindung stehet, davon wird gelegentlich, so wie es der Faden des Gesprächs erlaubet, gehandelt. Es betrete nur ein anderer, der die mir fehlenden Talente besitzet, diesen Pfaad, und man wird bald sehen, was aus dieser Gattung von Schauspielen werden kann.
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[] Was man wider sie einwirft, beweiset nur so viel: daß sie sehr schwer zu bearbeiten ist, daß sie nicht das Werk eines Kindes seyn kann, und daß sie mehr Kunst, mehr Einsicht, mehr Ernst und Stärke des Geistes erfordert, als man in den Jahren gemeiniglich hat, in welchem man sich dem Theater widmet. [] Um von einer Geburt des Geistes richtig zu urtheilen, muß man sie nicht gegen eine andere halten. Das war der Fehltritt, den einer von unsern ersten Kunstrichtern that. Er sagte: die Alten haben keine Opern gehabt, folglich ist die Oper eine Gattung, die nichts taugt. Wäre er vorsichtiger, oder besser unterrichtet gewesen, so hätte er vielleicht gesagt: Die Alten hatten bloß eine Oper, und folglich kann unsere Tragödie nicht gut seyn. Hätte er hingegen eine richtigere Logik inne gehabt, so würde er weder so, noch so geschlossen haben. Es mögen Muster vorhanden seyn, oder nicht, daran ist nichts gele
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gen. Es giebt eine Regel, die älter als alles ist; und die poetischen Gründe waren, ehe noch Poeten waren: denn wie hätte man sonst von dem ersten Gedichte urtheilen können? War es gut, weil es gefiel? Oder gefiel es, weil es gut war? [] Die Pflichten des Menschen sind für den dramatischen Dichter eine eben so reiche Grube, als ihre Lächerlichkeiten und Laster; und die ehrbaren und ernsthaften Stücke werden überall Beyfall finden, unfehlbarer aber bey einem verderbten Volke, als sonst wo. Hier wird der rechtschaffne Mann in den Schauplatz gehen, um sich der Gesellschaft der Bösen, mit welchen er umgeben ist, zu entschlagen; um diejenigen zu finden, mit welchen er zu leben wünschte; um das menschliche Geschlecht zu sehen, wie es ist, und sich mit ihm wieder auszusöhnen. Die rechtschaffnen Leute sind selten; aber es giebt deren doch. Wer anders denkt, klaget sich selbst an, und
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verräth wie unglücklich er mit seiner Frau, mit seinen Anverwandten, mit seinen Freunden, mit seinen Bekannten ist. Es sagte einst jemand, nachdem er so ein ehrbares Werk gelesen und sich auf das süßeste damit unterhalten hatte: Mich dünkt, ich bin wieder allein. Das Werk verdiente diesen Lobspruch, aber seine Freunde verdienten diese Satyre nicht. [] Nur die Tugend und die Tugendhaften muß man zu seinem beständigen Augenmerke haben, wenn man schreibt. Sie, mein Freund, Sie ruffe ich mir zu Sinne, wenn ich die Feder ergreiffe; Sie stelle ich mir vor Augen, wenn ich handele. Sophien, Sophien will ich gefallen. Haben Sie mir zugelächelt, hat sie eine Thräne vergossen, lieben Sie mich beide darum so vielmehr: so bin ich belohnt genug. [] Als ich die Scenen des Bauers in dem Fälschlich Grosmüthigen hörte, sagte ich: Ganz gewiß, das muß in der ganzen Welt,
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daß muß zu allen Zeiten gefallen; dabey wird man in Thränen zerfließen. Die Wirkung hat mein Urtheil bestätiget. Diese Episode ist völlig aus der ehrbaren und ernsthaften Gattung. [] Das Beyspiel einer glücklichen Episode, wird man sagen, kann nichts beweisen. Und wenn Sie das einförmige Gespräch von Tu gend nicht durch einige lächerliche und wohl gar, wie es mehrere gethan haben, durch ein wenig übertriebene Charaktere unterbrechen: so fürchte ich sehr, ihre ehrbare und ernsthafte Gattung, Sie mögen davon sagen was Sie wollen, wird zu nichts als frostigen und unscheinbaren Scenen, zu einer langweiligen und traurigen Moral, zu einer Art von dialogischen Predigten verhelffen. [] Lassen Sie uns die verschiednen Stücke eines Drama durchgehen, und zusehen. Ist es der Inhalt, nach welchem man es beurtheilen muß? In der ehrbaren und ernsthaften
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Gattung ist der Inhalt nicht weniger wichtig, als in der lustigen Komödie, und ist dabey mit mehr Wahrheit behandelt. Oder muß man es nach den Charakteren beurtheilen? Sie können hier eben so verschieden, eben so original seyn, und der Dichter ist noch dazu gezwungen, sie mit mehrerer Stärke zu zeichnen. Oder nach den Leidenschaften? Diese werden sich um so viel wirksamer zeigen, je größer das Interesse seyn wird. Oder nach dem Style? Dieser wird hier weit nachdrücklicher, weit ernsthafter, weit erhabener, weit gewaltiger, und dessen was man Em pfindung nennet, (eine Eigenschaft, ohne welche kein Styl ans Herz redet,) weit fähiger seyn. Oder nach dem Mangel des Lächer lichen? Als ob thörichte Handlunngen und Reden, die durch ein übelverstandenes Interesse, oder durch heftige Leidenschaften veranlaßt werden, nicht das wahre Lächerliche der Menschen und des Lebens wären.
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[] Ich beruffe mich auf die schönen Stellen im Terenz; und frage, nach welcher Gattung die Auftritte der Väter und Liebhaber abgefaßt sind? [] Habe ich, in dem Hausvater, der Wichtigkeit meines Inhalts nicht gleich kommen können; ist der Verlauf frostig; sind die Leiden schaften geschwätzig und moralisirend; fehlet den Charakteren des Vaters, des Sohnes, des Commthurs, Cäciliens, Sophiens, Germeuils, das komische Leben: so ist es ganz sicher meine Schuld und nicht die Schuld der Gattung. [] Es nehme sich nur ein guter Kopf vor, den Stand des Richters auf die Bühne zu bringen; er verwickele seinen Inhalt auf eine so interessante Weise, als er es nur immer leiden will, und ich mir es ohngefehr vorstelle; die Person werde durch die Pflichten ihres Standes gezwungen, entweder der Würde und Heiligkeit ihres Amtes zu ent
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stehen, und sich in ihren und anderer Augen zu entehren, oder ihre Leidenschaften, alles was ihr am liebsten ist, Vermögen, Geburt, Weib und Kinder, dem Amte aufzuopfern: und dann thue man, wenn man will, den Ausspruch, ob die ernsthafte und ehrbare Gat tung ohne Feuer, ohne Glanz, ohne Nachdruck ist. [] So oft Gewohnheit oder Neuheit mich in meinem Urtheile ungewiß machen, (denn beide haben diese Wirkung:) suche ich mich vermittelst folgender Art zu entschliessen, mit der es mir meistentheils sehr wohl gelungen ist. Ich präge mir den Gegenstand wohl ein, und bringe ihn in Gedanken von der Natur auf die Leinewand, und untersuche ihn in dieser Entfernung, in welcher er mir weder zu nahe noch zu weit ist. [] Lassen Sie uns dieses Hülfsmittel hier brauchen. Lassen Sie uns zwey Komödien nehmen, eine von der ernsthaften, und eine
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von der lustigen Gattung; lassen Sie uns von beiden, Scene vor Scene, zwey Gallerieen von Gemählden aufstellen; und lassen Sie sehen, in welcher von beiden wir uns am längsten, am willigsten verweilen werden, wo wir die stärksten und angenehmsten Empfin dungen haben werden, wo wir am liebsten wieder hingehen werden. [] Ich wiederhohle es also: zu der ehrbaren, zu der ehrbaren. Dieses rühret uns auf eine weit innigere, auf eine weit süssere Art, als dasjenige, was unsere Verachtung und unser Lachen erweckt. Ihr Dichter, die ihr Gefühl und Zärtlichkeit habet, diese Saite berühret, und ihr werdet sie in aller Herzen wiedertönen hören. [] Die menschliche Natur ist also gut? [] Ja, mein Freund, und sehr gut. Wasser, Luft, Erde, Feuer, alles ist in der Natur gut; der Orkan, der sich zu Ende des Herbstes erhebt, die Wälder erschüttert, Bäume gegen
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Bäume schlägt, und so die todten Aeste bricht und absondert; der Sturm, der die Wasser des Meeres durchwühlet, und sie säubert; der Aetna, der aus seiner offnen Seite brennende Ströme gießt, und einen Dampf in die Luft sendet, durch den sie gereiniget wird: alles ist gut. [] Die elenden willkührlichen Satzungen sind es, die den Menschen verderben; diese muß man anklagen und nicht die menschliche Na tur. Und in der That, was rührt uns stärker, als die Erzehlung einer großmüthigen Handlung? Wo ist der Unseelige, der die Klagen eines rechtschaffnen Mannes mit Gleichgültigkeit anhören könnte? [] Der Schauplatz ist der einzige Ort, wo sich die Thränen des Tugendhaften und des Bö sen vermischen. Hier läßt sich der Böse wider Ungerechtigkeiten aufbringen, die er selbst begangen hätte; hier hat er bey Unglücks fällen Mitleiden, die er selbst veranlaßt hätte;
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hier ergrimmt er gegen Personen von seinem eigenen Charakter. Aber der Eindruck ist geschehen, und er bleibt, auch wider unsern Willen; der Böse gehet also aus dem Schauplatze weit weniger geneigt, übels zu thun, als wenn ihm ein ernster und strenger Redner eine Strafpredigt gehalten hätte. [] Der Dichter, der Romanenschreiber, der Schauspieler dringen verstohlner Weise ans Herz, und treffen es um so viel gewisser und stärker, je weniger es den Streich vermuthet, je mehr Blösse es folglich giebt. Die Unglücksfälle, durch die man mich rühret, sind erdichtet: was thut das? Sie rühren mich doch. Jede Zeile in dem Ehrlichen Manne, der sich der Welt entzogen, im Dechant von Killerine, im Cleveland, erregt in mir ein zärtliches Theilnehmen an den Unglücksfällen der Tugend, und kostet mich Thränen. Könnte es eine unseeligere Kunst geben, als die, die mich zum Mitschuldigen des Laster
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haften machte? Aber wo ist auch eine schätzbarere Kunst als die, die mich unvermerkt für das Schicksal des rechtschaffnen Mannes einnimmt, die mich aus der ruhigen und süssen Fassung, in der ich mich befand, reisset, um mich mit ihm umher zu treiben, mich in die Höhlen zu versetzen, in die er flüchten muß, mich zum Mitgenossen der Unfälle zu machen, durch die es dem Poeten beliebt, seine Beständigkeit auf die Probe zu stellen. [] O wie sehr ersprießlich würde es für die Menschen seyn, wenn sich alle Künste der Nachahmung einen gemeinschaftlichen Gegenstand wählten, und sich einmal mit den Gesetzen dahin verbänden, uns die Tugend liebenswürdig und das Laster verhaßt zu machen! Des Philosophen Pflicht ist es, sie dazu einzuladen; er muß sich an den Dich ter, an den Mahler, an den Tonkünstler wenden, und ihnen auf das nachdrücklichste
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zuruffen: O ihr von höhern Fähigkeiten, warum hat euch der Himmel begabt? Wird er gehört, so werden gar bald die Mauern unsrer Palläste nicht mehr von Gemählden der schändlichsten Wollust bedeckt seyn; unsere Stimmen werden nicht länger die Verkündigerinnen des Lasters seyn, und Geschmack und Tugend werden dabey gewinnen. Glaubt man denn wirklich, daß die Aetion zweyer blinden Eheleute, die einander noch im hohen Alter suchten, die sich mit thränenden Augen zärtlich die Hände drückten, die sich, so zu reden, an dem Rande des Grabes noch liebkosten, nicht eben so viel Geschicklichkeit erfordere, mich nicht weit mehr rühren würde, als der Anblick der heftigen Wollust, in der sich ihre noch ganz neuen Sinne in der Jugend betaumelten. [] Ich habe manchmal gedacht, daß man gar wohl die wichtigsten Stücke der Moral auf dem Theater abhandeln könnte, ohne dadurch
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dem feurigen und reissenden Fortgange der dramatischen Handlung zu schaden. [] Und worauf würde es ankommen? Das Gedicht so einzurichten, daß die Sachen, nach Art der Niederlegung des Regiments im Cinna, eingeflochten würden. Auf diese Weise könnte der Dichter die Frage von dem Selbstmorde, von der Ehre, vom Duell, vom Reichthume, und hundert andere abhandeln. Unsere Gedichte würden dadurch eine Würde bekommen, die ihnen fehlt. Wenn eine solche Scene nothwendig ist, wenn sie mit dem Stoffe zusammenhengt, wenn sie vorbereitet ist, wenn sie der Zuschauer erwartet: so wird er ihr seine ganze Aufmerksamkeit schenken, und wird ganz anders davon gerührt werden, als von den kleinen niedlichen Sentenzen, aus welchen unsere neuere Werke zusammengestoppelt sind. [] Nicht Worte, sondern Eindrücke will ich aus dem Schauplatze mitnehmen. Wer von
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einem dramatischen Stücke, aus welchem man viele abgesonderte Gedanken anzuführen weis, das Urtheil fällt, es müsse ein mittelmäßiges Werk seyn, der wird sich selten betriegen. Das vortrefflichste Gedicht ist dasjenige, dessen Wirkung am längsten in mir dauert. [] O dramatische Dichter, der wahre Beyfall, nach dem ihr streben müßt, ist nicht das Klatschen der Hände, das sich plötzlich nach einer schimmernden Zeile hören läßt, sondern der tiefe Seufzer, der nach dem Zwange eines langen Stillschweigens aus der Seele dringt, und sie erleichtert. Ja es giebt einen noch heftigern Eindruck, den sich aber nur die vorstellen können, die für ihre Kunst gebohren sind, und es voraus wissen, wie weit ihrer Zauberey gehen kann: diesen nehmlich, das Volk in einen Stand der Unbehäglichkeit zu setzen; so daß Ungewißheit, Bekümmerniß, Verwirrung in aller Gemü
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thern herrschen, und euere Zuschauer den Unglücklichen gleichen, die in einem Erdbeben die Mauern ihrer Häuser wanken sehen, und die Erde ihnen einen festen Tritt verweigern fühlen. [] Es giebt eine Art von Schauspielen, wo man die Moral gerade zu, und doch glücklich vortragen könnte. Hier ist ein Beyspiel. Man gebe wohl darauf Achtung, was unsere Richter davon sagen werden, und wenn es ihnen frostig vorkömmt, so glaube man nur gewiß, daß es ihnen an Energie der Seele, an der Idee der wahren Beredtsamkeit, an Gefühl und Empfindlichkeit fehlet. Ich wenigstens halte dafür, wenn sich ein Genie dieses Stoffes bemächtigte, es würde unsern Augen nicht Zeit lassen, trocken zu werden, und wir würden ihm das allerrührendste Schauspiel, die allerlehrreichste und angenehmste Schrift, die man nur lesen kann, zu danken haben. Ich meyne den Tod des So krates.
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[] Die Scene ist im Gefängnisse. Man erblickt den Philosophen in Ketten und auf Stroh liegend. Er schläft. Seine Freunde haben die Wache bestochen, und kommen mit anbrechendem Tage, ihm seine Befreyung anzukündigen. [] Ganz Athen ist in Aufruhr, aber der Gerechte schläft. [] Von einem unschuldigen Leben. Wie süß es ist, wohl gelebt zu haben, wenn man nun sterben soll! Erster Auftritt. [] Sokrates erwacht; er erblickt seine Freunde, und wundert sich, sie so früh zu sehen. [] Der Traum des Sokrates. [] Sie hinterbringen ihm, was sie ausgerichtet haben. Er untersucht mit ihnen, was sich für ihn zu thun schicke. [] Von der Achtung, die man sich selber schuldig ist, und von der Heiligkeit der Gesetze. Zweyter Auftritt.
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[] Die Wache kömmt; man nimmt ihm seine Ketten ab. [] Die Fabel von Schmerz und Lust. [] Die Richter treten herein; mit ihnen zugleich die Ankläger des Sokrates und eine Menge Volks. Er wird angeklagt, und vertheidiget sich. [] Die Schutzrede. Dritter Auftritt. [] Man muß sich hier nach den griechischen Sitten richten; die Klagen müssen gelesen werden; Sokrates muß sich bald an seine Richter, bald an seine Ankläger, bald an das Volk wenden; er muß in sie dringen; er muß sie fragen; er muß ihnen antworten. Man muß die Sache zeigen, wie sie wirklich vorgefallen ist; und das Schauspiel wird um so viel wahrer, um so viel in die Augen fallender, um so viel schöner werden. [] Die Richter treten ab; die Freunde des Sokrates bleiben; die Verdammung hat ihnen geahnet. Sokrates unterhält sie, und tröstet sie.
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[] Von der Unsterblichkeit der Seele. Vier ter Auftritt. [] Er ist verurtheilt. Man kündiget ihm den Tod an. Er spricht seine Frau und seine Kinder. Man bringt den Giftbecher. Er stirbt. Fünfter Auftritt. [] Es ist ein einziger Aufzug, der aber, wenn er wohl ausgearbeitet würde, die Länge eines gewöhnlichen Stückes haben dürfte. Welche Beredsamkeit wird dazu erfordert! Welche tiefe Einsicht in die Weltweisheit! Welch Naturell! Welche Wahrheit! Man fasse den festen, einfältigen, ruhigen, heitern und erhabnen Charakter des Philosophen nur recht, und man wird bald merken, wie schwer er zu schildern ist. Alle Augenblicke werden sich die Lippen lächelnd verziehen, und die Augen voll Thränen stehen! Ich würde vergnügt sterben, wenn ich dieses Werk so ausgeführet hätte, als ich mir es vorstelle. Und ich wiederhohle es; wenn die Kunstrichter hier wei
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ter nichts als eine Folge von philosophischen und frostigen Unterredungen erblicken: die armen Leute! Wie sehr betauere ich sie! [] Ich meines Theils mache weit mehr aus einem Affecte, aus einem Charakter, der sich nach und nach entwickelt und sich endlich in aller seiner Stärke zeiget, als aus allen den künstlichen Verwickelungen, aus denen man Stücke zusammensetzt, in welchen die Zuschauer eben so sehr hin und her geworffen werden, als die Personen. Mich dünkt, der gute Geschmack kann dergleichen Stücke nicht vertragen, und grosse Wirkungen können sie unmöglich haben. Und das ist es gleichwohl, was wir Leben und Bewegung nennen. Die Alten hatten einen ganz andern Begriff davon. Der einfältigste Verlauf; eine Handlung, mit der man kurz vor ihrem Ende anfängt, damit alles bereits aufs äusserste gebracht sey; eine Entwickelung, die alle Augenblicke ausbrechen will und doch immer durch einen
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ganz schlechten aber wahren Umstand verschoben wird; nachdrückliche Reden; heftige Lei denschaften; Gemählde; ein oder zwey meisterhaft gezeichnete Charaktere: das war ihre ganze Kunst. Mehr brauchte Sophokles nicht, aller Gemüther unter sich zu bringen. Wer keinen Gefallen an den Alten gefunden hat, der wird nie erfahren, wie viel unser Racine dem alten Homer zu danken hat. [] Sie werden es eben sowohl als ich angemerkt haben, daß fast kein Zuschauer ist, der nicht von dem allerverwickeltsten Stücke, wenn er es schon nur zum erstenmale aufführen gesehen, Bescheid zu geben wüßte. Man kann sich weit leichter der Begebenheiten, als der Reden erinnern; und wenn die Begebenheiten einmal bekannt sind, so hat das verwickelte Stück alle seine Wirkung verloren. [] Wenn ein dramatisches Werk nur einmal aufgeführt, und niemals gedruckt werden
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sollte, so wollte ich zu dem Dichter sagen: Verwickele, so sehr als du willst; du wirst unfehlbar erregen und beschäftigen; aber sey einfach, wenn du gelesen zu werden, wenn du auf der Bühne zu bleiben wünschest. [] Eine schöne Scene enthält mehr Gedanken, als ein ganzes Drama Begebenheiten enthalten kann; und nur auf Gedanken kömmt man gern wieder zurück. Die wird man nie zu hören müde; die hören nie auf zu rühren. Die Scene des Rolands in der Höhle, wo er der treulosen Angelica vergebens wartet; Lusignaus Rede mit seiner Tochter; die Rede der Klytemnestra an dem Agamemnon, sind mir beständig neu. [] Wenn ich erlaube, so sehr zu verwickeln, als man nur immer will, so verstehe ich es von einer und eben derselben Handlung. Es ist fast unmöglich zwey Intriguen so fortzuführen, daß nicht die eine zum Nachtheil der andern interessiren sollte. Wie viel neuere
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Beyspiele könnte ich hiervon anführen! Aber ich will niemanden beleidigen. [] Was kann feiner seyn, als die Art, mit welcher Terenz die Liebshändel des Pamphilus und des Charinus in seiner Andria durch einander geschlungen hat? Hat er es dem ohngeachtet ohne Nachtheil gethan? Glaubt man nicht zu Anfange des zweyten Aufzuges ein neues Stück anzufangen? Und schließt sich der fünfte interessant genug? [] Wer zwey Intriguen zugleich fortzuführen unternimmt, legt sich die Nothwendigkeit auf, beide in einem Augenblick zu entwickeln. Wenn die Hauptintrigue zuerst zu Ende kömmt, so wird die andere unerträglich. Wird hingegen die episodische Intrigue eher aus, so äussert sich eine andere Unbequemlichkeit: diese und jene Personen verschwinden entweder auf einmal, oder treten ohne Ursache auf; das ganze Werk wird entweder verstümmelt, oder wird frostig.
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[] Was würde aus dem Stücke werden, das Terenz Heavtontimorumenos, oder den Selbstpeiniger betitelt hat, wenn der Dichter nicht, durch einen glücklichen Fund seines Genies, die Intrigue des Klinia, die sich im dritten Aufzuge schließt, wieder vorzunehmen und sie mit der Intrigue des Klitophon aufs neue zu verbinden gewußt hätte? [] Terenz verlegte die Intrigue der Perin thia des Menanders in die Andria des nehmlichen griechischen Dichters, und machte aus zwey einfachen Stücken ein zusammengesetztes. Ich that in dem unehelichen Sohne das Gegentheil. Goldoni hatte den Geitzi gen des Moliere, und die Charaktere des wahren Freundes in ein Lustspiel von drey Aufzügen zusammengeschmolzen. Ich trennte diesen doppelten Stoff und machte ein Stück von fünf Aufzügen daraus. Dieses Stück mag nun gut oder schlecht geworden seyn; genug, in diesem Punkte hatte ich Recht.
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[] Terenz behauptet, weil er den Inhalt des Heavtontimorumenos verdoppelt habe, so sey sein Stück neu. Es mag seyn; ob es darum aber auch besser ist, das wäre eine andere Frage. [] Wenn ich mich in dem Hausvater einiger Geschicklichkeit schmeicheln dürfte, so würde ich sie darinn setzen, daß ich Germeuilen und Cäcilien eine Leidenschaft gegeben habe, die sie einander in den ersten Aufzügen nicht entdecken können, und daß ich diese Leidenschaft der Liebe des Saint Albin gegen Sophien, durchs ganze Stück, so untergeordnet habe, daß sich Germeuil und Cäcilia, auch nach geschehener Erklärung, von ihrer Neigung nicht unterhalten können, ob sie gleich alle Augenblicke bey einander sind. [] Hier giebt es keine Mittelstrasse: so viel man auf der einen Seite gewinnt, so viel verlieret man auf der andern. Soll das Stück durch vielfältige Zwischenfälle inter
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essant und feurig werden: so können keine Reden Statt finden; kaum das die Personen Zeit haben, einander zu sprechen; sie handeln, anstatt sich zu entwickeln. Ich rede aus der Erfahrung. [] Einem Possenspiele kann man nicht Hand- lung und Bewegung genug geben: denn was könnte man ertägliches darinn sagen? Weit weniger braucht man in der lustigen Komö die; noch weniger in der ernsthaften Komödie; und am allerwenigsten in dem Trauer spiele. [] Je unwahrscheinlicher eine Gattung ist, desto leichter kann man gedrungen und feurig darinn seyn. Man schaft sich Feuer auf Unkosten der Wahrheit und des Wohlstandes. Das allerabgeschmackteste Ding ist eine frostige Burleske. In den ernsthaften Gattun gen macht es die Wahl der Zwischenfälle schwer, beständig feurig zu bleiben.
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[] Deswegen aber ist ein vortreffliches Possenspiel kein Wort eines gemeinen Kopfs. Es erfordert eine eigene Lustigkeit; seine Charak tere sind wie die Grotesken des Calot, in welchen noch immer die vornehmsten Züge der menschlichen Figur zu erkennen sind. Es ist nicht allen Leuten gegeben, so zu verstümmeln. Wenn man glaubt, daß es mehr Köpfe gebe, die einen Paurceaugnac, als die einen Menschenfeind machen könnten, so betriegt man sich. [] Was ist Aristophanes? Ein originaler Possenreisser. Ein Schriftsteller von dieser Gattung muß der Regierung sehr schätzbar seyn, wenn sie ihn zu brauchen weis. Denn ihm darf man nur alle Enthusiasten übergeben, die von Zeit zu Zeit das gemeine Wesen stören. Wenn man sie in den Buden lächerlich macht, so braucht man die Gefängnisse nicht mit ihnen anzufüllen.
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[] Ob nun gleich Bewegung und Leben nach den verschiedenen Gattungen, in welchen man arbeitet, verschieden ist, so gehet die Hand lung doch darum immer fort. Sie muß nicht einmal in den Zwischenaufzügen stehen bleiben. Sie ist ein Bruchstück, das sich von dem Gipfel eines Felsen losreisset: je weiter es fällt, desto geschwinder fällt es, und die Hindernisse, auf die es von Zeit zu Zeit aufschlägt, vermehren seine Gewalt. [] Wenn diese Vergleichung richtig ist; wenn es wahr ist, daß des Redens um so viel weniger werden muß, je mehr der Handlung wird: so muß man in den ersten Aufzügen mehr reden als handeln, und in den letzten mehr handeln, als reden lassen. [] Ist es schwer er den Plan zu entwerfen, als das Gespräch auszuführen? Ich habe sehr oft über diese Frage streiten hören, und es ist mir immer vorgekommm̅en, als ob jeder mehr seiner Fähigkeit, als der Wahrheit der Sache gemäß antworte.
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[] Ein Mann, der viel Umgang hat, der sich leicht ausdrückt, der die Menschen kennet, der sie gehöret und studieret hat, und der zu schreiben weis, findet den Plan schwer. [] Ein andrer, dessen Verstand ausgebreiteter ist, der über die Dichtkunst nachgedacht hat, der das Theater kennt, den Erfahrung und Geschmack die interessanten Stellungen kennen gelehrt, der Begebenheiten zu verbinden weis, wird seinen Plan ohne viel Mühe machen. Dieser aber wird mit seiner Arbeit um so viel weniger zufrieden seyn, je genauer er mit den besten Schriftstellern in seiner und den todten Sprachen bekannt ist; er wird sie ohne Unterlaß mit den Meisterstücken vergleichen, die er beständig vor Augen hat. Kömmt es auf eine Erzehlung an: so wird ihm die Erzehlung in der Andria beyfallen. Kömmt es auf eine affectvolle Scene an: so wird ihm der Evnuchus statt einer zehne darbieten, die ihn zur Verzweiflung bringen werden.
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[] Uebrigens ist sowohl das eine als das andere ein Werk des Genies; aber das Genie ist nicht eben dasselbe. Durch den Plan muß sich ein verwickeltes Stück erhalten; bey einem einfachen Stücke kömmt es auf die Reden und das Gespräch an, wenn man es mit Vergnügen lesen soll. [] Doch ist dabey anzumerken, daß es überhaupt mehr Stücke giebt, in welchen das Gespräch, als in welchen der Plan gut ist. Das Genie, welches die Zufälle zu ordnen vermag, scheinet weit rarer, als das Genie, welches die gehörigen Reden zu finden weis. Wie viel schöne Scenen hat Moliere! Aber seine glücklichen Entwickelungen sind zu zählen. [] Der Plan ist das Werk der Einbildungs kraft; das Gespräch beruhet auf der Nach ahmung der Natur. [] Man kann von einerley Stoffe, nach einerley Charakteren, verschiedene Plane machen. Wenn aber die Charaktere einmal gegeben sind,
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so giebt es nur eine Art, sie reden zu lassen. Die Personen haben das oder das zu sagen, nachdem die Situationen sind, in welche man sie gesetzt hat: da es aber in allen diesen Situationen immer eben dieselben Menschen sind, so können sie sich niemals widersprechen. [] Man sollte fast glauben, daß ein Drama das Werk zweyer Menschen von Genie seyn müßte, deren einer den Plan ordene, und der andere die Personen reden lasse. Aber wer wird sie, nach dem Plane eines andern, können reden lassen? Das Genie, welches zum Gespräche erfordert wird, ist nicht allgemein; jeder greift in seinen Busen, und fühlt, wozu er aufgelegt ist; und, ohne es selbst zu merken, sucht er, bey Verfertigung des Planes, nur immer solche Situationen, mit welchen er fertig zu werden denket. Man ändere diese Situationen, und sein Genie wird ihn verlassen zu haben scheinen. Der eine braucht muntere Situationen; der andere moralische
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und ernsthafte; ein dritter rednerische und pathetische. Man gebe Corneillen einen Plan vom Racine, und dem Racine einen Plan vom Corneille, und sehe, was sie machen werden. [] Bey dem empfindlichen und aufrichtigen Charakter, mit welchem ich gebohren bin, habe ich mich nie, ich gestehe es Ihnen, mein Freund, vor einer Stelle gefürchtet, mit der ich durch Hülfe der Vernunft und Rechtschaffenheit zu Stande zu kommen hofte. Das sind die Waffen, die mich meine Aeltern bey guter Zeit zu führen gelehrt haben; und ich habe sie so oft gegen andere, und gegen mich selbst gebraucht! [] Sie wissen, daß ich mich, von langer Zeit her, an die Kunst des Selbstgesprächs gewöhnt habe. Wenn ich die Gesellschaft verlasse und traurig und verdrießlich nach Hause komme, so schliesse ich mich in mein Cabinet ein, und da frage und verhöre ich mich: Was fehlt dir? Bist du launisch? — Ja. — Bist du
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etwa krank? — Nein. — So gehe ich weiter, bis ich mir selbst die Wahrheit auspresse. Und da dünke ich mich eine muntere, ruhige, rechtschaffene und heitere Seele zu haben, welche eine andere befragt, die sich einer begangenen Thorheit schämt, und sie nicht gern gestehen will. Das Geständniß kömmt aber doch. Ist es eine Thorheit, die ich begangen habe, wie ich deren denn oft begehe, so schenke ich mir sie. Ist es eine, die man mir erwiesen hat, wie sich denn das gar leicht zuträgt, so oft ich unter Leute gerathe, die meinen gutwilligen Charakter mißbrauchen, so verzeihe ich. Die Traurigkeit verfliegt; ich komme wieder zu meiner Familie als ein guter Ehemann, als ein guter Vater, als ein guter Herr; wenigstens bilde ich mir es ein, und niemand merkt den Verdruß, der sich vor einem Augenblicke über alles um mich herum zu verbreiten drohte.
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[] Ich rathe diese geheime Prüfung allen, welche schreiben wollen; sie werden unfehlbar rechtschaffnere Leute, und bessere Schriftsteller dadurch werden. [] Habe ich einen Plan zu machen, so werde ich, ohne es zu merken, Situationen suchen, die zu meinem Talente und zu meinem Cha rakter passen. [] Wird aber dieser Plan der beste seyn? [] Ohne Zweifel wird er mir es scheinen. [] Und auch andern? [] Das ist eine andere Frage. [] Die Menschen hören, und sich oft mit sich selbst unterhalten, das sind die Mittel, sich zum Gespräche geschickt zu machen. [] Eine schöne Einbildungskraft haben; die Ordnung und Verbindung der Dinge zu Rathe ziehen; weder die schweren Scenen, noch die lange Arbeit scheuen; sich sogleich in den Mittelpunkt seines Stoffs versetzen; den Augenblick wohl zu treffen wissen, da die
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Handlung angehen muß; sich darauf verstehen, was am besten wegbleiben kann; die rührenden Situationen kennen: darinn bestehet das Talent, das zu Anlegung eines guten Planes erfordert wird. [] Vor allen Dingen muß man sich das Gesetz machen, nicht das geringste von der Ausführung eher nieder zu schreiben, als bis man mit dem Plane völlig zu Stande ist. [] Da der Plan viel Mühe kostet, und er lange und wohl überlegt seyn will, wie geht es denen, die sich der dramatischen Dichtkunst widmen, bloß weil sie viel Leichtigkeit Cha raktere zu schildern, bey sich verspüren? Sie übersehen ihren Stof ungefehr im Ganzen, sie wissen ungefehr die Situationen, und haben die Charaktere fest gesetzt; und wenn sie einmal bey sich ausgemacht haben, daß diese Mutter verbuhlt, dieser Vater hart, dieser Liebhaber freygebig, dieses junge Mädchen empfindlich und zärtlich seyn soll: so überfällt
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sie die Wuth, Scenen zu machen. Sie schreiben und schreiben; sie finden feine, artige, auch wohl starke Gedanken; sie haben vortreffliche Stellen schon ganz fertig. Wenn sie nun aber lange gearbeitet haben, und endlich auf den Plan kommen, denn auf diesen muß man doch endlich kommen: so suchen sie die vortrefflichen Stellen anzubringen; sie können sich nicht entschliessen, diesen und jenen feinen oder starken Gedanken zu verlieren; sie thun also von dem, was sie thun sollten, gerade das Gegentheil und machen den Plan nach den Scenen, anstatt daß sie die Scenen nach dem Plane machen sollten. Dadurch wird denn nicht allein der Verfolg, sondern auch das Gespräch gezwungen, viel Zeit und Mühe gehet verloren, und eine Menge Späne bleiben auf dem Holzhofe liegen. Wie verdrießlich ist das, besonders wenn das Stück in Versen ist!
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[] Ich habe einen jungen Dichter gekannt, dem es nicht an Genie fehlte, und der mehr als drey bis vier tausend Verse zu einer Tragödie gemacht hatte, die er nicht zu Stande bringen konnte, auch niemals zu Stande bringen wird. [] Man schreibe also in Versen, oder man schreibe in Prosa: vor allen Dingen mache man den Plan, und denke alsdenn auf die Scenen. [] Allein wie soll man den Plan machen? Es findet sich in der Dichtkunst des Aristoteles hierüber eine sehr schöne Idee. Sie ist mir nützlich gewesen; sie kann auch andern nützlich seyn, und sie ist folgende. [] Unter den unzehlichen Schriftstellern von der Dichtkunst, sind vornehmlich dreye berühmt: Aristoteles, Horaz und Boileau. Aristoteles ist ein Philosoph, der methodisch verfährt, allgemeine Regeln festsetzt, und Folgerungen daraus ziehen und Anwendungen
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davon machen läßt. Horaz ist ein Mann von Genie, der sich der Unordnung recht zu befleißigen scheinet, und mit den Dichtern als Dichter spricht. Boileau ist ein Meister der seinen Schülern, zugleich mit der Vorschrift, das Exempel zu geben sucht. [] Aristoteles sagt irgendwo in seiner Dicht kunst: Man mag einen bekannten Stoff bearbeiten, oder man mag einen ganz neuen erfinden, so muß man in beiden Fällen vor allen Dingen die Fabel entwerffen, und alsdenn erst auf die Episoden oder Umstände, die sie erweitern können, denken. Ist es eine Tragödie, so sage man: Eine junge Prinzeßin wird zu dem Altare geführet, um geopfert zu werden; plötzlich aber verschwindet sie vor den Augen der Zuschauer, und wird in ein Land versetzt, wo man die Gewohnheit hat, alle Fremde einer daselbst verehrten Göttin zu opfern. Hier wird sie Priesterinn. Einige Jahre nachher kömmt der Bruder der
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Prinzeßin in dieses Land; er wird von den Einwohnern ergriffen, und soll eben jetzt von den Händen seiner Schwester geopfert werden. Indem ruft er aus: So war es nicht genug, daß meine Schwester geopfert wurde; ich muß es auch werden? Durch diese Worte wird er erkannt und gerettet. [] Aber warum war die Prinzeßin verurtheilet worden, auf dem Altare zu sterben? [] Warum opfert man die Fremden in dem barbarischen Lande, wo ihr Bruder sie antrift? [] Wie ist er ergriffen worden? [] Er kömmt, einem Orakel zu gehorsamen. Und wozu dieses Orakel? [] Er wird von seiner Schwester erkannt. Aber warum konnte diese Erkennung nicht auf eine andere Weise geschehen? [] Alle diese Dinge sind ausser dem Inhalte. In der Fabel muß man sie ergänzen. [] Der Inhalt gehöret jedem. Mit dem übrigen aber verfähret der Dichter nach seinem
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Gütdünken; und derjenige, der sein Werk auf die einfachste und nothwendigste Art zu Stande bringt, kann sagen, daß es ihm am besten gelungen ist. [] Die Idee des Aristoteles schickt sich zu allen dramatischen Gattungen; und auf folgende Weise habe Ich mir sie zu Nutze gemacht. [] Ein Vater hat zwey Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Die Tochter liebt insgeheim einen jungen Menschen, der in dem Hause wohnet. Der Sohn ist von einer Unbekannten eingenommen, die er in seiner Nachbarschaft gesehen hat. Er hat sie vergebens zu verführen gesucht. Er hat sich verkleidet, und unter erborgtem Namen neben ihr eingemiethet. Man hält ihn da für einen geringen Menschen, der irgend einem Handwerke nachgehet. Weil man glauben muß, daß er des Tages über bey seiner Arbeit ist, so kann er seine Geliebte nur des Abends sehen. Der Vater aber, der auf alles, was in sei
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nem Hause vorgehet, aufmerksam ist, merkt, daß sein Sohn alle Nächte ausser dem Hause bleibt. Diese Aufführung, die ein unordentliches Leben zu verrathen scheinet, macht ihn unruhig. Er wartet auf seinen Sohn. [] Hier fängt sich das Stück an. [] Wie gehet es weiter? Es findet sich, daß das unbekannten Mädchen sich für seinen Sohn schickt; er entdecket zugleich, daß seine Tochter den jungen Menschen liebt, dem er sie bestimmt hatte; er giebt sie ihm also, und schliesset zwey Heyrathen wider Willen seinesfeines Schwagers, der ganz andere Absichten hatte. [] Aber warum hält die Tochter ihre Liebe ge heim? [] Warum ist der junge Mensch, den sie liebt, im Hause? Was macht er da? Wer ist er? [] Wer ist die Unbekannte, in die sich der Sohn verliebt hat? Wie ist sie in die armseligen Umstände gerathen, in welchen sie sich befindet?
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[] Woher ist sie? Da sie aus der Provinz gebürtig ist, was hat sie nach Paris gebracht? Was hält sie da zurück? [] Wer ist der Schwager? [] Woher kömmt ihm das Ansehen, daß er sich in dem Hause des Vaters giebt? [] Warum widersetzt er sich den Verbindungen, die der Vater gut befindet? [] Aber da die Scene nicht an zwey verschiedenen Orten seyn kann, wie wird die junge Unbekannte in das Haus des Vaters zu bringen seyn? [] Wie entdeckt der Vater die Liebe seiner Tochter zu dem jungen Menschen, den er bey sich hat? [] Was für Ursachen hat er, seine Absichten zu verbergen? [] Wie kömmt es, daß die junge Unbekannte sich für seinen Sohn schickt? [] Welches sind die Hindernisse, die der Schwager seinen Absichten in den Weg stellt?
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[] Wie kömmt die doppelte Heyrath, dieser Hinderniße ungeachtet, zu Stande? [] Wie viele Dinge bleiben noch unbestimmt, nachdem der Dichter seinen Entwurf gemacht hat! Das ist unterdessen der Stoff und die Grundlage. Hieraus muß die Eintheilung der Aufzüge, die Zahl der Personen, ihr Charakter und der Stoff zu jeder Scene gezogen werden. [] Ich sehe, dieser Entwurf ist so, wie ich ihn brauche; denn der Vater, dessen Charakter ich mir zu schildern vornehme, wird sehr un glücklich seyn. Er wird die Heyrath, die sich sein Sohn in den Kopf gesetzt hat, nicht zugeben wollen; von der andern Heyrath, die er gern vollzogen wüßte, wird ihm seine Tochter eine Abneigung zu haben scheinen, und beide werden feine Bedenklichkeiten haben, einander ihre wahre Gesinnung zu eröffnen. [] Die Zahl meiner Personen ist also fest gesetzt.
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[] Ich bin wegen ihrer Charaktere nicht weiter ungewiß. [] Der Vater wird den Charakter seines Standes haben. Er wird gut, wachsam, standhaft und zärtlich seyn. Da ich ihn in die bedenklichsten Umstände seines Lebens setze, so wird seine Seele hinlängliche Gelegenheit haben, sich ganz zu entwickeln. [] Sein Sohn muß heftig seyn. Je unvernünftiger eine Leidenschaft ist, desto unwillkührlicher muß sie seyn. [] Seine Schöne wird nicht liebenswürdig genug seyn können. Ich habe sie zu einem unschuldigen, ehrbaren und empfindlichen Kinde gemacht. [] Der Schwager, der mein Triebrad ist, muß einen engen Kopf voller Vorurtheile haben, muß hart, schwach, boshaft, ungestümm, verschlagen, zanksüchtig, die Unruhe des Hauses, die Geissel des Vaters und der Kinder, und der Abscheu der ganzen Welt seyn.
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[] Wer ist der Germeuil? Sein Vater war ein Freund des Hausvaters, gerieth aber in schlechte Umstände, und hinterließ seinem Sohne nichts. Der Hausvater hat ihn, nach dem Tode seines Freundes, zu sich genommen, und wie sein eigen Kind erziehen lassen. [] Cäcilia, die sich nimmermehr vorstellen kann, daß der Vater ihr diesen Menschen zum Manne geben sollte, wird ihn in einer ziemlichen Entfernung von sich halten, und ihm oft hart begegnen; und Germeuil, den dieses Betragen und die Furcht, sich gegen seinen Wohlthäter, den Hausvater, zu vergehen, zurückhält, wird sich in die Grenzen der Ehrfurcht einschränken. Doch werden sie auf beiden Seiten nicht so sehr auf ihrer Hut seyn, daß ihre Zuneigung nicht dann und wann aus ihren Reden und Handlungen, obgleich immer nur ganz schwach und ungewiß, hervorleuchten sollte.
|| [0283.01]
[] Germeuil wird also von einem standhaften, ruhigen und ein wenig zurückhaltenden Cha rakter seyn müssen. [] Und Cäcilia wird eine Mischung von Stolz, Lebhaftigkeit, Eingezogenheit und Empfind lichkeit haben müssen. [] Die Art von Verstellung, welche die Verliebten gegen einander beobachten, wird auch den Hausvater betriegen. Diese verstellte Antipathie wird ihn von seinem Vorhaben abwendig machen, und er wird es nicht wagen wollen, seiner Tochter einen Mann vorzuschlagen, der ganz und gar keine Neigung zu ihr blicken läßt, und vor dem sie einen Abscheu zu haben scheinet. [] Der Vater wird zu sich sagen: Ist es nicht genug, daß ich meinen Sohn plage, indem ich ihm die Person, die er liebt, nehmen will; soll ich auch noch meine Tochter verfolgen, und ihr einen Menschen zum Manne vorschlagen, den sie nicht liebt?
|| [0284.01]
[] Die Tochter wird zu sich sagen: Ist es nicht genug, daß die Liebe meines Bruders dem Vater und dem Vetter so vielen Verdruß macht; soll ich sie durch ein Bekenntniß, das jedermann befremden müßte, noch mehr kränken? [] Auf diese Weise wird die Intrigue der Tochter und des Germeuil verhohlen bleiben, und der Intrigue des Sohnes und seiner Liebste nicht schaden, sondern blos dienen, die ärgerliche Laune des Vetters und den Gram des Vaters zu vermehren. [] Kann ich es vollends dahin bringen, daß diese zwey Personen an der Liebe des Sohnes so viel Antheil nehmen, daß sie nicht Zeit haben, sich mit der ihrigen zu beschäftigen, so wird es mir ausserordentlich gelungen seyn. Ihre Neigung wird das Interesse alsdann nicht theilen; sondern ihre Scenen nur desto schmackhafter machen.
|| [0285.01]
[] Ich habe den Vater zu der Hauptperson machen wollen. Der Entwurf würde einerley gewesen seyn, aber die Episoden hätten ganz anders ausfallen müssen, wenn ich den Sohn, oder den Freund, oder den Vetter zu meinem Helden gemacht hätte. [] Wenn es dem Dichter nicht an Einbildungs kraft fehlet, und er sich auf seinen Entwurf verlassen kann, so wird er ihn schon fruchtbar machen, und so viele Zwischenfälle daraus entspringen sehen, daß ihm nichts als die Wahl dabey schwer seyn wird. [] Er muß aber in diesem Punkte strenge seyn, wenn sein Inhalt ernsthaft ist. Daß ein Vater mit einer Mauleselschelle einen Pedanten verjagt, oder daß sich ein Mann unter den Tisch verkriecht, um es selbst mit anzuhören, was man seiner Frau sagen wird: solche Dinge gehören in das Possenspiel, und sind heut zu Tage ausser demselben nicht mehr zu dul den.
|| [0286.01]
[] Wenn eine junge Prinzessin zum Altare geführet wird, um da geopfert zu werden, so wird man eine so grosse Begebenheit nicht gern auf den blossen Irrthum eines Bothen, der die Prinzessin mit ihrer Mutter auf dem Wege verfehlt hat, gegründet sehen. [] Aber läßt das Schicksal, das mit uns spielt, nicht wohl noch wichtigere Begebenheiten von geringern Ursachen abhängen? [] Es ist wahr. Allein dergleichen Fälle muß der Dichter nicht nachahmen. Wenn die Geschichte ihm einen solchen Zufall an die Hand giebt, so wird er ihn brauchen; aber erfinden wird er ihn nie. Ich werde seine Wege schärfer beurtheilen, als die Wege des Himmels. [] Er sey in der Wahl der Zwischenfälle strenge, und mäßig in ihrem Gebrauche; er mache sie der Wichtigkeit seines Stoffs gemäß, und suche sie in eine so viel möglich nothwendige Verbindung zu bringen.
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[] Je dunkler und schwächer die Mittel sind, wodurch der Wille des Himmels über die Menschen vollzogen wird, desto bestürzter werde ich über ihr Schicksal seyn. [] Ich gebe es zu. Aber ich muß dabey gewiß überzeugt seyn, daß es der Himmel, und nicht bloß der Dichter so haben wollen. [] Die Tragödie verlangt, daß ihre Mittel wichtig; die Komödie, daß sie fein sind. [] Ist ein Liebhaber wegen der Gesinnungen seines Freundes ungewiß? Terenz wird einen Davus auf der Bühne lassen, der die Reden dieses Freundes hört, und sie seinem Herrn hinterbringt. Itzo verlangt man, daß sich der Dichter feiner zu helffen wissen foll. [] Ein eingebildeter alter Narr hat seinen bürgerlichen Namen Arnolph in den Namen Herr de la Souche verwandelt; und auf diesem sinnreichen Auswege kann die ganze Verwickelung beruhen, und die Auflösung kann so ungezwungen und unerwartet daraus her
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fliessen, daß alle Zuschauer ruffen werden: vortrefflich! Und darinn werden sie Recht haben. Aber wenn man ihnen, ohne alle Wahrscheinlichkeit, fünf bis sechsmal hinter einander, diesen Arnolph als den Vertrauten seines Nebenbuhlers zeigt, wie ihn sein Mündel hinter das Licht führet, daß er in eins fort von Valeren zur Agnes, und von der Agnes zu Valeren gehen muß: so ist das kein Drama mehr; es ist eine Erzehlung. Und wer nicht nicht alle den Witz, alle die Lustigkeit, das ganze Genie des Moliere hat, dem wird man ganz gewiß den Mangel an Erfindung vorwerffen, dem wird man mehr als einmal hören lassen: das ist ein Mährchen, darüber man einschlaffen möchte! [] Hat man wenig Zwischenfälle, so braucht man wenig Personen. Man habe ja keine überflüßige Personen; und verbinde alle Zwischenfälle eben so fein als genau.
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[] Besonders spinne man keinen Faden vergebens an. Denn wenn man dem Zuschauer eine Verwirrung voraus zeigt, die sich nicht eräugnet, so zerstreuet man seine Aufmerk samkeit. [] Diese Wirkung, wenn ich mich nicht irre, hat die Rede der Euphrosine in dem Geitzi gen. Sie macht sich anheischig, den Geitzigen von dem Vorsatze, die Mariane zu heyrathen, vermittelst einer Gräfin aus Niederbretagne abzubringen, von der sie sich Wunderdinge verspricht, und der Zuschauer mit ihr. Gleichwohl endet sich das Stück, ohne daß sich Euphrosine wieder sehen läßt, ohne daß die Gräfin aus Niederbretagne, die man alle Augenblicke erwartet, im geringsten zum Vorschein kömmt. [] Ein Plan, wider den man nichts einzuwenden hätte, welche ein Werk würde das seyn! Giebt es wohl einen? Je verwickelter er ist, desto weniger wahr wird er seyn. Allein es
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ist die Frage: ist der Plan zu einer Komödie, oder ist der Plan zu einer Tragödie schwe rer? [] Es finden sich hier drey Stuffen. Die Historie, wo das Faetum gegeben ist. Die Tragödie, wo der Dichter zur Historie dasjenige hinzuthut, wodurch er sie interessanter zu machen glaubt. Die Komödie, wo der Dichter alles erfindet. [] Hieraus kann man schliessen, daß der komische Dichter vorzüglicher Weise den Namen Dichter verdienet. Denn Er ist es, der erdichtet. Er ist in seiner Sphäre das, was der Allmächtige in der Natur ist. Er schaffet, er ziehet aus dem Nichts hervor; und zwar mit diesem Unterschiede, daß wir in der Natur weiter nichts als eine beständige Kette von Wirkungen wahrnehmen, deren Ursachen uns unbekannt sind, da hingegen der Verlauf des Drama nirgends dunkel ist, und der Dichter, wenn er uns von seinen Triebfedern schon so
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viel verbirgt, als unsere Neubegierde zu reitzen vermögend ist, uns doch immer so viel davon muß sehen lassen, als uns befriedigen kann. [] Da aber die Komödie in allen ihren Theilen eine Nachahmung der Natur ist, hat der Dichter denn kein Muster, nach welchem er sich auch bey Verfertigung des Planes richten könnte? [] Allerdings. [] Und welches ist dieses Muster? [] Ehe ich antworte, muß ich fragen: was ist ein Plan? [] Ein Plan ist eine wunderbare Geschichte, die nach den Regeln der dramatischen Dicht kunst vertheilt ist; eine Geschichte, die der tragische Dichter zum Theil, und der komi sche Dichter ganz und gar erfindet. [] Recht wohl. Was ist also die Grundlage des Drama? [] Die Geschichte.
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[] Das ist unwidersprechlich. Man hat die Dichtkunst mit der Mahlerey verglichen, und man hat sehr wohl gethan; aber eine noch weit nützlichere und an Wahrheiten fruchtbarere Vergleichung, würde die Vergleichung der Geschichte mit der Dichtkunst gewesen seyn. Auf diese Weise würde man sich richtige Begriffe von dem Wahren, dem Wahr scheinlichen und dem Möglichen gemacht, und den Begriff von dem Wunderbaren festgesetzt haben, als das allen Gattungen der Dichtkunst gemein ist, und das nur wenige Dichter wohl zu erklären im Stande sind. [] Nicht aus allen historischen Begebenheiten lassen sich Tragödien machen; auch können nicht alle häusliche Vorfälle Stoffe zu Komödien abgeben. Die Alten schränkten die tragische Gattung auf die Familien des Alkmäons, des Oedipus, des Orest, des Meleagers, des Telephus, und des Herkules ein.
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[] Horaz will nicht leiden, daß man eine Person auf die Bühne bringe, die einer Lamia ein lebendiges Kind aus dem Eingeweide reisse. So etwas, sagt er, könne er weder sehen, noch für möglich halten. Welches ist denn also die Grenze, wo die Ungereimtheit einer Begebenheit aufhöret, und die Wahrschein lichkeit anfängt? Wie kann es der Dichter fühlen, was und wie viel er wagen darf? [] Es verbindet manchmal auch die natürliche Ordnung der Dinge, ganz ausserordentliche Zufälle. Und eben diese Ordnung ist es, die das Wunderbare von dem wirklichen Wunder unterscheidet. Seltene Fälle sind wunderbar. Natürlicher Weise unmögliche Fälle, sind Wunder. Die dramatische Dichtkunst verwirft die Wunder. [] Wenn die Natur niemals auf eine ausserordentliche Weise Begebenheiten verbände, so würde alles, was der Dichter über die blosse, frostige Einförmigkeit des gemeinen Lauffes
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erdächte, unglaublich seyn. Aber das ist nicht. Was thut der Dichter also? Entweder er macht sich diese ausserordentlichen Verbindungen zu Nutze, oder er erdichtet ähnliche. Anstatt aber, daß sich in der Natur die Verknüpfung der Begebenheiten oft unsern Augen entziehet, und wir, weil wir die Dinge nicht im Ganzen übersehen können, oft weiter nichts als eine ungefehre Zusammentreffung der Vorfälle wahrnehmen: will der Dichter, daß in dem ganzen Verfolge seines Werkes eine merkliche und in die Sinne fallende Verbindung herrsche; so daß er weniger Wahrheit, aber mehr Wahrscheinlichkeit hat, als der Geschichtschreiber. [] Da aber die blosse Coexistenz der Begebenheiten hinreichend ist, das Wunderbare in der Historie hervorzubringen, warum soll sich nicht auch der Dichter damit begnü gen?
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[] Er begnügt sich auch wirklich manchmal damit; besonders der tragische Dichter. Dem komischen Dichter hingegen ist die Voraussetzung sich zu gleicher Zeit eräugnender Vorfälle, nicht so wohl erlaubt. [] Und warum das? [] Weil der Theil, den der tragische Dichter aus der Geschichte entlehnet, macht, daß man das, was aus seiner Erfindung geflossen ist, gleichfalls für historisch annimmt. Die Dinge, die er erdichtet, werden durch die, die ihm gegeben sind, wahrscheinlich. Dem komischen Dichter aber wird durchaus nichts gegeben; und folglich ist es ihm weniger vergönnt, sich auf die Simultaneität der Begebenheiten zu gründen. Uebrigens ist die Fatalität, oder der Wille der Götter, ob welchem die Menschen so sehr erzittern, wenn sie ihr Schicksaal in der Gewalt höherer Wesen sehen, denen sie nicht entgehen können, und deren Hand sie oft in dem Augenblicke, wenn
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sie am allersichersten sind, ergreift, in der Tragödie ungleich nöthiger. Wenn irgend in der Welt etwas rührendes ist, so ist es der Anblick eines Menschen, der wider seinen Willen strafbar und unglücklich geworden ist. [] In der Komödie müssen die Menschen die Rolle spielen, welche in der Tragödie die Göt ter spielen. Hier ist die Fatalität, und dort die Bosheit die Grundlage des dramatischen Interesse. [] Worinn besteht also das Romanenhafte, das man verschiedenen von unsern Stücken vorwirft? [] Das Stück ist romanenhaft, wenn das Wunderbare aus der Simultaneität der Begebenheiten entspringt; wenn die Götter oder Menschen entweder allzuböse oder allzugut darinn erscheinen; wenn die Fälle und die Charaktere fast ganz und gar nicht so sind, als wir sie aus der Erfahrung und aus der Geschichte kennen; und vor allen Dingen,
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wenn die Verbindung der Begebenheiten allzuausserordentlich, und allzuverwickelt ist. [] Hieraus läßt sich schliessen, daß der Roman, aus welchem man ein gutes Drama machen kann, darum nicht schlecht ist; daß es aber kein gutes Drama giebt, aus welchem man einen vortrefflichen Roman machen könnte. Die Regeln sind es, durch die sich diese zwey Gattungen der Poesie unterscheiden. [] Die Illusion ist ihr gemeinschaftlicher Zweck: wovon aber hängt die Illusion ab? Von den Umständen. Die Umstände sind es, die sie leichter oder schwerer zu erreichen ma chen. [] Man erlaube mir einen Augenblick, die Sprache des Analysten zu führen. Man weis, was eine Gleichung heißt. Auf der einen Seite ist die Illusion ganz allein. Sie ist eine unveränderliche Grösse, die einer Summe von Gliedern gleich ist, deren einige
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positiv und andere negativ sind, deren Zahl und Verbindung unendlich verschieden seyn kann, deren totale Geltung aber immer eben dieselbe ist. Die positiven Glieder sind die gemeinen Umstände; und die negativen sind die ausserordentlichen. Beide müssen sich durch einander aufheben können. [] Die Illusion ist nicht freywillig. Sagen: ich will mich täuschen lassen, ist eben so viel als sagen: ich habe eine Erfahrung von dem, was in dem menschlichen Leben vorfällt, auf die ich nicht achten will. [] Wenn ich sage, die Illusion sey eine unveränderliche Grösse, so verstehe ich es von Einem Menschen, der von verschiednen Werken urtheilet, und nicht von verschiednen Menschen. Es sind vielleicht auf der ganzen Welt nicht zwey Individua, die einerley Maaß der Gewißheit hätten, und gleichwohl ist der Dichter gehalten, sie alle gleich sehr zu täuschen. Der Dichter bedient sich der Vernunft
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und der Erfahrung eines verständigen Menschen, so wie eine Wärterin sich der Einfalt eines Kindes bedienet. Ein gut Gedicht ist ein Mährchen, das werth ist, vernünftigen Leuten erzehlt zu werden. [] Der Romanenschreiber hat die Zeit und den Raum, der dem dramatischen Dichter fehlet. Ich werde daher immer, wenn beide gleich gut sind, ein theatralisches Stück höher schätzen, als einen Roman. Uebrigens ist keine Schwierigkeit zu finden, der jener nicht ausweichen könnte. Er spricht z. E. Auf die schweren Augenlieder, durch den ermatteten Körper des müden Wandrers, fließt süsser nicht der Balsam des Schlafes, als die schmeichelnden Worte der Göttin flossen; doch immer widerstand ihr eine geheime Macht, und vereitelte ihre Reitze. — Aber Mentor, in seinen weisen Rathschlägen unveränderlich, lies vergebens in sich dringen; manchmal zwar ließ er sie hoffen, als setzten
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ihn ihre Fragen in Verlegenheit; doch wenn sie nun eben ihre Neugierde zu befriedigen glaubte, verschwand ihre Hoffnung wieder auf einmal. Was sie fest zu halten glaubte, war ihr entwischt, und eine kurze Antwort stürzte sie in ihre erste Ungewißheit zurück. —
Und damit hat sich der Romanschreiber glück lich aus dem Handel gezogen. So schwer aber ein dergleichen Gespräch auszuführen ist, so muß dennoch der dramatische Dichter, entweder seinen ganzen Plan verändern, oder die Schwierigkeit überwinden. Welch ein Unterschied zwischen, eine Wirkung beschreiben, und sie hervorbringen! [] Die Alten hatten Tragödien, in welchen alles von der Erfindung des Dichters war. Die Geschichte hatte nicht einmal die Namen der Personen dazu geliehen. Und was liegt auch daran, wenn der Dichter das wahre Maaß des Wunderbaren nur nicht über schreitet?
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[] Wenige Personen wissen, wie viel in dem Drama aus der Geschichte entlehnt worden; wenn also das Gedicht nur sonst gut ist, so wird es alle und jede gleich stark interessiren, und vielleicht den unwissenden Zuschauer noch stärker, als den unterrichteten. Denn für jeden hat alles einerley Wahrheit, anstatt daß für diesen die Episoden nur wahrscheinlich, nur mit Wahrheiten so künstlich vermischte Lügen sind, daß er sie ohne Widerwillen annehmen kann. [] Die häusliche Tragödie würde die Schwierigkeiten von beiden Gattungen haben; denn sie müßte eben dieselbe Wirkung hervorbringen, welche die heroische Tragödie hervorbringt, und der Plan müßte, wie in der Ko mödie, ganz und gar erfunden seyn. [] Ich habe mich manchmal gefragt, ob man die häusliche Tragödie in Versen schreiben könnte; und ohne eigentlich zu wissen warum, habe ich mir allezeit mit Nein geantwortet.
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Gleichwohl wird die gewöhnliche Komödie, gleichwohl wird die heroische Tragödie in Versen geschrieben. Und was kann man sonst nicht in Versen schreiben! Sollte diese Gattung wohl einen eignen Styl verlangen, von dem ich noch selbst keinen Begriff habe? Sollte wohl die Wahrheit des Stoffs, sollte wohl das stärkere Interesse keine abgemessene Sprache leiden wollen? Oder ist vielleicht der Stand der Personen unserm Stande allzunahe, als daß er die höhere Harmonie des Verses verstatten könne? [] Ich komme zurück. Wenn man die Geschichte Carls des zwölften in Verse brächte, so würde sie darum nichts weniger eine Geschichte bleiben. Wenn man die Henriade in Prosa brächte, so würde es doch noch immer ein Gedicht seyn. Allein der Geschicht schreiber hat die Begebenheiten blos so, wie sie vorgefallen sind, aufgezeichnet: und daher nehmen sich die Charaktere nicht immer so
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aus, als sie sich wohl ausnehmen könnten; daher werde ich nicht so stark interessirt, nicht so stark bewegt, als ich wohl interessirt und bewegt werden könnte. Der Dichter hingegen würde alles so beschrieben haben, wie es am rührendsten ist. Er würde Fälle dazu erdichtet, er würde Reden dazu ersonnen, er würde die ganze Begebenheit fruchtbarer gemacht haben. Er würde überall auf das Wunder bare bedacht gewesen seyn, ohne das Wahr scheinliche dabey aus den Augen zu setzen: und dieses würde ihm gelungen seyn, wenn er sich genau nach der Natur gerichtet hätte, die, so oft sie ausserordentliche Vorfälle zusammen verbindet, diese ausserordentlichen Vorfälle von ganz gemeinen Umständen begleiten läßt. [] Und dieses ist eigentlich das Geschäfte des Dichters. Welcher Unterschied ist zwischen ihm und dem Versificateur! Glauben Sie unterdessen ja nicht, daß ich diesen verachte;
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sein Talent ist selten. Wenn Sie aber aus dem Versificateur einen Apollo machen, so wird mir der Dichter ein Herkules seyn. Nun geben sie immerhin dem Herkules eine Leyer in die Hand, er wird dadurch doch nicht zu einem Apollo werden. Stützen Sie desgleichen immerhin den Apollo auf eine Keule, und werffen ihm die Löwenhaut über die Schulter, Sie werden doch keinen Herkules aus ihm machen. [] Hieraus sieht man, daß eine Tragödie in Prosa eben so wohl ein Gedicht ist, als eine Tragödie in Versen; daß es mit der Komödie und mit dem Roman gleiche Bewandtniß hat; daß aber die Absicht der Dichtkunst weit allgemeiner ist, als die Absicht der Geschichte. Man lieset in der Geschichte, was ein Mann von dem Charakter Heinrichs des vierten, gethan und gelitten hat. Wie viel Umstände aber sind möglich, in welchen er auf eine seinem Charakter gemässe und weit wunderbarere
|| [0305.01]
Art hätte handeln können, als uns die Geschichte meldet; und diese wunderbarere Art eben ist es, welche die Poesie erdichtet. [] Sie, die Einbildungskraft, ist die grosse Fähigkeit, ohne welche man weder Dichter, noch Philosoph, weder ein witziger Kopf, noch ein vernünftiges Wesen, noch ein Mensch ist. [] Was ist denn aber diese Einbildungskraft? werden Sie mich fragen. [] O mein Freund, welche Schlinge legen Sie mir itzt, da ich Sie von der dramatischen Dichtkunst unterhalten will. Komme ich einmal ins philosophiren, so ist es um meine Materie gethan. [] Die Einbildungskraft ist das Vermögen, sich der gehabten Bilder zu erinnern. Ein Mensch, dem diese Eigenschaft gänzlich fehlte, würde ein Dummkopf seyn, dessen gesammte Seelenkräfte sich auf das einzige Vermögen einschränkten, die Töne, die er in seiner Jugend hat verbinden lernen, wieder
|| [0306.01]
hervorzubringen, und sie bey vorfallenden Gelegenheiten anzuwenden. [] Das ist der elende Stand des gemeinen Volks, und manchmal auch des Weltweisen. Wenn diesen die Geschwindigkeit der Rede fortreißt und ihm nicht Zeit läßt, von den Worten auf die Bilder zu kommen, was thut er alsdenn anders, als daß er sich gelernter Töne erinnert, und sie in einer gewissen Ord nung wieder vorbringt? O wie sehr ist auch der Mensch, der am meisten denket, noch Maschine! [] Welches aber ist der Augenblick, da er sein Gedächtniß zu üben aufhört, und seine Ein bildungskraft zu brauchen anfängt? Dieses erfolgt alsdenn, wenn man ihn von Frage zu Frage, sich Bilder zu machen, das ist, von den abgezogenen und allgemeinen Tönen, auf weniger abgezogene und allgemeine Töne zu kommen zwingt, bis er endlich auf eine sinnliche Vorstellung gelangt, welche das letzte
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Ziel und der Ruhepunkt seines Verstandes ist. Und was wird er alsdenn? Mahler oder Dichter. [] Man frage ihn zum Exempel: was ist die Gerechtigkeit? und man wird bald sehen, daß er sich selbst nicht eher versteht, als bis er seine Kenntniß auf eben dem Wege zu den Gegenständen wieder zurück führt, auf welchem sie in seine Seele gekommen ist, und sich etwa zwey Menschen vorstellet, welche der Hunger zu einem Baume voll Früchte führet; der eine steigt herauf und sammelt, und der andre bemächtiget sich dessen, was jener gesammelt hat, mit Gewalt. Nun erst wird er uns die Bewegungen, die sich in ihnen äussern, zeigen können; auf der einen Seite die Zeichen der Rache, auf der andern die Symptomata der Furcht; wie sich der eine für beleidiget hält, und der andre sich selbst mit dem häßlichem Namen des Beleidigers belegen muß.
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[] Legt man einem andern die nehmliche Frage vor, so wird sich seine letzte Antwort in ein anderes Gemählde auflösen. So viel Köpfe, so viel verschiedene Gemählde vielleicht: alle aber werden zwey Menschen vorstellen, die zu gleicher Zeit ganz widrige Eindrücke empfinden, folglich auch sich auf eine ganz widrige Weise betragen, und unarticulirte und wilde Töne herausstossen, die mit der Zeit in der Sprache des gesitteten Menschen, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit bedeuten und ewig bedeuten werden. [] Das Gefühl, das in der belebten Natur so unendlich vieler Grade und Abänderungen fähig ist, und in dem Menschen bald sehen, bald hören, bald riechen, bald schmecken, bald empfinden heißt, das Gefühl ist es, durch welches er die Eindrücke empfängt, die sich in seinen Organen erhalten, die er hernach durch Worte ausdrückt, und deren er sich entweder durch diese Worte, oder durch Bilder, wieder erinnn̅ert.
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[] Sich einer nothwendigen Reihe von Bildern erinnern, so wie sie in der Natur auf einander folgen, heißt nach gewissen Factis denken. Sich einer Reihe Bilder erinnern, so wie sie in der Natur nothwendig auf einander folgen müßten, wenn dieses oder jenes Phänomenon gegeben ist, heißt nach einer Hypothes denken, das ist, dichten; das heißt, Philosoph oder Poet seyn, nachdem man sich diesen oder jenen Endzweck vorsetzt. [] Und der Poet, welcher erdichtet, und der Philosoph, welcher schließt, sind beide auf gleiche Weise und in dem nehmlichen Verstande, zusammenhängend oder nicht zusammenhängend. Denn zusammenhängend seyn, oder Erfahrung von der nothwendigen Verknüpfung der Erscheinungen haben, ist einerley. [] Das, dünkt mich, kann genug seyn, die Analogie der Wahrheit und der Erdichtung zu zeigen, den Poeten und den Philosophen zu charakterisiren, und das Verdienst des Poeten,
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besonders des epischen und dramatischen ausser Zweifel zu setzen. Er hat von der Natur die Eigenschaft in einem höhern Grade empfangen, durch die sich ein Mensch von Genie von einem gewöhnlichen Menschen, und dieser von einem Dummkopfe unterscheidet; die Einbildung meine ich, ohne die alle Rede weiter nichts als eine mechanische Fertigkeit ist, gewisse verbundene Töne bey gewissen Fällen anzubringen. [] Allein der Dichter darf sich nicht der ganzen Hitze seiner Einbildungskraft überlassen; es sind ihm gewisse Grenzen vorgeschrieben. Sein Muster sind die seltnen Fälle, die sich in dem Lauffe der Natur eräugnen. Und folgendes ist seine Regel. [] Je seltner und sonderbarer die Fälle sind, desto mehr Kunst, desto mehr Zeit, und Raum, und gewöhnliche Umstände braucht er, um das Wunderbare daraus zu schaffen, und den Grund zur Illusion zu legen.
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[] Wenn das historische Factum nicht wunderbar genug ist, so wird er es durch ausserordentliche Zwischenfälle verstärken; durch gemeine Zufälle hingegen wird er es schwächen, wenn es allzuwunderbar ist. [] Nicht genug, komischer Dichter, daß du in deinem Entwurfe gesagt hast: dieser junge Mensch soll sich aus dieser Buhlerin nur wenig machen; er soll sie verlassen, er soll sich verheyrathen; er soll an seiner Frau Geschmack finden; diese soll liebenswürdig seyn, und er soll sich ein erträgliches Leben mit ihr zu führen versprechen; er soll ferner zwey Monate bey ihr liegen, ohne sie zu berühren, und gleichwohl soll sie sich schwanger befinden. Die Schwiegermutter soll in ihre Schnur ganz vernarrt seyn. Desgleichen brauche ich eine Buhlerin von schönen Gesinnungen. Auch kann ich eine gewaltsame Schändung nicht wohl entbehren; und diese muß auf der Strasse von einem jungen betrunkenen Menschen ge
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schehen seyn. Recht gut; nur fort! Häuffe nur immer einen seltsamen Umstand auf den andern; ich bin es zufrieden. Deine Fabel wird ganz gewiß wunderbar seyn. Nur vergiß nicht, daß du alles dieses Wunderbare mit einer Menge gemeiner Umstände versetzen und so zurichten mußt, daß es mich täuschen kann. [] Folglich würde es mit der Dichtkunst viel besser aussehen, wenn das Werk von der historischen Gewißheit schon geschrieben wäre. Es würden sich die nehmlichen Gründe auf das Mährchen, auf den Roman, auf die Oper, auf das Possenspiel, auf alle Arten von Gedichten, nicht einmal die Fabel ausgenommen, anwenden lassen. [] Wenn es bey irgend einem Volke ein Glaubensartikel wäre, daß die Thiere ehedem geredt hätten: so würde die Fabel unter ihm einen Grad der Wahrscheinlichkeit haben, den sie unter uns nicht haben kann.
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[] Hat der Dichter seinen Plan gemacht, hat er seinem Entwurfe die erforderliche Ausführlichkeit gegeben, ist sein Drama in Aufzüge und Auftritte vertheilet: so kann er anfangen zu arbeiten. Aber er fange bey dem ersten Auftritte an, und höre mit dem letzten auf. Er betriegt sich, wenn er glaubt, daß er sich ungestraft seinem Eigensinne überlassen, von einer Stelle auf die andre springen, und sich, so wie es seinem Genie einfällt, bald dahin, bald dorthin wenden könne. Er weis nicht, wie viel Mühe er sich zubereitet, wenn sein Werk anders ein Ganzes ausmachen soll. Wie viel unrecht angebrachte Gedanken wird er von ihrer Stelle müssen wegnehmen, und anders wohin versetzen! Umsonst wird er den Inhalt einer jeden Scene festgesetzt haben; er wird ihn doch verfehlen. [] Die Scenen haben einen Einfluß in einander, den er so nicht bemerken wird. Hier wird er zu weitläuftig, dort wird er zu kurz
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seyn; bald wird er frostig, bald wird er allzufeurig seyn. Die Unordnung, nach welcher er arbeitet, wird sich durch sein ganzes Werk verbreiten, und Spuren hinterlassen, die er mit aller seiner Mühe nicht auszulöschen vermag. [] Ehe man von einer Scene auf die folgende fortschreitet, muß man sich alle vorhergehende ganz wieder ins Gedächtniß ruffen. [] Das ist aber eine sehr mühsame Art zu arbeiten. [] Allerdings. [] Und was soll der Dichter thun, wenn ihn zu Anfange seines Gedichts das Ende am meisten begeistert? [] Er soll warten. [] Aber in dieser Stelle, wovon er itzt ganz voll ist, würde sich sein ganzes Genie gezeigt haben. [] Wenn er wirklich Genie hat, so sey ihm nur nicht bange. Die Gedanken, die er zu
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verlieren fürchtet, werden wiederkommen. Sie werden mit einer Verstärkung von verschiednen andern wiederkommen, die aus dem, was er bereits gemacht hat, entsprungen sind, und seiner Scene mehr Feuer, mehr Glanz, und mehr Verbindung mit dem Ganzen geben werden. Er wird alles sagen, was er wird sagen können. Aber kann man sich das auch alsdenn von ihm versprechen, wenn er in seiner Arbeit lauter Sprünge macht? [] So habe Ich wenigstens nie arbeiten mögen; sondern meine Art zu arbeiten hat mir immer die sicherste und bequemste geschienen. [] Der Hausvater hat drey und funfzig Aufzüge. Den ersten habe ich zuerst, und den letzten zuletzt geschrieben; und ohne eine Reihe ganz besonderer Umstände, die mir das Leben verdrießlich und die Arbeit eckel machten, würde diese Beschäftigung nur ein Zeitvertreib auf wenig Wochen für mich gewesen seyn. Aber wie kann man sich in verschiedene
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Charaktere verwandeln, wenn uns Widerwertigkeiten nöthigen, nur immer an uns selbst zu denken? Wie kann man sich vergessen, wenn ein beständiger Verdruß uns an unser Daseyn erinnert? Wie kann man andere erleuchten und erhitzen, wenn die Lampe der Begeisterung verloschen ist, und die Flamme des Genies nicht mehr auf der Stirne glän zet? [] Wie viel Mühe hat man sich nicht gegeben, mich in der Geburt zu unterdrücken? Glauben Sie wohl, mein Freund, daß ich nach der Verfolgung, die der natürliche Sohn erfahren müssen, viel Lust hätte haben können, mich mit dem Hausvater zu beschäftigen? Hier ist er gleichwohl. Sie verlangten es, daß ich ihn zu Stande bringen sollte, und ich habe Ihnen diese Befriedigung nicht versagen können. Erlauben Sie mir zur Vergeltung ein Paar Worte von diesem natürlichen Sohne zu sagen, den man so schändlich verfolgt hat.
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[] Carl Goldoni hat im Italiänischen eine Komödie, oder vielmehr ein Possenspiel in drey Aufzügen geschrieben, das er den auf richtigen Freund nennet. Es ist ein Mischmasch von den Charakteren des wahren Freundes, und des Geitzigen vom Moliere. Die Cassette und der Diebstahl kommen darinn vor; und die Helfte der Scenen spielen in dem Hause eines geitzigen Vaters. [] Dieses ganze Theil der Intrigue ließ ich weg; denn ich habe in dem natürlichen Sohne weder Geitzhals, noch Vater, noch Diebstahl, noch Cassette. [] Aus dem andern Theile, glaubte ich, liesse sich etwas Erträgliches machen; ich bemächtigte mich also seiner, als ob es das Meinige wäre. Goldoni selbst war nicht gewissenhafter gewesen. Er hatte sich den Geitzigen eigen gemacht, ohne daß jemand das geringste dawider einzuwenden gefunden; und noch war niemand auf den Einfall gekommen,
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Molieren oder Corneillen eines Diebstahls zu beschuldigen, weil sie die Idee zu diesem oder jenem Stücke von einem italiänischen Verfasser, oder von dem spanischen Theater entlehnet haben. [] Aber dem sey wie ihm wolle; gnug, ich machte aus diesem Theile eines Possenspiels in drey Aufzügen, das Lustspiel der natürliche Sohn in fünf Aufzügen; und weil ich gar nicht gesonnen war, mein Stück auf das Theater zu bringen, so fügte ich einige Gedanken über die Dichtkunst, die Musik, die Declamation und die Pantomime bey, und machte aus allem zusammen eine Art von Roman, den ich den natürlichen Sohn oder die Probe der Tugend, nebst der wahren Geschichte des Stücks, nennte. [] Wie würde es ohne die Voraussetzung, daß sich die Begebenheit des natürlichen Sohnes wirklich zugetragen habe, mit der Illusion dieses Romans, und mit allen den Anmerkun
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gen, die ich in den Unterredungen, über den Unterschied zwischen einem wahren und erdichteten Facto, zwischen wirklichen und erdichteten Personen, zwischen in der That gehaltenen und nur in den Mund gelegten Reden, eingestreuet habe; kurz, mit der ganzen Dicht kunst stehen, wo die Wahrheit mit der Erdichtung in eine beständige Parallel gesetzt wird? [] Aber lassen Sie uns den wahren Freund des italiänischen Dichters mit dem natürli chen Sohne ein wenig strenger vergleichen. [] Welches sind die vornehmsten Theile eines Drama? Die Verwicklung, die Charaktere und die Ausführung. [] Die uneheliche Geburt des Dorval ist die Grundlage des natürlichen Sohnes. Ohne diesen Umstand, bleibt die Flucht seines Vaters nach Amerika ohne hinlängliche Ursache. Ohne diesen Umstand kann es Dorvaln nicht unbekannt seyn, daß er eine Schwester hat
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und an ihrer Seite lebt. Er würde also nicht in sie verliebt werden; er würde seines Freundes Nebenbuhler nicht werden. Dorval muß reich seyn, und sein Vater würde weiter keine Ursache haben, ihn reich zu machen. Warum würde er Bedenken tragen, sich Theresien zu entdecken? Die Scene mit Arnolden müßte gleichfalls wegfallen. Da würde kein Vater, der aus Amerika zurückkömmt, der unter Wegens gefangen genommen wird, der die ganze Auflösung macht, mehr Statt finden. Weg ist die Verwicklung! Weg ist das Stück! [] Nun frage ich: kömmt von allen diesen Dingen, ohne welche der natürliche Sohn nicht bestehen kann, in dem aufrichtigen Freunde auch nur das geringste vor? Nicht das geringste. So steht es mit der Ver wicklung. [] Lassen Sie uns auf die Charaktere kommen. Kömmt ein stürmischer Liebhaber, wie Clair
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ville, darinn vor? Nein. Ein unverstelltes, naives Mädchen, wie Rosalia? Nein. Eine Frau, von solcher Gemüthsart, von so erhab nen Gesinnungen, als Theresia? Nein. Ein Mann von so düsterm und wildem Charakter, als Dorval? Nein. Also findet sich in dem aufrichtigen Freunde kein einziger von meinen Charaktern? Kein einziger; auch nicht einmal Arnolden ausgenommen. [] Endlich die Ausführung. Habe ich von dem fremden Dichter auch nur einen einzigen Gedanken, den man anführen könnte, entlehnet? Keinen einzigen. [] Was ist sein Stück? Ein Possenspiel. Und der natürliche Sohn wäre ein Possenspiel? Ich glaube nicht. [] Folglich kann ich behaupten: [] Wer da sagt, die Gattung, in welcher ich den natürlichen Sohn geschrieben, sey eben die Gattung, in welcher Goldoni den aufrich tigen Freund geschrieben, der sagt eine Lügen.
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[] Wer da sagt, daß meine Charaktere mit den Charakteren des Goldoni die geringste Aehnlichkeit haben, der sagt eine Lügen. [] Wer da sagt, daß sich in der Ausführung ein einziges wichtiges Wort befinde, das man von dem aufrichtigen Freunde zu dem na türlichen Sohne geborgt habe, der sagt eine Lügen. [] Wer da sagt, daß die Einrichtung des na türlichen Sohnes mit der Einrichtung des aufrichtigen Freundes einerley sey, der sagt eine Lügen. [] Dieser Schriftsteller hat an die sechzig Stücke geschrieben. Wenn jemand zu einer ähnlichen Arbeit Lust hat, so ersuche ich ihn, sich eines von den übrigen auszulesen, und zuzusehen, ob er etwas daraus machen kann, das uns gefallen wird. [] Ich wünschte von Herzen, daß man mir ein Dutzend dergleichen Diebstähle vorzuwerffen hätte; und ich bin sehr ungewiß, ob der
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Hausvater dadurch viel gewonnen hat, daß er mir ganz und gar zugehöret. [] Da man mich übrigens eben der Vorwürffe gewürdiget hat, die gewisse Leute ehemals dem Terenz machten, so verweise ich meine Tadler auf die Prologos dieses Dichters. Die mögen sie lesen, und ich will mich unterdessen in meinen Erhohlungsstunden mit Verfertigung eines neuen Stücks beschäftigen. Da meine Absichten gut und rein sind, so werde ich mich ihrer Bosheit wegen leicht trösten können, wenn es mir noch einmal gelingen sollte, rechtschaffene Leute zu rühren. [] Die Natur hat mir Geschmack an der Einfalt gegeben, und ich bemühe mich, diesen Geschmack durch das Lesen der Alten vollkommner zu machen. Das ist mein Geheimniß. Wer den Homer mit ein wenig Genie lieset, wird bey ihm die Quelle, woraus ich schöpfe, mit mehr Zuverlässigkeit finden.
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[] O mein Freund, wie schön ist die Einfalt! Wie übel haben wir gethan, uns davon zu entfernen! [] Wollen Sie hören, was der Schmerz einem Vater eingiebt, der itzt seinen Sohn verloren hat? Hören Sie den Priamus. [] Entfernt euch, meine Freunde; laßt mich allein; euer Trost ist mir zur Last. — Ich will zu den Schiffen der Griechen gehen; ja, ich will gehen. Ich will den fürchterlichen Mann sehen; ich will ihn bitten. Vielleicht erbarmt er sich meiner Jahre, und hat Achtung für mein Alter. — Er hat einen Vater, der alt ist, wie ich. — Ah, dieser Vater hat ihn zur Schande und zum Unglücke unsrer Stadt erzeugt! — Wie viel Böses hat er uns allen zugefügt! Aber wem mehr, als mir? Wie viele Kinder hat er mir nicht geraubt, und in der Blüthe ihrer Jugend! — Sie waren mir alle lieb! — Ich habe sie alle
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beweint. Aber der Verlust dieses letztern schmerzet mich vor allen, und ich werde mein Schmerz mit zur Hölle nehmen. — Ah! warum ist er nicht in meinen Armen gestorben! — So würden wir uns doch über ihn satt geweinet haben, ich und die unglückliche Mutter, die ihm das Leben gab.
[] Wollen Sie wissen, wie sich ein Vater ausdrückt, der dem Mörder seines Sohnes fußfällig flehet? Hören Sie eben den Priamus zu den Füssen des Achilles. [] Achill, erinnere dich deines Vaters; er ist von meinem Alter, und wir seufzen beide unter der Last der Jahre. — Ah, vielleicht fällt auch ihm itzt ein feindlicher Nachbar schwer, und er hat niemanden um sich, der die drohende Gefahr von ihm abwende. — Hat er aber vernommen, daß du noch lebst, so fließt Hoffnung und Freude in sein Herz, und seine Tage
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verlauffen in der süssen Erwartung, seinen Sohn bald wieder zu sehen. — Wie verschieden ist sein Schicksal von dem mei- nigen! — Ich hatte Kinder, und ich bin, als ob ich sie alle verloren hätte! — Von funfzigen, die ich um mich her zehlte, als die Griechen ankamen, war mir nur noch einer übrig, der uns vertheidigen konnte, und dieser eine ist von deinen Händen, ist vor den Mauern dieser Stadt gefallen. — Gieb mir seinen Leichnam wieder; nimm meine Geschenke an; scheue die Götter; erinnere dich deines Vaters, und habe mit mir Erbarmung! — Sieh, wie weit ich gebracht bin! — Sah je ein Monarch sich so tief erniedriget! War je ein Mensch so sehr zu beklagen! Ich liege zu deinen Füssen, und küsse deine Hände, die von dem Blute meines Sohnes noch befleckt sind.
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So sprach Priamus: und der Sohn des Peleus fühlte, bey der Erinnerung seines Vaters, in dem Innersten seines Herzens Erbarmung. Er hob den Alten auf, und hielt ihn mit einem sanften Stosse von sich ab. Was ist in diesen Reden? Kein Witz, aber so viel Wahrheit, daß man fast glauben sollte, man würde eben sowohl als Homer darauf gefallen seyn. Wir aber, die wir die Schwierigkeit und das Verdienst, so einfältig zu seyn, ein wenig kennen, mögen diese Stellen nur lesen, mögen sie mit Bedacht lesen, und hernach alle unsere Schreibereyen nehmen und ins Feuer werffen. Das Genie läßt sich fühlen, aber nicht nachahmen. In den verwickelten Stücken ist das Interesse mehr die Wirkung des Plans, als der Reden; in den einfachen Stücken hingegen ist es mehr die Wirkung der Reden, als des Plans. Allein worauf muß sich das In
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teresse beziehen? Auf die Personen? Oder auf die Zuschauer? Die Zuschauer sind nichts als Zeugen, von welchen man nichts weis. Folglich sind es die Personen, die man vor Augen haben muß. Ich glaube. Sie lasse man den Knoten schürzen, ohne daß sie es wissen; für sie sey alles undurchdringlich; sie bringe man, ohne daß sie es merken, der Auflösung immer näher und näher. Sind Sie nur in Bewegung, so werde ich den nehmlichen Bewegungen schon auch nachhängen, sie schon auch empfinden müssen. Weit gefehlt, daß ich mit den meisten, die von der dramatischen Dichtkunst geschrieben haben, glauben sollte, man müsse die Entwicklung vor dem Zuschauer verbergen. Ich dächte vielmehr, es sollte meine Kräfte eben nicht übersteigen, wenn ich mir ein Werk zu machen vorsetzte, wo die Entwicklung gleich
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in der ersten Scene verrathen würde, und aus diesem Umstande selbst das allerstärkste Interesse entspränge. Für den Zuschauer muß alles klar seyn. Er ist der Vertraute einer jeden Person; er weis alles was vorgeht, alles was vorgegangen ist; und es giebt hundert Augenblicke, wo man nichts bessers thun kann, als daß man es ihm gerade voraus sagt, was noch vorgehen soll. O ihr Verfertiger allgemeiner Regeln, wie wenig verstehet ihr die Kunst, und wie wenig besitzt ihr von dem Genie, das die Muster hervorgebracht hat, auf welche ihr sie bauet, und das sie übertreten kann, so oft es ihm beliebt! Meine Gedanken mögen so paradox scheinen als sie wollen: so viel weis ich gewiß, daß es für Eine Gelegenheit, wo es nützlich ist, den Zuschauer einen wichtigen Vorfall so lange zu verhehlen, bis er sich eräugnet, immer
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zehn und mehrere giebt, wo das Interesse gerade das Gegentheil erfordert. Der Dichter bewerkstelliget durch sein Geheimniß eine kurze Ueberraschung; und in welche anhaltende Unruhe hätte er uns stürzen können, wenn er uns kein Geheimniß daraus gemacht hätte! Wer in Einem Augenblicke getroffen und niedergeschlagen wird, den kann ich auch nur Einen Augenblick betauern. Aber wie steht es alsdenn mit mir, wenn ich den Schlag erwarte, wenn ich sehe, wie sich das Ungewitter über meinem oder eines andern Haupte zusammenziehet und lange Zeit darüber ver weilet? Lusignan weis nicht, daß er seine Kinder wiederfinden soll; der Zuschauer weis es auch nicht. Zaire und Nerestan wissen nicht, daß sie Geschwister sind; der Zuschauer weis es auch nicht. So pathetisch aber diese Erkennung ist, so weis ich doch ganz gewiß, ihre
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Wirkung würde noch weit grösser gewesen seyn, wenn der Zuschauer vorher einen Wink bekommen hätte. Was würde ich, bey der Zusammenkunft dieser vier Personen, nicht alles zu mir selbst gesagt haben! Mit welcher Erwartung, mit welcher Unruhe würde ich nicht jedes ihrer Worte angehöret haben! In welche Unbehäglichkeit würde mich nicht der Dichter versetzt haben! Itzt fliessen meine Thränen nur in dem Augenblicke der Erkennung; so würden sie schon lange vorher geflossen seyn. Wie verschieden ist das Interesse zwischen dieser Situation, wo ich von dem Geheimnisse nichts weis, und jener, wo ich alles weis, wo ich den Orosman, mit einem Dolche in der Hand, die Zaire erwarten, und diese Unglück liche dem Streiche entgegen kommen sehe? Welche Bewegungen würde der Zuschauer empfunden haben, wenn der Poet die Freyheit gehabt hätte, die völlige Wirkung, die dieser
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Augenblick haben konnte, zu nutzen? Wenn ihm unsere Bühne, die allen grossen Wirkungen zuwider ist, erlaubt hätte, Zairens Stimme im Finstern hören zu lassen, und sie nur ganz von weiten zu zeigen? In der Iphigenia zu Tauris weis der Zu schauer den Zustand der Personen. Man setze aber, daß er ihn nicht wüßte, und sehe, ob man das Interesse vermehrt oder vernichtet haben wird. Wenn ich nicht weis, daß Nero die Unterredung des Britannicus und der Junia mit anhört, so empfinde ich kein Schrecken mehr. Wenn Lusignan und seine Kinder sich nun erkannt haben, werden sie darum weniger interessant? Ganz und gar nicht. Aber was unterstützt und befestiget hier das Interesse? Gleich das, was der Sultan nicht weis, die Zuschauer aber gar wohl wissen. Meinetwegen mögen die Personen alle einander nicht kennen; wenn sie nur der Zuschauer alle kennt.
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Ja ich wollte fast behaupten, daß der Stoff, bey welchem die Verschweigungen nothwendig sind, ein undankbarer Stoff ist; daß der Plan, in welchem man seine Zuflucht zu ihnen nimmt, nicht so gut ist, als der, in welchem man sie hätte entübrigen können. Sie werden nie zu etwas Starkem Anlaß geben. Immer werden wir uns mit Vorbereitungen beschäftigen müssen, die entweder allzudunkel, oder allzudeutlich sind. Das ganze Gedichte wird ein Zusammenhang von kleinen Kunstgriffen werden, durch die man weiter nichts als eine kurze Ueberraschung hervorzubringen vermag. Ist hingegen alles, was die Personen angehet, bekannt: so sehe ich in dieser Voraussetzung die Quelle der allerheftigsten Bewegungen. Der griechische Dichter, der die Erkennung des Orest und der Iphigenia bis in die letzte Scene verschob, war ein Mann von Genie. Orest ist gegen den Altar gelehnet. Seine Schwester hat das heilige Messer schon
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gegen seine Brust ausgestreckt. Itzt soll er umkommen; aber er ruft: So war es nicht genug, daß die Schwester geopfert wurde? Muß es der Bruder auch werden? Und das ist der Augenblick, den mich der Dichter ganze fünf Anfzüge hindurch hat erwarten lassen. Das Drama mag seyn wie es will, so ist der Knoten bekannt. Denn er wird in Gegenwart der Zuschauer geschürzt. Oft verräth auch schon der Titel einer Tragödie die Entwickelung. Es ist ein historisches Factum; es ist der Tod des Cäsars; es ist die Opferung der Iphigenia. Allein mit der Komödie ist es anders. Und warum denn? Darf mir der Dichter von seinem Stoffe nicht so viel wissen lassen, als er für gut befindet? Ich wenigstens würde mir sehr viel darauf zu gute gethan haben, wenn ich in dem Hausvater (das aber alsdenn nicht mehr der Hausvater, sondern
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ein Stück mit einem andern Namen gewesen wäre) alle Verfolgungen des Commthurs gegen Sophien hätte zusammen bringen können. Um wie viel würde das Interesse nicht gewachsen seyn, wenn man gewußt hätte, daß das junge Mädchen, von der er so übel spricht, die er so hitzig verfolgt, die er will einschliessen lassen, seine eigene Nichte ist? Mit welcher Ungeduld würde man nicht den Augenblick der Erkennung erwartet haben, der in meinem Stücke nichts als eine geschwind überhingehende Ueberraschung hervorbringt? Es würde der triumphirende Augenblick einer Unglücklichen seyn, an deren Schicksale wir so viel Antheil genommen; es wird der beschämende Augenblick eines harten Mannes seyn, der sich uns so verhaßt gemacht hat. Warum ist die Ankunft des Pamphilus in der Hekyra weiter nichts, als ein gemeiner Zufall? Darum, weil es der Zuschauer nicht weis, daß seine Frau schwanger ist, daß sie es
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nicht von ihm ist, daß in dem nehmlichen Augenblicke, da er zurückkömmt, seine Frau entbunden wird. Warum haben gewisse Monologen eine so grosse Wirkung? Darum, weil sie mir die geheimen Anschlägen einer Personen vertrauen, und diese Vertraulichkeit mich den Augenblick mit Furcht der Hoffnung erfüllet. Wenn der Zustand der Personen unbekannt ist, so kann sich der Zuschauer für die Handlung nicht stärker interessiren, als die Personen. Das Interesse aber wird sich für den Zuschauer verdoppeln, wenn er Licht genug hat und es fühlet, daß Handlungen und Reden ganz anders seyn würden, wenn sich die Personen kennten. Alsdenn nur werde ich es kaum erwarten können, was aus ihnen werden wird, wenn ich das, was sie wirklich sind, mit dem, was sie thun oder thun wollen, vergleichen kann.#
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Der Zuschauer sey von allem unterrichtet, und die Personen mögen einander so unbekannt seyn, als es thulich ist; man mache mich nur immer mit dem Gegenwärtigen zufrieden, und auf das Folgende begierig; die eine Person erwecke in mir nur immer ein Verlangen nach der andern; ein Zufall bringe mich nur immer dem andern, der aus ihm entspringt, näher; eine Scene jage nur immer die andere; keine enthalte nichts, als was der Handlung wesentlich ist: und das Stück wird mich gewiß interessiren. Je mehr ich übrigens über die dramatische Dichtkunst nachdenke, desto ungehaltener werde ich gegen die, die davon geschrieben haben. Es ist ein Zusammenfluß besonderer Regeln, die man zu allgemeinen Vorschriften gemacht hat. Man hat wahrgenommen, daß gewisse Zwischenfälle grosse Wirkungen hervorbringen, und sogleich hat man dem Dichter die Nothwendigkeit aufgelegt, sich zur
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Erreichung eben derselben Wirkungen, eben derselben Mittel zu bedienen. Hätte man dafür die Sache genauer untersucht, so würde man gefunden haben, daß man noch weit grössere Wirkungen durch ganz entgegengesetzte Mittel hervorbringen könne. So aber ist die Kunst mit Regeln überhäuft worden, und die Verfasser, weil sie sich ihnen knechtisch unterworffen, haben sich nicht selten viel Mühe gegeben, es lange nicht so gut zu machen, als sie es sonst würden gemacht haben. Wenn man eingesehen hätte, daß, ob das Drama schon in der Absicht, vorgestellt zu werden, gemacht wird, gleichwohl der Verfasser und der Schauspieler den Zuschauer vergessen müsse; daß alles Interesse sich auf die Personen beziehen müsse: so würde man nicht so oft in den Lehrbüchern der Dichtkunst lesen, wenn du das und das thust, so wird bey deinem Zuschauer diese und diese Be wegung erfolgen. Vielmehr würde man
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darinn lesen: wenn du das und das thust, so wird es auf deine Personen diese und diese Wirkung haben. Die von der dramatischen Dichtkunst geschrieben haben, gleichen einem Menschen, der indem er auf Mittel sänne, wie er eine ganze Familie in Unruhe stürzen könne, diese Mittel nicht nach dieser Unruhe selbst, sondern nach dem abwägen wollte, was die Nachbarn davon sagen würden. O kümmert euch doch nicht um die Nachbaren; peiniget nur eure Personen recht, und seyd versichert, daß diese keinen Verdruß haben werden, an dem jene nicht Antheil nehmen! Wären andere Muster vorhanden gewesen, so würde man andere Regeln vorgeschrieben haben, und vielleicht hätte man gebothen: die Entwickelung sey bekannt, und sey es bey Zeiten; und der Zuschauer schwebe in der beständigen Erwartung des Strahls, der alle Per
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sonen in Ansehung ihrer Handlungen und ihrer Verhältnisse erleuchten wird. Ist es nothwendig, daß das Interesse gegen das Ende des Drama steiget: so scheinet mir dieses Mittel hierzu eben so dienlich, als das entgegengesetzte. Unwissenheit und Ungewißheit erregen und unterhalten die Neugierde des Zuschauers; hingegen müssen es bekannte und immer erwartete Dinge seyn, die ihn rühren und bewegen sollen. Und in dieser Absicht ist es gut, wenn man die Katastrophe beständig in Gedanken hat. Wenn der Dichter, anstatt einzig und allein unter seinen Personen zu bleiben, anstatt den Zuschauer so viel errathen zu lassen, als er kann, aus der Handlung herausspringt, und sich zu dem Zuschauer in das Parterr begiebt: so wird sein Plan leiden, so wird er den Mah lern gleich werden, die, anstatt sich einer strengen Nachahmung der Natur zu befleissigen, die Natur aus dem Gesichte verlieren, und
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sie nicht so, wie sie ist, und wie sie sie selbst sehen, zu zeigen, sondern vielmehr ihren technischen Bedürfnissen gemäß einzurichten suchen. Sind nicht alle Punkte des Raums verschiedentlich erleuchtet? Nimmt sich nicht einer vor dem andern aus? Stechen sie nicht alle eben so wohl in der dürren und wüsten Ebene, als in der mannigfaltigsten Landschaft hervor? Folget der Dichter dem Schlendrian des Mahlers, so wird es ihm mit seinem Drama nicht anders als diesem mit seinem Gemählde gehen. Hier werden einige schöne Stellen, und dort einige schöne Augenblicke seyn. Damit aber ist es nicht gethan; das Gemählde soll nach seinem ganzen Umfange, das Drama soll nach seiner ganzen Dauer schön seyn. Und was wird aus dem Schauspieler, wenn sich der Dichter mit dem Zuschauer abgegeben hat? Wird es der Schauspieler nicht füh
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len, daß das, was hier oder da stehet, nicht für ihn ersonnen worden? Der Dichter hat sich an den Zuschauer gewendet; er wird sich auch an ihn wenden. Der Dichter hat gewollt, daß man ihm klatschen soll; er wird auch wollen, daß man ihm klatschen soll; und wo endlich die Illusionen bleiben wird, weis ich nicht. Ich habe bemerkt, daß die Schauspieler alles das schlecht vorstellen, was der Dichter für den Zuschauer geschrieben hat; und hätte dieser seine Rolle mitgespielt, so würde er zu der Person gesagt haben: Mit wem sprichst du? Warum mit mir? Was gehen mich deine Händel an? Bleib für dich. Und hätte auch der Dichter seine Rolle mitgespielt, so würde er hinter der Scene hervorgekommen, und dem Parterre geantwortet haben: Verzeihen Sie, meine Herren, die Schuld ist meine: ein andermal wollen ich und er es besser machen.
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Man denke also, sowohl während dem Schreiben, als während dem Spielen, an den Zuschauer eben so wenig, als ob gar keiner da wäre. Man stelle sich an dem äussersten Rande der Bühne eine grosse Mauer vor, durch die das Parterr abgesondert wird. Man spiele, als ob der Vorhang nicht aufgezogen würde. Aber der Geitzige, der seine Cassette verloren hat, ruft gleichwohl den Zuschauern zu: Ist mein Dieb etwa unter euch, meine Herren? O man lasse doch diesen Verfasser in Ruhe! Die Ausschweiffung eines Mannes von Genie beweiset gegen die gesunde Vernunft nichts. Man sage mir nur, ist es möglich, daß man sich einen Augenblick an den Zuschauer wenden kann, ohne die Handlung aufzuhalten? Und sind nicht alle die kleinen Stellen, wo man auf ihn gesehen hat, eben so viel Ruhe
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punkte, die den Verlauf des Drama langsamer machen und hemmen? Ein verständiger Verfasser darf in seinem Werke gar wohl Züge anbringen, die der Zuschauer auf sich anwenden kann; er darf gar wohl im Schwange gehende Laster und Lächerlichkeiten anstechen; er darf gar wohl auf öffentliche Begebenheiten anspielen, und eben so wohl zu unterrichten, als zu gefallen suchen: nur muß alles das im Vorbeygehen, ohne Vorsatz geschehen. Sobald er seinen Zweck merken läßt, verfehlt er ihn; seine Personen hören auf zu reden, und er prediget. Das erste Stück des Plans, sagen die Kunst richter, ist die Exposition. In der Tragödie, wo das Factum bekannt ist, geschiehet die Exposition mit einem Worte. Wenn meine Tochter den Fuß nach Aulis setzt, so muß sie sterben. In der Komödie geschiehet sie, dürfte ich fast sagen, durch den Anschlagzettel. Wo ist z. E. im Tartüffe
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eine Exposition? Meinem Bedünken nach könnte man eben sowohl von dem Dichter verlangen, seine ersten Auftritte so einzurichten, daß sie einen kurzen Entwurf des ganzen Stückes enthielten. Alles was ich hiervon begreiffe, ist dieses, daß es einen gewissen Augenblick geben muß, da die dramatische Handlung anfängt; und hat der Dichter diesen Augenblick übel gewählt, so wird er der Katastrophe entweder zu nahe, oder zu weit von ihr entfernt seyn. Ist er ihr zunahe, so wird es ihm an Materie gebrechen, und vielleicht ist er gezwungen, seinen Stoff durch eine episodische Intrigue zu erweitern. Ist er zu weit entfernt, so wird der Verfolg schläfrig seyn, so werden feine Aufzüge lang und mit einer Menge Begebenheiten und Erzehlungen überhäuft seyn, die nicht im geringsten interessiren. Die Deutlichkeit will, man soll alles sagen. Die Dichtungsart will, man soll fort
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eilen. Wie aber kann man alles sagen und doch forteilen? Der Augenblick, den man zu dem ersten erwählt hat, sey der Inhalt der ersten Scene. Diesem wird der zweyte folgen, dem zweyten der dritte, und so wird der Aufzug fertig. Das wichtigste hierbey ist, daß die Handlung an Geschwindigkeit beständig wachsen und doch deutlich seyn muß: nur in diesem einzigen Stücke muß man an den Zuschauer denken. Und hieraus sieht man, daß die Exposition nicht anders als während dem Verlauffe des Stückes und nach Maaßgebung desselben geschehen kann, und daß der Zuschauer nicht eher alles weis und alles gesehen hat, als bis der Vorhang fällt. Je mehr Dinge bey dem ersten Augenblicke zu sagen übrig bleiben, desto mehr Materie hat man zu Ausführung der folgenden Aufzüge. Je schneller und reicher der Dichter ist, desto aufmerksamer wird er seyn müssen.
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Er kann sich nur bis auf einen gewissen Punkt an die Stelle des Zuschauers setzen. Seine Intrigue ist ihm so bekannt, daß er sich gar leicht für deutlich halten kann, wenn er sehr dunkel ist. Hiervon muß ihn sein Beurtheiler unterrichten; denn einen Beurtheiler muß der Dichter haben, wenn er auch noch so viel Genie besitzt. Glücklich ist er, mein Freund, wenn er einen findet, der aufrichtig ist, einen, der mehr Genie hat, als er selbst. Von ihm kann er lernen, daß die geringste Vergeßlichkeit hinreichend ist, alle Illusion zu vernichten; daß der kleinste übergangene oder falsch vorgestellte Umstand die Lüge verräth; daß das Drama für das Volk gehört, und daß man sich das Volk weder zu einfältig noch zu fein vorstellen muß. Man muß ihm alles erklären, was es erklärt haben will; aber auch nichts mehr. Es giebt Kleinigkeiten, die der Zuschauer gar nicht begierig ist zu hören, die er sich
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schon selbst erklären wird. Hat ein Zufall nur eine Ursache, und diese Ursache fällt nicht sogleich in die Augen: so ist es ein Räthsel, dessen Auflösung man verschweigt. Hat sich ein Zufall auf eine ganz einfältige, natürliche Art eräugnen können: so würde, ihn erklären, so viel seyn, als sich bey einem Umstande aufhalten, an dem unserer Neugierde nichts gelegen ist. Nichts ist schön, was keine Einheit hat; und der erste Augenblick wird die Colorite des ganzen Stücks bestimmen. Fängt man mit einer starken Situation an, so wird alles übrige von der nehmlichen Stärke seyn müssen, oder es wird uns matt dünken. Wie viel Stücke giebt es, die durch ihren Anfang verunglückt sind. Der Dichter hat sich gefürchtet kalt anzufangen, und hat daher so starke Situationen genommen, daß er die ersten Eindrücke, die er auf mich gemacht hat, nicht zu unterhalten im Stande ist.
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Wenn das Werk gut angelegt ist; wenn der Dichter seinen ersten Augenblick gut zu wählen gewußt hat; wenn er sogleich in die Mitte seiner Handlung eingedrungen ist; wenn er seine Charaktere gut gezeichnet hat: wie kann es ihm an Beyfall fehlen? Die Bestimmung der Charaktere aber, hangt von den Situationen ab. Der Plan eines Drama kann gemacht, und gut gemacht seyn, ohne daß der Dichter noch im geringsten weis, was für einen Charakter er seinen Personen geben will. Man siehet alle Tage, daß Leute von ganz verschiedenem Charakter einerley Zufällen ausgesetzt seyn können. Ein Vater, der seine Tochter opfert, kann ehrgeitzig, kann schwach, kann wild seyn. Einer, der sein Geld verloren hat, kann arm oder reich seyn. Einer, der um seine Geliebte besorgt ist, kann ein Bürger oder ein Held, kann zärtlich oder eifersüchtig, kann ein Prinz oder ein Bedienter seyn.
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Alsdenn sind die Charaktere gut getroffen, wenn die Situationen dadurch verwirrter und schwieriger werden. Man stelle sich vor, daß die vier und zwanzig Stunden, welche die Personen itzt zubringen, die allerunruhigsten und grausamsten Stunden ihres Lebens sind. Und also mache man sie ihnen auch so sauer, als möglich. Man lasse alle Situationen stark seyn; man setze sie den Charaktern entgegen; man setze Interesse dem Interesse entgegen. Keine Person müsse zu ihrem Zweck gelangen können, ohne den Absichten einer andern hinderlich zu seyn; eine einzige Begebenheit halte alle zugleich beschäftiget, aber jeder verlange diese Begebenheit anders, als der andere. Der wahre Contrast ist der, den die Charak tere mit den Situationen machen; ist der, den das Interesse mit dem Interesse macht. Muß Alcest verliebt seyn, so sey er es in eine Buhlerin; muß Horpagon verliebt seyn, so sey er es in ein armes Mädchen.
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Aber warum sollte man diesen zwey Arten von Contrast, nicht auch den Contrast der Charaktere beyfügen dürfen? Er ist ein so vortreffliches Hülfsmittel für den Dichter. Und zugleich ein so abgenutztes, als nur immer der Gebrauch der Mahler seyn kann, einen starken Vorgrund zu machen, damit die übrigen Gegenstände des Gemähldes besser zurückweichen. Ich verlange, daß die Charaktere verschieden seyn sollen; an ihrem Contraste aber, muß ich Ihnen gestehen, habe ich keinen Gefallen. Hören Sie meine Gründe, und urtheilen Sie. Vors erste bemerke ich, daß der Contrast in dem Style eine üble Wirkung thut. Wollen Sie, daß die größten, einfältigsten und edelsten Gedanken auf Nichts hinaus lauffen sollen, so dürffen Sie sie nur unter sich, oder im Ausdrucke contrastieren.
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Soll ein musikalisches Stück ohne Ausdruck, ohne Genie seyn, so dürffen Sie nur Contrast hineinbringen, und Sie werden weiter nichts als eine abwechselnde Folge von starken und sanften, von hohen und tiefen Tönen haben. Soll die Composition eines Gemähldes widerwertig und gezwungen seyn, so verachte man nur die Klugheit des Raphaels, und strapasiere, und contrastiere die Figuren. Die Baukunst liebet die Grösse und Einfalt. Ich will nicht sagen, daß sie den Contrast verwirft. Sie verstattet ihn gar nicht. Nun sagen Sie mir, warum der Contrast in allen Gattungen der Nachahmung ein so armseliges Ding ist, nur in der dramatischen Poesie nicht? Das sicherste Mittel aber, ein Drama zu verderben, und es jedem Manne von Geschmack unerträglich zu machen, wäre dieses, daß man die Contraste vervielfältigte.
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Ich weis nicht, was man von dem Haus vater urtheilen wird; ist er aber weiter nichts als schlimm, so würde ich ihn gewiß abscheulich gemacht haben, wenn ich den Commthur mit dem Hausvater, Germeuilen mit Cäcilien, Saint Albinen mit Sophien, und ihre Kammerfrau mit einem von den Bedienten in Contrast gebracht hätte. Urtheilen Sie, was aus diesen Antithesen kommen würde. Ich sage Antithesen, denn der Contrast der Cha raktere ist in dem Plane eines Drama nichts anders, als was diese Figur in der Rede ist. Es ist eine glückliche Figur, aber sie muß mit Mässigung gebraucht werden; und wer nur im geringsten einen erhabnen Ton hat, wird sich ihrer allezeit enthalten. Ist nicht eines von den wichtigsten und zugleich schwersten Stücken der dramatischen Kunst, die Verbergung der Kunst? Was aber verräth mehr Kunst, als der Contrast? Was scheinet ausstudierter? Was ist abgenutzter?
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Wo ist die Komödie, in der er nicht gebraucht wäre? Und wenn eine ungeduldige und hastige Person auf der Bühne erscheinet, steckt wohl in einem Winkel des Parterr ein so unerfahrner Schulknabe, der nicht zu sich selbst sagte: die gelassene und sanftmüthige Person wird nicht weit seyn? Aber hat die dramatische Gattung nicht dadurch schon unglücklicher Weise romanen haften Anstrichs genug, daß sie den gemeinen Lauf der Dinge nur in solchen Fällen nachahmen darf, wo es der Natur gefallen hat, ausserordentliche Begebenheiten zu combinieren, und muß zu diesem der Illusion so hinderlichen Anstriche, noch eine Wahl von Charakteren kommen, so wie sie sich fast niemals beysammen finden? Was kömmt in dem gemeinen Leben öftrer vor; Gesellschaften, wo die Charaktere verschieden, oder Gesellschaften, wo sie contrastiert sind? Für eine, wo sich der Contrast der Charaktere so abstechend zeigt, als ihn der
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komische Dichter verlangt, werden sich immer hundert tausend finden, wo sie weiter nichts als verschieden sind. Der Contrast der Charaktere hingegen mit ihren Situationen, und der mancherleyen Interesse unter sich, kömmt alle Augenblicke vor. Warum ist man darauf gefallen, einen Charakter mit dem andern zu contrastieren? Ohne Zweifel, damit einer von beiden desto mehr hervorstechen soll. Allein diese Wirkung läßt sich nur alsdenn erhalten, wenn diese Charaktere zugleich erscheinen. Und welche Monotonie in dem Gespräche entspringt daraus? Wie gezwungen wird der ganze Verlauf des Stücks? Wie kann ich die Begebenheiten natürlich verknüpfen, und die Auftritte in eine schickliche Folge bringen, wenn ich beständig mit der Nothwendigkeit beschäftiget bin, diese oder jene Person mit dieser oder jenen zusammen zu bringen? Wie oft wird es
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sich nicht eräugnen, daß der Contrast eine Scene verlangt, indem die Wahrheit der Fabel eine ganz andere erfordert? Sind übrigens die zwey contrastierten Personen mit gleicher Stärke gezeichnet, so werden sie den eigentlichen Gegenstand des Drama zweydeutig machen. Lassen Sie uns setzen, der Misanthrop wäre nicht angeschlagen worden, und man hätte ihn ohne Ankündigung gespielt: was würde daraus geworden seyn, wenn Philint seinen Charakter eben so behauptet hätte als Alcest. Würde der Zuschauer nicht haben fragen können, (wenigstens in der ersten Scene, wo sich die Hauptperson noch durch nichts unter scheidet) welchen von beiden man eigentlich spiele, den Philanthropen oder den Misanthropen? Und wie vermeidet man diese Unbequemlichkeit? Man opfert einen von den beiden Charakteren auf; den einen läßt man alles sagen, was er für sich sagen kann, und den
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andern macht man zu einem ungeschickten, albern Geck. Aber merkt der Zuschauer etwa diesen Fehler nicht, besonders wenn der laster hafte Charakter, so wie in dem angeführten Exempel, der Hauptcharakter ist? Die erste Scene des Misanthropen ist gleichwohl ein Meisterstück. Ja: allein es mache sich nur ein Mann von Genie darüber, und gebe dem Philint so viel kaltes Blut, so viel Standhaftigkeit, Beredsamkeit, Rechtschaffenheit, und Menschenliebe, so viel Nachsicht gegen die Fehler, und so viel Mitleiden mit den Schwachheiten seines Nächsten, als ein wahrer Freund des mensch lichen Geschlechts haben muß, und sogleich wird, ohne an den Reden des Alcest das geringste zu ändern, der Gegenstand des Stücks ungewiß werden. Warum aber ist er es nicht? Hat Alcest etwa Recht? Und hat Philint etwa Unrecht? O nein; sondern der eine vertheidiget seine Sache gut, und der andere schlecht.
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Wollen Sie sich, mein Freund, von der ganzen Stärke dieser Anmerkung überzeugen: so schlagen Sie die Brüder des Terenz auf. Sie werden da zwey contrastierte Väter finden, die beide mit gleicher Stärke gezeichnet sind; und können kühnlich dem feinsten Kunstrichter Trotz bieten, Ihnen die Hauptperson zu nennen, ob es Micion oder ob Demea ist? Fällt er sein Urtheil vor dem letzten Auftritte, so dürfte er leicht mit Erstaunen wahrnehmen, daß der, den er ganzer fünf Aufzüge hindurch für einen verständigen Mann gehalten hat, nichts als ein Narr ist, und daß der, den er für einen Narren gehalten hat, wohl gar der verständige Mann seyn könnte. Man sollte zu Anfange des fünften Aufzuges dieses Drama fast sagen, der Verfasser sey durch den beschwerlichen Contrast gezwungen worden, seinen Zweck fahren zu lassen, und das ganze Interesse des Stücks umzukehren. Was ist aber daraus geworden? Dieses, daß man
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gar nicht mehr weis, für wen man sich interessiren soll. Von Anfange her ist man für den Micion gegen den Demea gewesen, und am Ende ist man für keinen von beiden. Beynahe sollte man einen dritten Vater verlangen, der das Mittel zwischen diesen zwey Personen hielte und zeigte, worinn sie beide fehlten. Wenn man glaubt, daß ein Drama ohne contrastierte Personen, darum leichter ist, so betriegt man sich. Wenn der Dichter seine Rollen nur durch ihre Verschiedenheit kann geltend machen: so wird er sie desto stärker zeichnen, desto kräftiger colerieren müssen; so wird er, um nicht eben so frostig zu seyn, als ein Mahler, der weisse Gegenstände auf einen weissen Grund leget, seine Augen beständig auf die Verschiedenheit der Stände, des Alters, der Situationen und des Interesse haben müssen; so wird er, anstatt in der Nothwendigkeit zu seyn, den einen Charakter zu schwächen, um dem andern desto mehr Stärke zu
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geben, sich bemühen müssen, sie alle stark und kräftig zu machen. Je ernsthafter die Gattung ist, desto weniger scheinet sie mir den Contrast erlauben zu wollen. In der Tragödie ist er sehr selten. Wenn man ihn ja braucht, so braucht man ihn nur unter den Personen vom zweyten Range. Der Held stehet allein. Es ist kein Contrast im Britannicus; keiner in der Andromacha; keiner im Cinna; keiner in der Iphigenia; keiner in der Zaire; keiner im Tartüff. In den Komödien mit Charakteren ist der Contrast nicht nöthig. In den andern ist er weniger überflüßig. Corneille hat eine Tragödie gemacht, ich glaube, es ist Nicomedes, wo die Großmuth die herrschende Eigenschaft aller Personen ist: und welch Verdienst hat man ihm nicht aus dieser Fruchtbarkeit, und zwar mit allem Rechte, gemacht!
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Terenz contrastiert wenig. Plautus contrastiert noch weniger. Moliere öftrer. Aber wenn bey Molieren der Contrast oft das Hülfsmittel eines Mannes von Genie ist, muß man ihn deswegen auch andern Dichtern vorschreiben? Hätte man nicht vielmehr Ursache, eben deswegen sie davor zu warnen? Aber was wird aus dem Gespräche zwischen contrastierten Personen? Ein Zusammenfluß von kleinen Ideen und Antithesen; denn nothwendig müssen die Reden einander eben so entgegengesetzt seyn, als die Charaktere. Und nun frage ich Sie, mein Freund, und frage jeden Mann von Geschmack: ob ihnen das einfältige und natürliche Gespräch zweyer Personen, die ein verschiedenes Interesse, verschiedene Leidenschaften, ein verschiednes Alter haben, nicht weit besser gefallen würde? Ich kann den Contrast in der Epopee nicht leiden, er müßte denn unter Gesinnungen und Bildern seyn. Er mißfällt mir in der Tragödie.
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In dem ernsthaften Komischen ist er überflüßig. In der lustigen Komödie kann man ihn entbehren. Ich werde ihn also dem Possenspieler überlassen. Dieser mag ihn in seinem Werke so sehr vervielfältigen, so sehr übertreiben, als er nur will: es ist da nichts zu verderben. Fragt man mich aber, was jener Contrast der Gesinnungen oder Bilder ist, den ich in der Epopee, in der Ode und einigen andern Gattungen der höhern Poesie liebe, so antworte ich: daß es eines von den deutlichsten Kennzeichen des Genies ist; daß es die Kunst ist, die Seele mit ganz verschiedenen und widrigen Gesinnungen zu erfüllen, sie von entgegengesetzten Seiten zugleich zu erschüttern, und ein von Unlust und Vergnügen, von Widrigkeit und Anmuth, von Behäglichkeit und Schrecken vermischtes Gefühl in ihnen her vorzubringen.$ Diese Wirkung hat jene Stelle in der Ilias, $$$ wo mir der Dichter den Jupiter auf dem Ida
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zeiget; am Fusse des Berges würgen sich die Trojaner und Griechen, mitten in der Nacht, die er um sie verbreitet hat; doch sind die unachtsamen und heitern Blicke des Gottes gegen die unschuldigen Gefielde der Aethioper gewendet, die von der Milch leben. Und so gewährt er mir auf einmal den Anblick der Glückseeligkeit und des Elendes, des Friedens und der Unruhe, der Unschuld und des Lasters, des Schicksals der Menschen und der Grösse der Götter. Ich sehe an dem Fusse des Ida nichts als einen Hauffen Ameisen. Setzet eben derselbe Dichter für seine Kämpfer Preise auf, so sind es Waffen, ein Stier, der mit den Hörnern drohet, schöne Weiber und Stahl. Auch Lucrez hat es sehr wohl gewußt, wie kräftig das Schreckliche dem Wollüstigen entgegengesetzt werde, wenn er die zügellose Entzückung der Liebe, wie sie sich aller Sinne bemeistert, schildert, und die Vorstellung eines
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Löwen bey mir rege macht, der von einem tödlichen Pfeile getroffen, wüthend auf den Jäger, der ihn verwundet hat, stürzet, ihn niederreißt, nicht anders als auf ihm sterben will, und ihn ganz mit seinem eigenen Blute bedeckt läßt. In den vorzüglichsten Oden des Horaz und in den schönsten Liedern des Anakreon, stehet das Bild des Todes neben dem Gemählde des Vergnügens. Und konnte dem Catull die Zauberkraft dieses Contrasts unbekannt seyn, wenn er rief:
Vivamus, mea Lesbia, atque amemus,
Rumoresque senum severiorum
Omnes unius æstimemus assis.
Soles occidere & redire possunt;
Nobis cum semel occidit brevis lux,
Nox est perpetua una dormienda.
Da mihi basia mille — Und der Verfasser $$ der natürlichen Ge schichte, wenn er, nach der Schilderung eines jungen Thieres, das ruhig in den Wäldern wohnet, und durch ein plötzliches noch nie
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vernommenes Geräusch in Schrecken gesetzt wird, folgenden Gegensatz des Sanften und Erhabenen hinzufügt: Bleibt aber das Geräusch ohne Wirkung, so erkennet das Thier wieder die gewöhnliche Stille der Natur; es beruhiget sich, es hält ein, und verfügt sich mit gleichen Schritten wieder zu seinem ruhigen Lager. Und der Verfasser des Werks $$ über den Geist, wenn er sinnliche und wilde Ideen mit einander vermischt, und durch den Mund eines sterbenden Schwärmers ausruft: Ich sterbe, und ich fühle eine unglaubliche Süßigkeit im Sterben! Ich höre die Stimme des Odin, die mich ruft. Schon öffnen sich die Thore seines Pallasts. Halbnackte Jungfrauen treten aus ihnen hervor. Eine azurene Schärpe umgürtet ihre Lenden, und erhöhet die Weisse ihres Busens. Sie nahen sich, und rei
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chen mir ein liebliches Bier in dem blutigen Hirnschädel meiner Feinde.
Poussin hat eine Landschaft gemahlt, wo man junge Schäferinnen nach dem Schalle einer Feldschalmey tanzen siehet, in einem Winkel aber ein Grabmahl, mit der Ueberschrift erblickt: Auch ich lebte in dem glück lichen Arkadien. Diese Bezauberung des Styls, wovon hier die Rede ist, hängt manchmal von einem einzigen Worte ab, das meinen Blick von dem Hauptgegenstande ablenkt, und mir seitwerts, wie in dem Gemählde des Poussin, den Raum, die Zeit, das Leben, den Tod, oder eine andere grosse und melancholische Idee zeiget, die mitten unter die Bilder der Freude geworffen worden. Das sind die einzigen Contraste, die mir gefallen. Uebrigens giebt es unter den Cha rakteren drey Arten des Contrasts. Einen Contrast der Tugend, und einen Contrast des Lasters. Wenn eine Person geitzig ist, so kann
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eine andere mit ihr, entweder vermittelst der Sparsamkeit oder vermittelst der Verschwendung contrastieren; und sowohl der Contrast der Tugend, als der Contrast des Lasters, kann entweder wirklich oder nur verstellt seyn. Von dieser letzten Art wüßte ich kein Exempel: ich muß aber auch gestehen, daß ich das Theater wenig kenne. Mich dünkt, daß er in der lustigen Komödie keine unangenehme Wirkung haben müßte; aber nur einmal. Ein dergleichen Charakter wäre mit dem ersten Stücke abgenutzt. Ich möchte wohl so einen Menschen sehen, der von einem ganz entgegengesetzten Charakter als ein anderer, nicht wirklich wäre, sondern sich nur zu seyn stellte. Er würde ein Original seyn, dieser Charakter; ob er aber neu seyn würde, das weis ich nicht. Wir machen also den Schluß, daß es nur Eine Ursache giebt, die Charaktere zu contra
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stieren; und daß es weit mehr als eine giebt, sie bloß verschieden zu zeigen. Man lese aber auch die Lehrbücher der Dicht kunst, und man wird kein Wort von diesen Contrasten finden. Ich glaube also, es ist mit dieser Regel gegangen, wie mit vielen andern; man hat sie dem Werke eines Genies zu Folge gemacht, wo der Contrast eine grosse Wirkung gehabt hat, und sogleich hat man geschlossen: Hier ist der Contrast gut, folglich kann ohne Contrast nichts gut seyn. Das ist der meisten ihre Logik, die sich unterstanden haben, einer Kunst Schranken zu setzen, in der sie sich niemals geübt hatten. Das ist aller unerfahrnen Kunstrichter ihre Logik, die uns nach diesen Autoritäten beurtheilen. Ich weis nicht, mein Freund, ob nicht das Studium der Philosophie mich wieder zu sich zurückruffen wird, und ob der Hausvater mein letztes Drama seyn, oder nicht seyn wird. So viel aber weis ich, daß ich den
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Contrast der Charaktere gewiß in keinem brauchen würde. Ist der Entwurf gemacht und gefüllt; sind die Charaktere festgesetzt: so schreitet man zur Abtheilung der Aufzüge. Die Aufzüge sind die Theile des Drama; die Auftritte sind die Theile der Aufzüge. Der Aufzug ist ein Stück der totalen Handlung eines Drama, und enthält einen oder mehrere Vorfälle. Nachdem ich die einfachen Stücke den zusammengesetzten vorgezogen habe, würde es sehr seltsam seyn, wenn ich einen mit mehrern Vorfällen erfüllten Aufzug einem Aufzuge, der nur einen enthielte, vorziehen wollte. Man hat verlangt, die vornehmsten Personen sollen alle in dem ersten Aufzuge zum Vorschein kommen, oder doch genannt werden; die Ursache weis ich so recht nicht. Es giebt dramatische Handlungen, wo man
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weder das eine noch das andere thun müßte. Man hat verlangt, eben dieselbe Person soll in ebendemselben Aufzuge nicht mehr als einmal auf die Bühne kommen: und warum hat man das verlangt? Wenn er das, was er zu sagen kömmt, nicht damals sagen können, als er das erstemal auf der Bühne war; wenn das, was ihn zurückbringt, während seiner Abwesenheit vorgefallen ist; wenn er den, den er sucht, auf der Bühne zurückgelassen hat; wenn dieser wirklich da ist, oder, wenn er nicht da ist, er ihn nirgend anders zu finden weis; wenn ihn der Augenblick erheischt; wenn seine Zurückkunft das Interesse verstärkt; kurz, wenn er in der Handlung eben so natürlich wieder erscheinet, als es uns täglich im gemeinen Leben begegnet: so mag er nur immer wieder kommen, ich bin bereit, ihn zum zweyten und drittenmale zu sehen und zu hören. Der Kunstrichter mag Autoritäten an
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führen so viel als er will; genug, daß der Zu schauer meiner Meinung seyn wird. Man verlangt, daß die Aufzüge ungefehr von gleicher Länge seyn sollen. Weit vernünftiger wäre es, wenn man verlangte, daß ihre Dauer allezeit dem Umfange der darinn enthaltenen Handlung gemäß sey. Jeder Aufzug wird zu lang seyn, der leer an Handlung und überhäuft mit Reden ist; und jeder wird kurz genug seyn, dem es weder an Reden noch an Vorfällen fehlt, die den Zuschauer auf seine Dauer Acht zu geben, verhindern. Sollte man nicht sagen, man höre ein Drama, mit der Uhr in der Hand? Es kömmt aufs Empfinden an, und du zehlest die Seiten und Zeilen. Der erste Aufzug des Evnuchus hat nicht mehr als zwey Auftritte und eine kleine Monologe; und der letzte aufzug hat deren zehne. Beide aber sind gleich kurz, weil dem Zuschauer
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weder in dem einem noch in dem andern die Zeit zu lang geworden ist. Der erste Aufzug eines Drama ist vielleicht das schwerste Stück desselben. Er muß anspinnen; er muß fortrücken; oft muß er von diesem und jenen Licht geben; und immer muß er verbinden. Wenn dieses Lichtgeben, diese Exposition, nicht einem wichtigen Anlasse zu Folge geschieht, oder nicht etwas Wichtiges nach sich zieht, so wird der Aufzug frostig seyn. Man sehe, welcher Unterschied zwischen den ersten Aufzügen der Andria oder des Evnuchus, und dem ersten Aufzuge der Hekyra ist. Man nennet Zwischenaufzug, die Dauer, die einen Aufzug von dem folgenden trennet. Diese Dauer ist veränderlich; weil aber die Handlung nie still stehen darf, so muß die Bewegung, wenn sie auf der Bühne aufhört, hinter derselben fortdauern. Da muß keine Ruhe, kein Anhalten seyn. Wenn die Perso
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nen wieder zum Vorschein kämen, und die Handlung wäre, die Zeit ihrer Abwesenheit über, nicht weiter gerückt, so müßten sie alle geschlaffen haben, oder von andern Geschäften seyn abgehalten worden; zwey Voraussetzungen, die wo nicht der Wahrheit, doch dem Interesse entgegen sind. Der Dichter hat das Seinige gethan, wenn er mich in der Erwartung eines wichtigen Vorfalls läßt, und die Handlung, welche seinen Zwischenaufzug anfüllen soll, meine Neugierde reitzet und den vorläuffigen Eindruck stärket. Denn es sollen nicht verschiedene Bewegungen in der Seele erregt werden, sondern die, welche einmal darinn herrscht, soll erhalten werden, und ohne Unterlaß wachsen. Es ist ein Pfeil, den man von der Spitze bis an das andere Ende eindrücken soll: und diese Wirkung darf man sich von einem verwickelten Stücke nicht versprechen, wenn sich nicht wenigstens alle Zufälle auf eine einzige
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Person beziehen, wenn sie nicht alle diese einzige Person bestürmen, zerschmettern, zermalmen. Alsdenn befindet sich diese Person in einer wirklich dramatischen Situation. Sie seufzet und ist leidend; sie nur spricht, und die übrigen alle handeln. In den Zwischenaufzügen eräugnen sich beständig, und während dem Verlauffe des Stücks selbst eräugnen sich nicht selten Vorfälle, die der Dichter den Augen des Zu schauers entzieht, und die voraussetzen, daß sich seine Personen in dem Innern des Hauses darüber besprechen. Ich verlange eben nicht, daß er sich mit diesen Scenen so beschäftigen, und sie so aufs reine bringen soll, als ob ich sie hören sollte. Wenn er sich aber gleichwohl einen Entwurf davon machte, so würde er desto voller von seinem Stoffe und seinen Charakteren werden: und wollte er diesen Entwurf auch dem Schauspieler mittheilen, so würde er ihn dadurch desto besser in dem
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Geiste seiner Rolle und in der Hitze seiner Handlung unterhalten. Es ist dieses ein neuer Zuwachs von Arbeit, dem ich mich manchmal unterzogen habe. Zum Exempel wenn der verkehrte Commthur Germeuilen aufsucht, um ihn in seinen Anschlag, Sophien einschliessen zu lassen, mit zu verwickeln, und dadurch unglücklich zu machen: so dünkt mich, ich sehe ihn mit bedachtsamen Schritten, mit einem heuchlerisch freundlichen Gesichte, daher kommen, und höre ihn in einem einschmeichelnden und drolligten Tone, folgendes sagen:

Der Commthur

Germeuil, ich suchte dich.

Germeuil

Mich, Herr Commthur?

Der Commthur

Ja, dich, dich.

Germeuil

Das ist ja ganz was sel tenes.

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Der Commthur

Wohl wahr; aber einen Mann, wie Germeuil, muß man über lang oder kurz endlich doch suchen. Ich habe über deinen Charakter nachgedacht; ich habe alle die guten Dienste, die du dem Hause erwiesen hast, überlegt; und weil ich, wenn ich allein bin, manchmal mit mir selber rede, so habe ich mich unter andern auch gefragt: woher kömmt es doch immer und ewig, daß wir beiden Leute so einen Abscheu vor einander haben? Wir sind ja beides brave, rechtschaffene Leute. Und sieh, da habe ich entdeckt, daß die Schuld an mir liegt. Ich habe Unrecht; und eben itzt komm ich zu dir, dich zu bitten, das Vergangene zu vergessen. Ja, ja, dich zu bitten. Und wenn du willst, so wollen wir von nun an Freunde seyn.

Germeuil

Wenn ich will, mein Herr? Können Sie daran zweifeln?

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Der Commthur

Germeuil, wenn ich hasse, so hasse ich von Herzens Grunde.

Germeuil

Das weis ich.

Der Commthur

Wenn ich aber auch liebe, so liebe ich auch nicht anders, und das sollst du sehn.

Hier giebt der Commthur Germeuilen zu verstehen, daß ihm das Absehen, das er auf seine Nichte haben könne, nicht verborgen sey. Er billiget es, und bietet ihm seine Dienste an. —

Du suchst meine Nichte; das wirst du nicht leugnen, ich kenne dich. Doch dir hey ihr, und bey ihrem Vater das Wort zu reden, was brauche ich dazu dein Geständniß? Du wirst mich schon zu finden wissen, wenn es Zeit ist.

Germeuil kennt den Commthur zu wohl, als daß er nicht wissen sollte, wie viel er von seinem Anerbieten zu halten hätte. Er merkt gleich, daß diese verbindliche Vorrede eine

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Tücke ankündigen müsse, und sagt zu dem Commthur.

Germeuil

Und nun, Herr Comm- thur, was ist ihr Begehren?

Der Commthur

Vor allen Dingen, daß du mich für aufrichtig halten sollst, so wie ich es bin.

Germeuil

Das kann wohl seyn.

Der Commthur

Und hernach möchte ich auch gern überzeugt seyn, daß dir unsere Aussöhnung, und meine Freundschaft nicht gleichgültig ist.

Germeuil

Recht gern.

Nunmehr rückt der Commthur, nach einem kurzen Stillschweigen, so ganz, als ob ihm nichts darum wäre, mit der Frage heraus:

Du hast doch meinen Vetter gesehen?

Germeuil

Er ging eben aus.

Der Commthur

Du weißt nicht, was man spricht.

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Germeuil

Und was spricht man denn?

Der Commthur

Daß du ihn in seiner Thorheit bestärktest. Aber das ist falsch.

Germeuil

Gewiß falsch, mein Herr.

Der Commthur

Und du nimmst dich des kleinen Mädchens auch gar nicht an?

Germeuil

Gar nicht.

Der Commthur

Auf Ehre?

Germeuil

Wie ich sage.

Der Commthur

Und wenn ich dir den Antrag thäte, daß du mir helffen solltest, der ganzen Verwirrung auf einmal ein Ende zu machen, würdest du dich wohl dazu verstehen?

Germeuil

Ganz gewiß.

Der Commthur

Und ich könnte mich dir vertrauen?

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Germeuil

Wenn Sie es für gut be finden.

Der Commthur

Und du wolltest verschwiegen seyn?

Germeuil

Wenn Sie es verlangen.

Der Commthur

Germeuil — was könnte uns also hindern? — Kannst du mich nicht errathen?

Germeuil

Als ob man sie errathen könnte.

Der Commthur entdeckt ihm seinen Anschlag. Germeuil erkennet mit Einem Blicke die ganze Gefahr dieser Vertraulichkeit; er wird darüber unruhig. Er sucht den Commthur vergebens auf andere Wege zu bringen. Er führt ihm zu Gemüthe, wie unmenschlich es seyn würde, eine Unschuldige so zu verfolgen. $$$ [Kommentar: Darstellung im folgenden zu korrigieren, da Textpassus aus dem Stück] — Wo bleibt das Mitleid? Wo bleibt die Gerechtigkeit? — Das Mitleid? Auf das kömmts auch an. Die Gerechtigkeit
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aber, die verlangt es, daß man die Creaturen in Verwahrung bringen soll, die weiter zu nichts in der Welt nütze sind, als die Kinder zu verführen, und die Aeltern zu betrüben.
— — Und ihr Neffe? — Ha, anfangs wird es ihm ein wenig ärgern; aber wie lange wird es währen, so ist diese Grille von einer andern verdrengt? In zwey Tagen ist alles vorüber; und wir haben ihm einen wichti- gen Dienst geleistet. Und die gerichtlichen Befehle, die man dazu nöthig hat, glauben Sie, daß man die so leicht erhalten kann? — Meinen werde ich bald haben; und in einer oder zwey Stunden können wir an fangen. — Herr Commthur, wozu verleiten Sie mich? — Er beißt an; ich habe ihn. Dich meinem Bruder gefällig, und mich dir auf immer verbindlich zu machen. — Saint Albin — Nun gut, Saint Albin; Saint Albin ist dein Freund, aber er ist
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doch nicht Du. Sey du erst Du, erst Germeuil; und hernach die andern, wo möglich.
— Mein Herr — Adieu, ich will sehen, ob mein Verhaftbefehl schon gekommen ist. Ich bin gleich wieder bey dir. — Nur noch ein Wort, wenn es Ihnen gefällig ist. — Schon genug gehört. Schon genug gesagt. Mein Vermögen und meine Nichte. Der Commthur, der voller Freuden ist, und sie kaum verbergen kann, macht sich geschwind davon. Er glaubt Germeuilen verstrickt, und ohne Hülfe verloren. Er fürchtet, ihm Zeit zur Reue zu lassen. Germeuil ruft ihn zurück, aber er geht immer seinen Gang, und dreht sich nur noch einmal um, ihm von weiten zuzuruffen: Mein Vermögen und meine Nichte. Ich müßte mich sehr irren, oder die Nützlichkeit solcher entworffnen Scenen wird den
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Verfasser wegen der geringen Mühe, die er damit gehabt hat, Schadlos halten. Wenn der Dichter seinen Stoff gut durchgedacht, und seine Handlung wohl zertheilt hat, so wird er jedem von seinen Aufzügen einen besondern Namen geben können: und so wie man in dem Epischen Gedichte sagt, die Herabsteigung zur Hölle, die Leichenspiele, die Zählung des Heeres, die Erscheinung des Geistes, so würde man auch in dem dramatischen Gedichte sagen können, der Aufzug des Argwohns, der Aufzug der Wuth, der Aufzug der Erkennung oder des Opfers. Ich wundere mich sehr, daß die Alten nicht darauf gefallen sind; es würde vollkommen in ihrem Geschmacke gewesen seyn. Wenn sie ihren Aufzügen Namen gegeben hätten, so würden sie den Neuern einen Dienst gethan haben; denn diese würden ihnen hierinn nachgeahmet haben, und wenn der Charakter des Aufzuges bestimmt gewesen wäre, so hätte sich der
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Dichter anstrengen müssen, ihm Genüge zu leisten. Hat der Dichter seinen Personen die schicklichsten, das ist solche Charaktere gegeben, die mit ihren Situationen am meisten streiten, so wird er sich unfehlbar, wenn er nur ein wenig Einbildungskraft besitzt, gewisse Bilder davon machen. Es begegnet uns dieses alle Tage, in Ansehung solcher Personen, von welchen wir viel reden hören. Ich kann nicht sagen, ob sich zwischen den Physiognomieen und den Handlungen irgend eine Analogie findet; aber das weis ich, so bald uns Leidenschaften, Reden und Handlungen bekannt werden, so gleich bilden wir uns ein Gesicht dabey ein, dem wir sie beylegen; Und wenn es sich zuträgt, daß wir den Menchen, dem es angeht, wirklich zu sehen bekommen, und er dem Bilde nicht ähnlich ist, das wir uns von ihm gemacht haben, so möchten wir lieber gar zu ihm sagen, daß wir ihn
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nicht dafür erkennen, ob wir ihn gleich niemals gesehn haben. Jeder Mahler, jeder dramatische Dichter, wird sich auf die Physiognomie verstehen. Und diese Bilder, die man sich den Cha rakteren zu Folge gemacht hat, werden auch auf die Reden und auf die Bewegung der Scene einen Einfluß haben, besonders wenn sie der Dichter sehr lebhaft denkt, beständig vor Augen behält, und auf alle ihre Veränderungen Acht hat. Ich wenigstens kann mir nicht vorstellen, wie der Dichter eine Scene anfangen kann, wenn er sich nicht die Action und Bewegung der Person, die er darinn einführt, vorstellet; wenn ihm ihr Gang, ihre Tracht nicht vor Augen schwebt. Dieses Bildniß muß ihm das erste Wort eingeben; und das erste Wort giebt das Uebrige. Wenn dem Dichter diese eingebildeten Physiognomieen gleich zu Anfange nützlich seyn
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können: wie viele Vortheile wird er nicht vollends aus den geschwinden und überhingehenden Eindrücken ziehen können, nach welchen sich diese Physiognomieen in dem Verlauffe des ganzen Stückes, ja auch oft in dem Verlauffe einer einzigen Scene, abändern? — Du entfärbst dich — Du zitterst. — Du hintergehst mich. — Spricht man im gemeinen Leben mit jemand, so merkt man genau auf ihn, und sucht aus seinen Augen, aus seinen Bewegungen, aus seinen Zügen, aus seiner Stimme, was in dem Innersten seines Herzens vorgehet, zu errathen. Aber selten geschieht das auf dem Theater. Und warum? Ohne Zweifel, weil wir noch weit von der Wahrheit entfernt sind. Nothwendig muß die Person feurig und pathetisch seyn, die sich die gegenwärtige Situation ihrer Nebenpersonen zu Nutze machen kann.
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Man gebe seinen Personen eine gewisse Physiognomie, aber nie die Physiognomie der Schauspieler. Der Schauspieler muß sich nach der Rolle, und nicht die Rolle nach dem Schauspieler bequemen. Man lasse ja nie von sich sagen, daß man, anstatt seine Cha raktere in den Situationen zu suchen, seine Situationen nach dem Charakter und der Fähigkeit des Schauspielers eingerichtet habe. Müssen Sie nicht erstaunen, mein Freund, daß sich unsere Vorfahren manchmal zu dieser Schwachheit haben verleiten lassen? Nur dann krönte man den Dichter und den Komö dianten. Und war ein Acteur bey der Bande, an dem das Publicum einen besondern Wohlgefallen hatte, so schaltete der gefällige Dichter seinem Drama eine Episode ein, die es zwar gemeiniglich verdarb, aber doch den geliebten Acteur auf die Bühne brachte. Zusammengesetzte Auftritte, heisse ich solche Auftritte, in welchen zu gleicher Zeit ei
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nige Personen mit dieser, und andere, entweder mit einer andern Sache, oder zwar auch mit ebenderselben, aber doch vor sich ins besondere, beschäftiget sind. In einem einfachen Auftritte läuft das Gespräch ohne Unterbrechung fort. Die zusammengesetzten Auftritte sind entweder ganz Gespräch, oder Pantomime und Gespräch, oder ganz Pantomime. Sind sie Pantomime und Gespräch, so füllet die Rede die Intervallen der Pantomime, und es läuft alles ordentlich. Allein es gehöret Kunst dazu, sich diese Intervalle aus zusparen. Hiervon habe ich einen Versuch gemacht in dem ersten Auftritte des zweyten Aufzuges im Hausvater; und in dem vierten Auftritte des nehmlichen Aufzuges hätte ich diesen Versuch abermals machen können. Frau Hebert, die da eine pantomimische und stumme Person ist, hätte von Zeit zu Zeit einige Worte
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können einfliessen lassen, die der Wirkung gar nicht geschadet haben dürften; allein diese Worte zu finden, war nichts leichtes. Eben so würde es mit der Scene im vierten Aufzuge gewesen seyn, wo Saint Albin seine Geliebte, in Gegenwart des Germeuil und der Cäcilia, wiedersieht. Hier hätte ein gechickterer als ich, zwey zugleich fortlaufende Scenen angebracht; die eine vorne auf der Bühne zwischen Saint Albin und Sophien; die andere zu hinterst, zwischen Cäcilien und Germeuil, die in diesem Augenblicke vielleicht schwerer zu schildern waren als jene: doch verständige Schau<s>fpieler werden diese Scene schon zu schaffen wissen. Wie viel Gemälde wüßte ich noch aufzustellen, wenn ich nur dürfte, oder vielmehr, wenn ich bey der Gabe sie zu erfinden, auch die Geschicklichkeit sie auszuführen besässe! Es ist dem Dichter schwer, diese mit einander lauffenden Scenen zugleich auf einmal zu
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schreiben: da sie aber ganz verschiedene Gegenstände haben, so kann er sich anfangs mit der vornehmsten von ihnen beschäftigen. Ich nenne die vornehmste die, welche die Aufmerksamkeit des Zuschauers am meisten auf sich ziehen soll, sie mag Gespräch oder Pantomime seyn. Ich habe die zwey mit einander lauffenden Scenen der Cäcilia und des Hausvaters, welche den zweyten Aufzug anfangen, so abzusondern gesucht, daß man sie auf zwey Seiten, einander gegenüber, drucken könnte, da man denn deutlich sehen würde, wie sich Gespräch und Pantomime wechselsweise auf einander beziehen. Diese Theilung würde für die Leser sehr bequem seyn, und besonders für solche, die der Vermischung der Reden und der Bewegungen nicht sonderlich gewohnt sind. Es giebt eine Art episodischer Scenen, wovon wir wenig Beyspiele bey unsern Dichtern
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finden, die mir aber sehr natürlich scheinen. Sie bestehen aus Personen, dergleichen es in der Welt und in den Familien sehr viele giebt, die sich überall ungeruffen eindrengen; und, es sey aus guter oder aus böser Meinung, aus Eigennutz oder aus Neugierde, oder aus sonst einem Grunde, sich in unsere Händel mischen, und sie, wider unsern Willen, entweder schlichten oder noch mehr verwirren. Solche Scenen, wohl angebracht, würden das Interesse gar nicht hemmen, und die Hand lung, anstatt aufzuhalten, vielmehr beschleinigen. Man könnte diesen episodischen Personen einen Charakter geben, welchen man wollte; es würde sogar nicht schaden, wenn man sie contrastierte. Denn sie bleiben zu kurze Zeit, als daß sie ermüden könnten; und würden gleichwohl den Charakter, dem man sie entgegen setzte, heben helffen. Von der Art ist Frau Pernelle im Tartüffe und Antiphon im Evnuchus. Antiphon läuft dem Chärea
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nach, der die Besorgung eines Schmauses über sich genommen hatte; er trift ihn als einen Verschnittenen verkleidet, da er eben aus dem Hause der Buhlerin herauskömmt, und gar zu gern einen Freund antreffen möchte, gegen den er die bübische Freunde, mit der seine ganze Seele erfüllt ist, auslassen könnte. Nichts kann also natürlicher, nichts ihm gelegener seyn, als diese Erscheinung des Antiphon. Nach dieser Scene bekömmt man ihn auch nicht wieder zu sehen. Wir können unsere Zuflucht zu diesen Personen um so viel eher nehmen, da uns die Chöre mangeln, die in den alten Schauspielen das Volk vorstellten, und unsere Stücke meistentheils in dem Innersten unsrer Häuser spielen, wo ihnen, so zu reden, der Grund fehlt, auf welchen sie projectiert werden könnten. Jeder Charakter hat, in dem Schauspiele sowohl als in der Welt, seinen eigenen Ton.
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Die Niederträchtigkeit, die boshafte Hetzerey, das gute ehrliche Herz, haben gemeiniglich einen bürgerlichen und alttäglichen Ton. Es ist ein grosser Unterschied zwischen dem Spasse auf dem Theater und dem Spasse im gemeinen Leben. Dieser würde auf der Bühne viel zu schwach, und ohne Wirkung seyn. Jener würde im gemeinen Leben allzuhart seyn, und beleidigen. Die cynische Freymüthigkeit, die im gemeinen Leben so verhaßt und unerträglich ist, ist auf der Bühne vor trefflich. Ein anderes ist die Wahrheit in der Poesie, ein anderes in der Philosophie. Um wahr zu seyn, muß der Philosoph seine Rede mit der Natur der Gegenstände übereinstimmend machen; der Dichter, mit der Natur seiner Charaktere. Den Leidenschaften und dem Interesse gemäß schildern, muß seine vorzügliche Geschicklichkeit seyn.
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Daher ist er alle Augenblicke genöthiget, die allerheiligsten Dinge mit Füßen zu treten, und die abscheulichsten Handlungen heraus zu streichen. Für den Dichter ist nichts heilig; nicht einmal die Tugend; auch die wird er lächer lich machen, sobald es die Person und der Augenblick erfordern. Er ist weder gottlos, wenn er ergrimmte Blicke gen Himmel kehret, und in seiner Wuth wider die Götter redet; noch fromm, wenn er sich vor ihre Altäre niederwirft, und ein demüthiges Gebet an sie ergehen läßt. Er hat einen Bösewicht eingeführt: aber dieser Bösewicht ist uns verhaßt; seine grossen Eigenschaften, wenn er dergleichen hat, haben uns gegen seine Fehler nicht verblendet; wir haben ihn nie gesehen, wir haben ihn nie gehört, ohne ihn zu verabscheuen, ohne seines Schicksals wegen zu erzittern.
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Warum will man den Verfaßer in seinen Personen suchen? Was hat Racine mit der Athalie, was hat Moliere mit dem Tartüff gemein? Es sind Männer von Genie, die die verstecktesten Falten des menschlichen Herzens durchsucht, und da alles das gefunden haben, was in ihren Werken wahr und rührend ist. Ihre Gedichte wollen wir beurtheilen, und um ihre Personen uns unbekümmert lassen. Weder ich noch Sie, werden den lebenden, denkenden, handelnden und unter seines gleichen sich umherbewegenden Menschen, mit dem enthusiastischen Menschen verwechseln, der die Feder, oder den Meissel, oder den Pinsel ergreift, oder die Bühne besteigt. So lang er ausser sich ist, ist er alles, was ihn die Kunst, von der er begeistert wird, will seyn lassen. Aber sind die Augenblicke der Begeisterung vorüber, so kehret er wieder in sich hinein, so wird er wieder was er war,
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und nicht selten ein ganz gemeiner Mensch. Denn hierinn unterscheidet sich der Witz von dem Genie; der Witz ist fast immer gegenwärtig; aber das Genie oft abwesend. Man muß eine Scene nicht als ein Gespräch betrachten. Ein witziger Kopf wird sich leicht aus einem einzelnen Gespräche wickeln. Eine Scene hingegen ist allezeit das Werk des Genies. Jede Scene hat ihre Bewegung und ihre Dauer. Die wahre Bewegung läßt sich ohne Anstrengung der Einbildungskraft, und das eigentliche Maaß der Dauer, ohne Erfahrung und Geschmack nicht finden. Diese so schwere Kunst des dramatischen Gesprächs, hat vielleicht niemand in einem so hohen Grade beseßen, als Corneille. Seine Personen setzen einander rechtschaffen zu; sie parieren und stossen zu gleicher Zeit; es sind wirkliche Ringer. Die Antwort bleibt nicht an dem letzten Worte der vorhergehenden
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Rede hangen, sondern gehet auf die Sache, auf den Grund der Sache. Man bleibe stehen, wo man will: derjenige der zuletzt spricht, wird immer Recht zu haben scheinen. Als ich den schönen Wissenschaften noch gänzlich oblag, und den Corneille las, machte ich oft mitten in einem Auftritte das Buch zu, und dachte selbst auf die Antwort. Ich brauche es wohl nicht zu sagen, daß meistentheils alle meine Anstrengung zu weiter nichts diente, als mich über die Logik und über den Kopf des Dichters in Erstaunen zu setzen. Ich könnte tausend Beyspiele davon anführen; unter andern aber erinnere ich mich itzt eines, das aus dem Cinna genommen ist. Aemilia hat den Cinna so weit gebracht, daß er den Augustus ermorden will. Cinna hat sich dazu anheischig gemacht; er geht. Allein mit eben dem Dolche, mit dem er sie wird gerächet haben, will er sich selbst durchstossen. Aemilia bleibt mit ihrer Vertrauten zurück.
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In ihrer Verwirrung ruft sie: Eile ihm nach, Fulvia — — Was soll ich ihm sagen? — Sage ihm — daß er sein Wort erfülle, und dann — was er wolle, mich oder den Tod wähle. Und so beobachtet er den Cha rakter; so weis er der Hoheit einer römischen Seele, der Rache, dem Ehrgeitze, der Liebe, mit Einem Worte Genüge zu thun. Alle Scenen des Cinna, des Maximus, und des Augustus sind unbegreiflich. Leute unterdessen, die sich eines feinern Ge schmacks bestreben, behaupten, daß diese Art zu dialogieren zu schwerfällig sey; daß sie zu viel Declamatorisches habe, und mehr in Erstaunen setze, als bewege. Sie wollen lieber Auftritte haben, wo man sich so scharf nicht unterhält; Auftritte, in welchen mehr Empfindung als Dialektik herrschet. Man kann sich leicht einbilden, daß diese Leute in den Racine vernarrt sind; und ich muß nur gestehen, daß ich es auch bin.
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Ich wüßte nichts schwerers als ein Gespräch, wo alles, was gesagt und geantwortet wird, durch so feine Empfindungen, durch so flüchtige Gedanken, durch so schnelle Bewegungen der Seele, durch so unmerkliche Beziehungen verbunden ist, daß es ganz ohne Verbindung, und besonders für diejenigen ohne Verbindung zu seyn scheinet, die nicht dazu gemacht sind, in den nehmlichen Umständen das Nehmliche zu empfinden. — Sie werden sich nie wiedersehen. Sie werden sich ewig lieben — Du wirst dabey seyn, meine Tochter. Und die Rede der wahnwitzigen Clementine: Meine Mutter war eine gute Mutter. Aber sie ist fortgegangen; oder ich bin fortgegangen. Ich weis selbst nicht. — Und der Abschied des Barnevel von seinem Freunde.

Barnevel

Du glaubst nicht, wie rasend ich für sie eingenommen war! — Wie sehr
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der Affect alle gute Empfindung in mir erstickt hatte! — Glaub mir — wenn sie mir befohlen hätte, dich umzubringen, dich! — — ich weis nicht, ob ich es nicht gethan hätte.

Der Freund

Liebster Freund, vergrößre deine Schwachheit doch nicht so sehr.

Barnevel

Ja, ich glaube gewiß, — ich hätte dich umgebracht.

Der Freund

Wir haben uns noch nicht umarmt. Komm —

Wir haben uns noch nicht umarmt: welch eine Antwort auf: ich hätte dich um gebracht. Wenn ich einen Sohn hätte, der hier die Verbindung nicht fühlte, so wollte ich lieber, daß er nicht gebohren wäre. Ganz gewiß; ich würde ihn ärger verabscheuen, als Barneveln, wenn er seinen alten Vetter umbringt Und der ganze Auftritt der wahnwitzigen Phädra.
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Und die ganze Episode dern Clementine. Unter den Leidenschaften sind diejenigen, die man sich am leichtesten zu haben stellen kann, auch die leichtesten zu schildern. Dahin gehöret die Großmuth; die überall etwas Erlogenes und Uebertriebenes verträgt. Wenn man seine Seele zu der Höhe der Seele eines Cato schraubet, so läßt sich ein erhabener Gedanke wohl noch finden. Aber der Dichter, bey dem Phädra sagt:
O würf ich mich doch jetzt im Busch auf Rasen nieder! —
Ihr Götter! wann verfolgt mein Blick den Wagen wieder,
Der durch die Rennbahn fleucht, in edeln Staub gehüllt? dieser Dichter selbst hat sich diese Stelle nicht eher versprechen können, als bis er sie gefunden hatte; und ich bilde mir mehr darauf ein, daß ich ihre Schönheit einsehe, als
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ich mir Zeit Lebens auf irgend etwas von meiner eigenen Arbeit einbilden werde. Wie man mit vieler Arbeit eine Scene machen kann, wie sie Corneille gemacht hat, ohne selbst ein Corneille zu seyn, das kann ich begreiffen: aber nie habe ich es begreiffen können, wie man eine Racinische Scene machen kann, ohne selbst ein Racine zu seyn. Moliere ist öfters unnachahmlich. Er hat Scenen von vier bis fünf Personen, die aus lauter einsylbigten Wörtern bestehen, und wo jede Person nur ein einziges solches Wort sagt; allein dieses Wort ist ihrem Charakter gemäß, und schildert ihn. Es giebt in seinen gelehrten Frauenzimmern Stellen, worüber einem die Feder aus der Hand fällt. Hat man ein wenig Genie, so verschwindet es da. Man bleibt ganze Tage, ohne das geringste zu machen. Man mißfällt sich selber. Der Muth kömmt nicht eher nach und nach wieder, als bis man das Gelesene nach und nach
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vergißt, bis sich der Eindruck, den es auf uns gemacht hat, nach und nach verlieret. Auch so gar da, wo es diesem wunderbaren Mann nicht gelegen war, sein ganzes Genie zu zeigen, läßt es sich spüren. Elmire würde sich dem Tartüff auf die plumpste Art antragen, und Tartüff würde ein Dummkopf scheinen, der sich in die augenscheinlichste Falle locken liesse, wenn Moliere dem nicht vorzubeugen gewußt hätte. Und man sehe nur, wie. Elmire hat die Erklärung des Tartüff ohne Unwillen angehört. Sie hat ihrem Sohne Stillschweigen auferlegt. Sie macht die Anmerkung, daß ein verliebter Mensch leicht zu verführen sey. Und auf diese Weise betriegt der Dichter den Zuschauer, und bereitet sich eine Scene, die, ohne diese Vorsicht, weit mehr Kunst erfordert hätte, als er so dabey angewendet hat. Aber wenn Dorine, in eben demselben Stücke, mehr Witz, mehr Ver stand, feinere Begriffe, und sogar edlere Aus
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drücke hat, als ihre Herrschaft insgesammt: wenn sie sagt:
Sie mögen allzugern durch eines andern That,
Die gleichen Aussenschein, die gleichen Anstrich hat,
Ihr Thun beschönigen, ihr Unternehmen schmücken;
Sie wollen, durch den Schein der Gleichheit, ihre Tücken
Zu Tugenden erhöhn; auch wollen sie der Welt
Gerechten Tadel, der gleich Pfeilen auf sie fällt,
Zum Theil von ihrem Haupt auf andre wälzen — — so werde ich nimmermehr eine Magd zu hören glauben. Terenz ist besonders in seinen Erzehlungen unvergleichlich. Es ist ein reines und helles Wasser, das immer einerley fortrinnt, im
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mer mit der nehmlichen Geschwindigkeit, immer mit dem nehmlichen Geräusche, als es sein Abschuß und sein Boden veranlassen. Kein Witz, keine ausgekramte Gesinnungen, keine epigrammatische Sentenz, keine von den Erklärungen, die sich eher in die moralischen Werke eines Nicole oder Rochefaucauld schicken. Wenn er einen allgemeinen Lehrsatz einfliessen läßt, so geschicht es auf eine sehr einfältige und gemeine Art; man sollte glauben, er führe weiter nichts, als ein bekanntes Sprüchwort an; weiter nichts, als was sich unmittelbar aus seinem Stoffe ergebe. Heut zu Tage sind wir so lehrreiche Schwätzer geworden, daß uns eine Menge Scenen des Terenz nicht anders als leer vorkommen können. Ich habe diesen Dichter mehr als einmal mit der größten Aufmerksamkeit gelesen, und nie eine überflüßige Scene, nie das geringste Ueberflüßige in irgend einer Scene, gefunden.
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Es wäre denn, daß man die erste Scene des zweyten Aufzuges im Evnuchus angreiffen wollte. Thraso hat der Buhlerin Thais ein junges Mädchen geschenkt. Der Schmaruzer Gnatho soll sie ihr bringen. Indem er sie hinführt, hält er gegen die Zuschauer eine sehr angenehme Lobrede auf seine Profession. Aber schickte sich das itzt? Wenn noch Gnatho das junge Mädchen, das er führen soll, auf der Bühne erwartete: so möchte er mittlerweile plaudern, was er wollte; ich würde nichts dawider haben. Terenz giebt sich eben nicht viel Mühe die Scenen zu verbinden. Er läßt das Theater wohl dreymal hinter einander leer; und das mißfällt mir, besonders in den letzten Aufzügen, ganz und gar nicht. Diese Personen, die einander ablösen, und gleichsam nur im Vorbeygehen ein Paar Worte fallen lassen, scheinen eine grosse Verwirrung anzuzeigen.
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Kurze, schnelle, einzelne, theils gesprochene, theils pantomimische Scenen, würden in der Tragödie, wie mich dünkt, von noch größrer Wirkung seyn. Zu Anfange eines Stücks wäre nur zu befürchten, daß sie der Hand lung gar zu viel Geschwindigkeit ertheilen, und dadurch Dunkelheiten veranlassen dürften. Je verwickelter der Stoff ist, desto leichter ist das Gespräch. Die vielen Vorfälle geben jeder Scene ihren besondern und bestimmten Inhalt. Ist hingegen das Stück einfach, und muß ein einziger Vorfall verschiedene Scenen füllen, so bleibt für jede insbesondere der Inhalt unbestimmt. Einen gemeinen Verfasser setzt das in Verlegenheit; aber einem Mann von Genie schaft es desto mehr Anlaß, sich zu zeigen. Je feiner die Faden sind, welche die Scene mit dem Stoffe verbinden, desto mehr Mühe hat der Dichter. Man gebe eine von solchen unbestimmten Scenen hundert Personen; jede
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wird sie auf eine andere Art ausführen; und doch kann nur eine die beste seyn. Gemeine Leser schätzen die Fähigkeit eines Dichters nach den Stellen, die sie am meisten rühren. Ueber die Rede eines Rebellen an seine Mitverschworene, über eine Erkennung, und dergleichen, schreyen sie Wunder. Sie dürffen aber den Dichter wegen seines Werks nur selbst befragen, und sie werden bald hören, daß sie die Stelle, zu der er sich am meisten Glück wünscht, unbemerkt gelassen haben. Die Scenen des natürlichen Sohnes sind fast alle von dem Schlage derjenigen, deren unbestimmter Inhalt den Dichter in Verlegenheit setzen kann. Der mit sich selbst unzufriedene Dorval, der das Innerste seiner Seele gegen seinen Freund, gegen Rosalien, gegen Theresien verbirgt; Rosalia und Theresia, die fast in eben derselben Verfassung sind, konnten in der Ausführung fast nicht
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die geringste Stelle veranlassen, die nicht weit besser, oder weit schlechter hätte behandelt werden können. In dem Hausvater sind dergleichen Scenen seltner, weil ungleich mehr Bewegung darinn ist. Es giebt in der Dichtkunst wenig allgemeine Regeln. Von einer unterdessen wüßte ich doch nicht, daß sie eine Ausnahme litte. Von dieser nehmlich, daß die Monologe für die Handlung ein Augenblick der Ruhe, und für die Person ein Augenblick der Unruhe ist. Das ist sogar auch von der Monologe wahr, die ein Stück anfängt. Ist sie eines gelassenen Inhalts, so ist sie wider die Wahrheit; denn der Mensch spricht nur in den Augenblicken der Verwirrung mit sich selbst. Ist sie lang, so sündiget sie wider die Natur der dramatischen Handlung, die sie allzusehr auf hält.
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Ich kann weder die Carricaturen ins Schö ne, noch die Carricaturen ins Häßliche vertragen; denn das Gute und das Schlimme kann gleich sehr übertrieben werden; und wenn uns der eine von diesen Fehlern weniger mißfällt als der andere, so kömmt es von unserer Eitelkeit her. Man will, daß auf der Bühne die Charak tere sich gleich bleiben sollen. Diese falsche Forderung läßt sich nur durch die kurze Dauer des Drama rechtfertigen; denn wie viele Umstände eräugnen sich nicht in dem Leben, die einen Menschen von seinem Charakter abbringen? Das Schwache ist der Gegensatz des Uebertriebenen. Pamphilus in der Andria dünkt mich schwach. Davus hat ihn verleitet, in eine Heyrath zu willigen, die er verabscheuet. Seine Geliebte kömmt nieder. Er hat hundert Ursachen, verdrüßlich zu seyn. Gleichwohl nimmt er alles ganz sanftmüthig auf.
|| [0411.01]
So ist sein Freund Charinus nicht; so ist auch Clinia in dem Heavtontimorumenos nicht. Dieser kömmt von ferne her, und indem er noch seine Reisekleider ablegt, befiehlt er schon dem Davus, seine Geliebte zu hohlen. Es ist wenig Galanterie in diesen Sitten; aber weit mehr Kraft ist darinn, als in unsern, und der Dichter kann einen weit bessern Gebrauch davon machen. Es ist die blosse Natur, die sich ihren ungezähmten Begierden überläßt. Unsere kleinen madrigalisierten Complimente, würden in dem Munde eines Clinia oder Chärea von besondrer Anmuth seyn. Wie frostig sind die Rollen unsrer Liebhaber! Was mir auf der alten Bühne am meisten gefällt, daß sind die Liebhaber und die Väter. Die Davi hingegen kann ich nicht leiden; und ich hoffe, daß wir uns ihrer nie mehr bedienen werden; es müßte denn der Stoff des Stücks die alten Sitten erfordern, oder nach unsern Sitten ein schändlicher Stoff seyn.
|| [0412.01]
Ein jedes Volk hat Vorurtheile zu bestreiten, Laster zu verfolgen, Lächerlichkeiten verächtlich zu machen. Ein jedes Volck muß also Schauspiele, aber seine eigenen Schauspiele haben. Welch ein vortreffliches Hülfsmittel könnten sie der Regierung seyn, wenn es darauf ankäme, die Veränderung eines Gesetzes, oder die Abschaffung eines Gebrauchs vorzubereiten! Die Komödianten wegen ihrer persönlichen Sitten angreiffen, heißt allen Ständen zu Leibe wollen. Das Schauspiel wegen seiner Mißbräuche angreiffen, heißt sich wider alle Arten des öffentlichen Unterrichts auflehnen; und alles was man bisher darüber gesagt hat, ist so ungerecht als falsch, weil man nur immer die Dinge so, wie sie sind, oder gewesen sind, und nicht so, wie sie seyn könnten, in Betrachtung gezogen.
|| [0413.01]
Ein Volk kann nicht in allen Gattungen des Drama gleich vortrefflich seyn. Die Tragödie scheinet mir mehr nach dem Geiste der Republik, und die Komödie, besonders die lustige, nach dem Charakter der Monarchie zu seyn. Unter Leuten, die einander keine Achtung schuldig sind, wird die Spötterey hart seyn. Sie muß nach der Höhe zielen, wenn sie leicht werden soll; und das wird in einem Staate geschehen, in welchem die Menschen von verschiedenem Range sind, und den man mit einer hohen Pyramide vergleichen kann, wo diejenigen, die auf dem Grunde liegen, auf denen die ganze sie erdrückende Last ruhet, gezwungen sind, auch sogar in ihren Klagen bescheiden zu seyn. Eine sehr gewöhnliche Unbequemlichkeit ist diese, daß man aus einer lächerlichen Hochachtung für gewisse Stände, endlich nur die Sitten dieser Stände allein schildert; daß
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auf diese Weise die Nützlichkeit der Schau spiele eingeschränkt wird, und sie wohl gar der Kanal werden, durch welche sich die Thorheiten der Grossen unter die Geringern aus breiten. Bey einem sklavischen Volke verlieret alles seine Würde. Man muß sich eines niedrigen Tones, niedriger Gebehrden befleißigen, um der Wahrheit allen Nachdruck und alles Anstößige zu benehmen. Und da sind die Dichter nichts besser als die Hofnarren der Könige; nur weil man sie verachtet, läßt man sie reden, was sie wollen. Oder sie gleichen vielmehr gewissen Schuldigen, die vor Gerichte gezogen, und schwerlich würden seyn losgesprochen worden, wenn sie sich nicht unsinnig zu stellen gewußt hätten. Wir haben Komödien. Die Engländer haben nichts als Satyren, die zwar in der That sehr stark und munter, aber ohne Sitten und Geschmack sind. Den Italiäner kann man
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weiter nichts, als das burleske Drama ein räumen. Ueberhaupt, je gesitteter und geschliffener ein Volk ist, desto unpoetischer sind seine Sit ten. Alles was feiner wird, wird schwächer. Wenn hingegen bildet die Natur Muster für die Kunst? In denjenigen Zeiten ohne Zweifel, wenn sich die Kinder um dem Bette des sterbenden Vaters die Haare ausrauffen; wenn eine Mutter ihren Busen entblösset, und ihren Sohn bey den Brüsten, die er gesogen hat, beschwöret; wenn sich ein Freund das Haupthaar abschneidet, und es auf den Leichnam seines Freundes streuet, oder ihn in seinen Armen auf den Holzstoß trägt, und die Asche desselben in eine Urne sammelt, die er an gewissen Tagen mit seinen Thränen zu benetzen kömmt; wenn sich die Wittwen, in fliegendem Haare, das Gesicht mit ihren Nägeln zerkratzen, weil ihnen der Tod einen geliebten Gatten geraubet; wenn die Häupter
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des Volks bey allgemeinen Landplagen ihre gedemüthigte Stirne in den Staub legen, ihre Kleider zerreissen, und jammernd sich an die Brust schlagen; wenn ein Vater seinen neugebornen Sohn in die Arme nimmt, ihn gen Himmel hält, und die Götter über ihn anflehet; wenn das erste, was ein Kind, das seine Aeltern nach einer langen Abwesenheit wiedersiehet, dieses ist, daß es ihre Kniee umfasset und fußfällig um ihren Seegen bittet; wenn die Gastmale heilige Opfer sind, die sich mit Bächern voll Weins, auf die Erde gegossen, anfangen und enden; wenn das Volk mit seinen Gebietern spricht, und die Gebieter es anhören und ihm antworten; wenn ein Mensch mit umwundener Stirne vor einem Altare liegt, und eine Priesterin mit aufgehabenen Händen über ihn betet, und die heiligen Gebräuche der Versöhnung und Reinigung an ihm vollziehet; wenn eine schäumende Pythia, in deren Busen ein Gott stürmet,
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auf dem Dreyfuße sitzet, die Augen verkehret, und von ihrem prophetischen Geheule dunkle Höhlen ertönen läßt; wenn grausame Götter nicht anders als durch Menschenblut zu versöhnen sind; wenn mit dem Thyrsus gerüstete Bachantinnen in den Wäldern herumschwärmen, und den Unheiligen, der sich auf ihren Wegen treffen läßt, in Schrecken setzen; wenn andere Weiber sich ohne Scham entblössen, dem ersten dem besten die Arme öffnen, und sich ihm Preis geben etc. Ich sage nicht, daß diese Sitten gut, sondern daß sie poetisch sind. Was braucht der Dichter? Eine rohe, oder eine gebildete Natur? Eine ruhige, oder eine wilde? Wird er die Schönheit eines klaren und heitern Tages, dem Schrecken einer dunkeln Nacht vorziehen, wenn das unterbrochene Brausen der Winde ruckweise unter das hohle anhaltende Geräusche eines entfernten Donners stürmet, und er den Himmel sich
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über seinem Haupte entzünden siehet? Wird er den Anblick des ruhigen Meeres, dem Anblicke der tobenden Wellen vorziehn? Die stumme und kalte Beschauung eines Pallastes, dem Wandeln unter Ruinen? Ein aufgeführtes Gebäude, eine von Menschen Händen bepflanzte Gegend, der Dunkelheit eines alten Haynes, der unbekannten Grotte in einem wüsten Felsen? Wasserbehältnisse, springende Brunnen, dem Anblicke einer Katarakte, die über zerrissene Felsen daher stürzet, daß ihr Geräusche der auf dem fernen Gebirge weidende Hirte mit Grausen höret? Die Poesie verlangt etwas Ungeheuers, Barbarisches und Wildes. Alsdann wenn die Wuth des bürgerlichen Krieges, oder des Fanatismus, die Menschen mit Dolchen bewafnet, und Blut in Strömen fliesset, alsdann treibet und grünet der Lorbeer des Apollo. Mit Blut will er begossen seyn. Er verwelkt in den Zeiten des
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Friedens und der Musse. Das güldene Weltalter hätte vielleicht ein Lied, oder eine Elegie hervorgebracht. Die epische und dramatische Poesie verlangen andere Sitten. Wenn wird man Dichter aufstehen sehen? Wenn sonst, als nach den Zeiten des Elendes und grosser Unfälle, da die gezüchtigten Völker sich wieder zu erhohlen anfangen? Alsdenn wird die Einbildungskraft derer, die Zeugen von so viel schrecklichen Scenen gewesen sind, denen, die nichts davon gesehen haben, ganz unbekannte Dinge schildern. Haben wir nicht bey verschiednen Umständen eine Art von Schrecken empfunden, die uns ganz fremd war? Warum hat sie nichts gewirkt? Haben wir kein Genie mehr? Genie findet sich zu allen Zeiten; aber die Menschen, in denen es liegt, bleiben tief unter dem Schutte vergraben, wenn diesen nicht ausserordentliche Begebenheiten so erschüttern, daß sie ans Licht kommen können. Alsdenn
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häuffen sich die EmpfindungenEmpsindungen in der Brust, und schwellen sie auf, und zwingen die, die einen Mund haben, daß sie ihn öffnen, und sich erleichtern. Was wird also der Dichter unter einem Volke thun, dessen Sitten schwach, klein und gekünstelt sind; wo die strenge Nachahmung des gewöhnlichen Umganges nichts als ein Zusammenhang falscher, sinnloser und niedriger Ausdrücke seyn würde; wo weder Freymüthigkeit noch Gutherzigkeit ist; wo der Vater seinen Sohn Mein Herr nennt, und die Mutter ihre Tochter Mademoisell ruft; wo die öffentlichen Ceremonien nichts Grosses, das häusliche Leben nichts Rührendes und Ehrbares, die feyerlichen Handlungen nichts Wahres haben? Er wird die Sitten dieses Volks verschönern; er wird die Umstände sorgfältig aufsuchen, die seiner Kunst am zuträglichsten sind; die andern wird er übergehen; und hier und da wird er einige erdichtete einzuschieben wagen.
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Welch einen feinen Geschmack aber muß er haben, wenn er es fühlen soll, in wie weit sich sowohl die öffentlichen als besondern Sit ten verschönern lassen? Wenn er das Maaß im geringsten überschreitet, so wird er falsch und romanenhaft werden. Wenn die Sitten, die er annimt, vormals im Schwange gewesen sind, und diese Zeit eben nicht sehr lange verstrichen ist; wenn ein Gebrauch abgekommen, in der Sprache aber ein methaphorischer Ausdruck davon übrig geblieben ist; wenn dieser Ausdruck etwas Gutes und Rechtschaffenes bemerkt; wenn er von einer alten Frömmigkeit, von einer guten einfältigen Gewohnheit, von der zu wünschen wäre, daß sie noch bestünde, zeiget; wenn die Väter darinn ehrwürdiger, die Mütter werther, die Könige gefälliger erscheinen: so mache er sich nur kein Bedenken; anstatt, daß man ihm, wider die Wahr heit gesündiget zu haben, vorwerffen wird,
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wird man vielmehr annehmen, daß sich ohne Zweifel diese alten, guten Sitten in dieser Familie so lange erhalten haben. Nur vermeide er alles das, was nach dem gegenwärtigen Gebrauche irgend eines benachbarten Volkes seyn würde. Aber man denke nur, wie wunderlich die gesitteten Völker sind. Ihre Feinheit geht oft so weit, daß sie dem Dichter auch so gar den Gebrauch vieler in ihren Sitten gegründeter Umstände, die einfältig, schön und wahr sind, untersagt. Wer dürfte es unter uns wagen, auf der Bühne Stroh auszubreiten, und ein neugebornes Kind auf demselben wegzusetzen? Wenn der Dichter eine Wiege anbrächte, würde sich nicht im Parterre mehr als ein Geck finden, der wie ein kleines Kind zu schreyen anfänge? Logen und Amphitheater würden darüber lachen, und um das Stück wäre es gethan. O possierliches und leichtsinniges Volk, wie sehr schränkest du die
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Kunst ein! Welchen Zwang legst du deinen Künstlern auf! Wie vieler Vergnügen beraubet dich dein verzärtelter Geschmack! Alle Augenblicke würdest du auf der Bühne Dinge auspfeiffen, die dich im Gemälde rühren und bezaubern würden. Weh dem Genie, dem es einkommen dürfte, dir ein Schauspiel zu zeigen, das zwar mit der Natur aber nicht mit deinen Vorurtheilen bestehen könnte! Terenz hat das neugeborne Kind auf der Bühne wegsetzen lassen. Er hat noch mehr gethan. Er hat die Zuschauer das Geschrey der greissenden Mutter, die es zur Welt brachte, aus dem Hause her vernehmen lassen. Das ist schön; aber wem würde es itzt gefallen? Der Geschmack eines Volkes muß sehr ungewiß seyn, wenn er in der Natur der Dinge etwas leiden kann, dessen Nachahmung er dem Künstler verbietet; oder wenn er gewisse Wirkungen der Kunst bewundert, die ihm in
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der Natur mißfallen. Wir würden von einem Frauenzimmer, das einer von den Bildsäulen gliche, die uns in der Tuileries bezaubern, sagen, daß sie einen ganz hübschen Kopf, aber plumpe Füsse, und ganz und gar keine Taille habe. Das Frauenzimmer das der Bildhauer auf einem Sopha schön findet, ist in seiner Werkstatt häßlich. Wir sind voll von dergleichen Widersprüchen. Was es aber am meisten zeiget, daß wir von dem guten Geschmacke und von der Wahrheit noch weit entfernt sind, daß sind unsere armseligen und falschen Verzierungen des Theaters, nebst der üppigen Kleiderpracht der spielenden Personen. Man verlangt von dem Dichter, daß er sich der Einheit des Orts unterwerffen soll, und die Bühne überläßt man der Unwissenheit eines ungeschickten Verzierers. Wollte man nun, daß sich unsere Dichter, sowohl in dem Verfolge ihrer Stücke, als in
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dem Gespräche, mehr der Wahrheit nähern sollten; daß sich unsre Schauspieler eines na türlichern Spieles, einer wahrern Declamation befleissigen sollten: so dürften die Zu schauer nur mit der Sprache herausgehen, und den Ort der Scene so, wie er wirklich seyn sollte, zu sehen verlangen. Wenn Natur und Wahrheit auf unsern Bühnen nur einmal in dem allergeringsten Stücke die Oberhand gewännen, so würde sich gar bald Ungereimtheit und Eckel auf alles übrige, was ihnen zuwider wäre, ver breiten. Das am übelsten verstandene dramatische System würde dasjenige seyn, das halb wahr und halb falsch wäre. Es würde einer ungeschickten Lüge gleichen, wo mir gewisse Umstände die Unmöglichkeit des Uebrigen verrathen. Eher wollte ich die Vermischung ganz verschiedener Gattungen vertragen; denn wenigstens ist darinn nichts falsches. Der
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Fehler des ist nicht der größte, in welchen ein Dichter fallen kann. Er zeigt bloß von wenig Geschmack. Der Dichter, dessen Werk man für würdig erkannt hat, öffentlich vorgestellt zu werden, schicke nach den Verzierer. Er lese ihm sein Drama vor; und dieser suche den Ort der Scene aufs beste zu fassen, zeige ihn uns, wie er wirklich ist, und bedenke, daß die theatralische Mahlerey weit strenger, weit wahrer, als irgend eine andere Gattung der Mahlerey seyn muß. Die theatralische Mahlerey wird sich vieler Dinge enthalten, die sich die gewöhnliche Mahlerey erlaubt. Wenn der Staffeletmahler eine Hütte vorstellen soll, so wird er sie vielleicht gegen eine zerbrochene Säule lehnen, und ein umgestürztes corinthisches Gesimse zum Sitze an der Thüre machen. In der That ist es auch nicht unmöglich, das itzt da eine Hütte stehet, wo ehedem ein Pallast ge
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standen hat. Dieser Umstand erregt in mir einen rührenden Nebenbegriff, indem er mich an die Hinfälligkeit der menschlichen Dingen erinnert. Bey der theatralischen Mahlerey aber kömmt es hierauf nicht an. Sie leidet keine Zerstreuung, keine Voraussetzung, die einen andern Eindruck in meiner Seele veranlassen könnte, als den sich der Dichter vorgesetzt hat. Zwey Dichter können sich nicht beide auf einmal gleich vortheilhaft zeigen. Das untergeordnete Talent muß zum Theil dem herrschenden Talente aufgeopfert werden. Ginge jeder seinen Weg vor sich, so würde er vielleicht etwas allgemeines vorstellen. Da ihn aber ein andrer führet, so muß er sich mit einem einzeln Falle befriedigen. Man sehe nur, wie verschieden die Seeaussichten, die Vernet aus seiner Idee, und die er nach der Natur gemahlet hat, an Kraft und Leben sind. Der Theatermahler ist auf die Um
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stände eingeschränkt, die zur Illusion dienen. Alle zufällige Zierrathen, die dieser zuwider seyn könnten, sind ihm untersagt. Auch sogar derer muß er sich mit Mäßigkeit bedienen, die weiter nichts thun, als ohne Nachtheil verschönern. Denn wenigstens zerstreuen sie doch. Und das ist der Grund, warum die schönste Verzierung des Theaters doch weiter nichts als ein Gemälde von der zweyten Ordnung seyn kann. In der lyrischen Gattung ist das Gedicht für den Musikus gemacht, so wie die Verzierung für den Dichter. Das Gedicht wird daher so vollkommen nicht seyn, als wenn der Dichter seine völlige Freyheit gehabt hätte. Ist ein Saal vorzustellen: so sey es der Saal eines Mannes von Geschmack. Nichts Barokes; wenig Verguldung; die Möbeln schlecht und recht: es wäre denn, daß der Stoff ausdrücklich das Gegentheil verlange.
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Der Stolz verdirbt alles. Der Anblick des Reichthums ist kein schöner Anblick. Der Reichthum hat zu viel Grillen; er kann das Auge blenden, aber die Seele nicht rühren. Unter einem kostbar verbrämten oder gestickten Kleide, erblicke ich weiter nichts, als einen Reichen; und ich suche einen Menschen. Wen die Edelgesteine, mit welchen eine schöne Frau geschmückt ist, bezaubern, der ist nicht werth, eine schöne Frau zu sehen. Die Komödie will in häuslicher Kleidung gespielt seyn. Man muß auf der Bühne weder geputzter noch nachläßiger erscheinen, als bey sich zu Hause. Wenn ihr der Zuschauer wegen so viel Geld an Kleider verschwendet: so habt ihr keinen Geschmack, ihr Schauspieler. Ihr vergeßt, daß euch der Zuschauer gar nichts angeht. Je ernsthafter die Gattungen sind, desto gesetzter muß die Kleidung seyn.
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Mitten in einer verwirrten Handlung sollten die Menschen Zeit haben, sich wie an einem Feste oder Freudentage zu putzen? Ist das wahrscheinlich? Wie viel haben nicht unsere Komödianten auf die Vorstellung der Chinesischen Wayse verwandt? Wie viel haben sie sich es kosten lassen, dieses Stück um einen Theil seiner Wirkung zu bringen? Wahrhaftig nur Kinder, dergleichen man auf den Gassen, wo bunte Tapeten ausgehangen sind, mit offenen Mäulern stehen siehet, nur solchen Kindern kann die üppige Pracht der theatralischen Kleidung gefallen. O Athenienser, ihr seyd Kinder! Ein simples Gewand, von einer gesetzten Farbe, hätte es seyn müssen; und keine Stückerey, kein Flittergold. Man befrage nur auch hierüber die Mahlerey. Welcher Artist ist so gothisch, der euch in seinem Gemälde eben so starr und steif, eben so glänzend vor
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gestellet hätte, als wir euch auf der Bühne gesehen haben? O Schauspieler, wenn ihr euch wollt kleiden lernen, wenn ihr den falschen Geschmack an Pracht ablegen wollt, wenn ihr euch der Einfalt nähern wollt, die den grossen Eindrücken, die euren Glücksumständen, die euren Sitten so sehr zuträglich seyn würde: so besucht unsere Gallerieen. Wenn man einmal den Einfall bekommen sollte, den Hausvater auf dem Theater zu versuchen, so glaube ich, diese Person könnte nicht simpel genug gekleidet seyn. Cäcilia brauchte weiter nichts als die Hauskleidung eines reichen Mädchens. Dem Commthur würde ich allenfalls ein Kleid mit einer glatten Dresse, und einen Stock mit einem Schnabelknopfe geben. Wenn er zwischen dem ersten und zweyten Aufzuge ein andres Kleid anlegte, so würde es mich von einem so eigensinnigen Manne eben nicht sehr befremden.
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Vor allen Dingen aber müßte Sophia en Siamoise, und Frau Hebert, als eine gute Bürgersfrau am Sonntage, gekleidet seyn: oder es wäre alles verdorben. Saint Albin ist der einzige, dem sein Alter und sein Stand im zweyten Aufzuge Putz und Pracht erlauben könnte. Im ersten Aufzuge braucht er weiter nichts als einen Surtout, mit einer schlechten Weste, zu haben. Das Publicum weis nicht immer das Wahre zu verlangen. Wenn es einmal an dem Falschen hänget, so kann es ganze Jahrhunderte daran hangen bleiben. Es ist aber gegen das Natürliche empfindlich, und wenn es die Eindrücke desselben einmal angenommen hat, wird es sie nie gänzlich wieder verlieren. Eine muthige Schauspielerin hat den Reifrock abgelegt; und niemand hat es gemißbilliget. Sie wird weiter gehen; ich stehe dafür. Ah, wenn sie es einmal wagte, sich völlig in der edeln und einfältigen Kleidung, die ihre
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Rollen verlangen, auf der Bühne zu zeigen; lassen Sie mich noch mehr sagen, wenn sie es einmal wagte, sich in aller der Unordnung zu zeigen, in die eine Frau bey einem so schrecklichen Zufalle, als der Tod eines Gemahls, oder der Verlust eines Sohnes, oder eine andere Katastrophe der tragischen Bühne ist, nothwendig gerathen muß: wie würde es neben einer solchen Frau in zerstreuten Haaren, mit allen den gepuderten, gekräuselten, geschniegelten Püppchen werden? Ueber lang oder über kurz, würden sie sich nach ihr richten müssen. Denn die Natur, die Natur; wer kann ihr widerstehen? Man muß sie entweder verbannen, oder ihr gehorchen. An Sie, o Clairon, wende ich mich wieder. Verstatten Sie nicht, daß Sie das Vorurtheil und die Mode unterdrücke. Ueberlassen Sie sich ihrem Geschmack und ihrem Genie; zeigen Sie uns die Natur und die Wahrheit: denn das ist die Pflicht derer, die wir lieben,
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und deren Talente uns geneigt gemacht haben, alles was sie wagen wollen, willig auf zunehmen. Ein Paradoxon, dessen Wahrheit wenige einsehen werden, und das vielen anstößig seyn wird, (Aber was liegt Ihnen und mir daran? Unser Wahlspruch ist: vor allen Dingen die Wahrheit zu sagen.) ein solches Paradoxon, sage ich, ist dieses, daß unsere italiänische Ko mödianten, in den italiänischen Stücken, weit freyer spielen, als unsere französische Komö dianten. Sie bekümmern sich weit weniger um den Zuschauer. Es giebt hundert Augenblicke, wo sie seiner gänzlich vergessen. Es findet sich in ihrer Action etwas Leichtes und Originales, das mir gefällt, und der ganzen Welt gefallen würde, wenn es nicht durch die albern Reden, durch die abgeschmackte Intrigue, entstellet würde. Mitten aus ihrer Narrheit leuchten Leute hervor, die sich zu erlustigen suchen, die sich allem Muthwillen
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ihrer Einbildungskraft überlassen; und diese Trunkenheit liebe ich weit mehr, als das Starre, Steife, Schwerfällige. Allein sie extemporieren; die Rolle, die sie spielen, ist ihnen nicht vorgeschrieben. Das merke ich wohl. Und wenn Sie sie eben so abgemessen, eben so gezwungen, und noch kälter als andere sehen wollen, so geben Sie ihnen nur ein geschriebenes Stück. Ich gestehe es, daß sie sich alsdenn nicht mehr ähnlich sind. Aber woher kömmt das? Ist ihnen das, was sie auswendig gelernt haben, bey der vierten Vorstellung nicht eben so geläuffig, als ob sie es selbst erfunden hätten? Nein. Was aus dem Stegreife gesagt wird, hat einen Charakter, den etwas, worauf man sich gefaßt gemacht hat, nimmermehr haben wird.
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Es sey. Gleichwohl werden sie vornehmlich nur alsdenn so steif und schwerfällig, wenn sie nachahmen wollen, und eine andere Bühne, andere Schauspieler vor Augen haben. Was thun sie alsdenn? Sie setzen sich in Positur; treten mit gezählten und abgemessenen Schritten einher; suchen beklatscht zu werden; gehen aus der Handlung heraus; wenden sich an das Parterr; sprechen mit ihm, und werden gezwungen und falsch. Auch habe ich die Anmerkung gemacht, daß unsere schaalen, untergeordneten Personen weit eher in ihrer demüthigen Rolle bleiben, als die Hauptpersonen. Und das, dünkt mich, kömmt daher, weil sie durch die Gegenwart eines andern, der sie beherrscht, zurückgehalten werden; an diesen andern wenden sie sich; auf diesen andern lassen sie alle ihre Action sich beziehen. So würde auch alles gut gehen, wenn nur die vornehmsten Rollen eben so viel Achtung gegen die Sache
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hätten, als die untergeordneten Rollen gegen ihre Abhängigkeit bezeugen. Es giebt viel Pedanterie in unserer Dicht kunst; es giebt viel Pedanterie in unsern dramatischen Werken; wie sollte es keine in der Verstellung derselben geben? Diese Pedanterie, die sonst überall dem leichten Charakter der Nation so zuwider ist, wird den Fortgang der Pantomime, dieses so wichtigen Theiles der dramatischen Kunst, noch lange Zeit aufhalten. Ich habe gesagt, die Pantomime sey ein Stück des Drama; der Verfasser müsse sich ihrer ernstlich befleißigen; er werde, wenn sie ihm nicht geläuffig und immer gegenwärtig ist, keine Scene, so wie es die Wahrheit erfordert, weder anzufangen, noch fortzuführen, noch zu endigen wissen. Ich habe gesagt, der Gestus müsse oft anstatt der Rede hingeschrieben werden.
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Ich füge noch hinzu, daß es ganze Scenen giebt, wo es unendlich natürlicher ist, daß sich die Personen bewegen, als daß sie reden; und ich will es beweisen. Es gehet in der Welt nichts vor, was nicht auf der Bühne seinen Platz finden könnte. Nun nehme man zwey Personen, die nicht recht wissen, ob sie mit einander zufrieden, oder unzufrieden seyn sollen, und die einen dritten erwarten, der ihnen Licht geben soll. Was werden die sich, bis zu der Ankunft dieses dritten, sagen? Nichts. Sie werden gehen, und kommen, und sich ungeduldig erweisen, aber kein Wort reden. Sie werden sich wohl hüten, einander etwas zu sagen, was sie vielleicht hernach bereuen müßten. Das wäre der Fall einer ganz, oder doch fast ganz pantomimischen Scene; und dergleichen Fälle giebt es mehr. Pamphilus ist mit dem Chremes und Simo auf der Bühne. Chremes hält alles,
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was ihm sein Sohn sagt, für Unwahrheiten eines lockern Jünglings, der seine Thorheiten gern entschuldigen möchte. Der Sohn bittet ihn, einen Zeugen stellen zu dürfen. Chremes läßt sich endlich von ihm und dem Simo bewegen, diesen Zeugen zu hören. Pamphilus geht ihn aufzusuchen; Simo und Chremes bleiben da. Nun frage ich, was machen sie mittlerweile, da Pamphilus bey der Glycerium ist, mit dem Crito spricht, ihm die Sache erklärt, ihm sagt, was er von ihm erwarte, und ihn bewegt mitzugehen, um selbst mit seinem Vater dem Chremes zu sprechen? Entweder muß man glauben, sie sind unbeweglich und stumm; oder man muß annehmen, daß Simo den Chremes zu unterhalten fortfähret; daß Chremes, mit niedergeschlagenen Augen, das Kinn auf die Hand gestützet, ihn bald geduldig, bald zornig anhört, und daß eine völlig pantomimische Scene unter ihnen vorfällt.
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Das ist aber nicht das einzige Exempel, das sich bey diesem Dichter hiervon findet. Als: was macht einer von den Alten auf der Bühne, mittlerweile der andere seinem Sohne sagt, daß sein Vater alles weis, daß er ihn enterben und alle sein Vermögen seiner Tochter geben will? Wenn sich Terenz die Mühe genommen hätte, die Pantomime aufzuschreiben, so würden wir aus aller Ungewißheit seyn. Aber was liegt daran, ob er sie aufgeschrieben hat oder nicht; sie ergiebt sich hier von selbst. Immer ist es aber nicht so. Wer würde sie zum Exempel im Geitzigen errathen haben? Harpagon ist wechselsweise lustig und traurig, nach dem Euphrosine bald von der Armuth, bald von der Zärtlichkeit der Mariane mit ihm spricht. Das Gespräch ist hier zwischen der Rede und den Gebehrden. Man muß die Pantomime niederschreiben, so oft sie ein Gemälde macht; so oft die Rede
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dadurch nachdrücklicher, oder deutlicher wird; so oft sie charakterisiert; so oft sie in einem feinen Spiele besteht, das sich nicht errathen läßt; so oft sie statt der Antwort dienet; und fast beständig zu Anfange des Auftritts. Sie ist so wesentlich, daß zwey Stücke, wovon die eine mit Absicht auf die Panto mime, und die andere ohne Absicht auf sie gemacht worden, so verschieden ausfallen müssen, daß die, wobey die Pantomime als ein Stück des Drama in Betrachtung gekommen, nicht ohne Pantomime, und die, bey welcher die Pantomime vernachläßiget worden, nicht mit Pantomime wird gespielet werden können. Dem Gedichte, das damit versehen ist, wird man sie bey der Vorstellung nicht nehmen, und demjenigen, dem sie mangelt, nicht geben können. Sie ist es, die die Länge der Auftritte bestimmt, und dem ganzen Drama feine Colorite giebt.
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Moliere hat sie des Aufschreibens gewürdiget: was kann man stärkeres für sie sagen? Aber wenn sie Moliere auch nicht aufgeschrieben hätte, würde deswegen ein anderer Unrecht thun, wenn er darauf bedacht wäre? O ihr Kunstrichter, ihr engen, schaalen Köpfe, wie lange wollt ihr noch, nichts nach sich selbst beurtheilen, sondern nur alles nach seinem gegenwärtigen Zustande billigen oder mißbilligen? Wie viel Stellen giebt es, wo Plautus, Aristophanes und Terenz, die geschicktesten Ausleger blos dadurch in Verlegenheit gesetzt haben, weil sie die Bewegung der Scene anzuzeigen unterlassen. Terenz fängt seine Brü der folgender Gestalt an: Storax. So ist Aeschinus diese Nacht nicht nach Hause ge kommen? Was heißt das? Spricht Mieio mit dem Storax? Nein. Es ist itzt kein Storax auf der Bühne. Es kömmt in dem ganzen Stücke keine solche Person vor. Was
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will er also? Dieses: Storax ist einer von den Bedienten des Aeschinus; Micio ruft ihn, und da Storax nicht antwortet, so schließt er daraus, daß Aeschinus nicht nach Hause gekommen. Ein einziges Wort, das hier die Pantomime bemerkt hätte, würde diese Stelle deutlich gemacht haben. Besonders entzückt uns das Gemälde der Bewegungen, in den häuslichen Romanen. Man sehe nur wie gern der Verfasser der Pa mela, des Grandison und der Clarisse dabey verweilt? Man sehe nur, wie stark, wie bedeutend, wie pathetisch seine Reden dadurch werden. Ich sehe die Person; ich sehe sie, sie mag reden oder mag schweigen; und ihre Action rührt mich mehr, als ihre Reden. Wenn ein Dichter den Orest und Pilades auf der Bühne zeigte, wie sie einander den Tod streitig machen, und er hätte die Annäherung der Eumeniden auf diesen Augenblick verspart, in welches Schrecken würde er
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mich nicht setzen, wenn den Orest, indem er mit seinem Freunde spricht, die Gedanken nach und nach verliessen; wenn er seine Augen verkehrte; wild um sich schaute; innehielte; wieder fortführe; aufs neue innehielte; wenn die Verwirrung in seinen Bewegungen und Reden sich immer stärker und stärker äusserte; wenn die Furien sich seiner bemächtigten und ihn quälten; wenn er unter diesen grausamen Qualen erläge; wenn er zu Boden fiele; wenn Pilades ihn aufrichtete, ihn hielte, ihm mit der Hand das Gesicht und den Mund abtrocknete; wenn der unglückliche Sohn der Klytemnestra in diesem Stande der Todesangst einen Augenblick bliebe; wenn er dann die Augen wieder aufschlüge, wie ein Mensch der aus einem tiefen Schlafe erwacht, und fühlte, daß er in den Armen seines Freundes wäre, und sein Haupt gegen ihn sinken liesse, und mit schwacher Stimme zu ihm sagte: Und du, Pilades, solltest sterben? Welche
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Wirkung müßte diese Pantomime nicht haben? Könnte mich eine Rede in der Welt so rühren, als die Action des Pilades, wenn er den Orest aufhebt und ihm mit der Hand das Gesicht und den Mund abtrocknet? Man trenne hier einmal die Pantomime von dem Gespräche, und man wird beide vernichtet haben. Der Dichter, der diese Scene erfände, würde sein Genie besonders dadurch zeigen, daß er die Raserey des Orest auf diesen Augenblick versparte. Der Grund, den Orest aus seiner Situation hernimmt, ist ohne Wider spruch. Aber ich bekomme Lust Ihnen die letzten Stunden des Sokrates zu entwerffen. Es ist eine Reihe von Gemälden, die zum Besten der Pantomime mehr beweisen werden, als alles, was ich noch hinzufügen könnte. Ich werde fast ganz und gar bey der Geschichte bleiben. Welch ein Stoff für einen Dichter! Seine Schüler fühlten den Schmerz nicht,
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den man sonst an dem Bette eines sterbenden Freundes empfindet. Der Mann schien ihnen glücklich. Alle ihre Rührung war eine ausserordentliche Empfindung, die aus dem Vergnügen über seine Reden, und aus dem Mißvergnügen über den Gedanken, daß sie ihn nun bald verlieren würden, zusammengesetzt war. Sie treten zu ihm hinein, da man ihn eben losgebunden hatte. Xantippe sitzt neben ihm, und hat eines von ihren Kindern in den Armen. Der Philosoph spricht wenig mit seiner Frau. Aber wie viel Zärtliches hatte nicht ein weiser Mann, dem das Leben gleichgültig war, über sein Kind zu sagen! Die Philosophen treten herein. Kaum erblickt sie Xantippe, als sie zu schreyen und sich untröstlich zu stellen anfängt, so wie die Gewohnheit der Weiber in dergleichen Fällen ist. Sokrates, schreyt sie, heut sprechen dich deine Freunde zum letztenmale. Zum
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letztenmale umarmest du itzt deine Frau; zum letztenmale dein Kind.
Sokrates kehret sich gegen den Crito und sagt: Freund, laß diese Frau nach Hause bringen. Und das geschieht. Man zieht Xantippen fort; Xantippe will mit Gewalt noch einmal auf den Sokrates zu, reicht ihm den Arm, ruft ihn, zerreißt sich das Gesicht mit ihren Händen, und erfüllt das Gefängniß mit ihrem Geschrey. Unterdessen sagt Sokrates noch ein Wort über das Kind; und man trägt es weg. Nunmehr nimmt der Philosoph ein heiteres Gesicht an, setzet sich auf sein Bette, ziehet den Fuß an sich, von dem man ihm die Fessel abgenommen hatte, reibet ihn sanft, und sagt: Wie nahe grenzen Schmerz und Vergnügen an einander! Wenn Aesop $$NAME!! daran gedacht hätte, welche schöne Fabel hätte er davon machen können! — Die Athe-
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nienser wollen, ich soll abgehen, und ich gehe ab. — Sagt dem Evenus, wenn er weise ist, soll er mir folgen.
Dieses Wort giebt Gelegenheit zu der Scene über die Unsterblichkeit der Seele. Wer will, versuche diese Scene. Ich eile zu meinem Zwecke. So wie ein Vater mitten unter seinen Kindern stirbt, so war das Ende des Sokrates mitten unter den Welt weisen, seinen Schülern. Als er aufgehört hatte zu reden, blieb es einen Augenblick still, und Crito sagt zu ihm:

Crito

Was hast du uns noch zu befehlen?

Sokrates

Daß ihr euch bestrebet, so viel als möglich, den Göttern gleich zu werden, und alles andere ihrer Vorsorge über lasset.

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Crito

Wie soll man nach deinem Tode mit dir verfahren?

Sokrates

Crito, wie ihr wollt; wenn ihr mich anders habt.

Hierauf blickt er lächelnd auf die Philosophen, und setzt hinzu:

Ich mag machen was ich will, ich werde unsern Freund doch nie überreden, den Sokrates von seiner Hülle zu unter scheiden.

Indem tritt der Trabante der Eilfmänner herein, und nahet sich ihm ohne zu reden. Sokrates fragt ihn:

Sokrates

Was willst du?

Der Trabante

Dich auf Befehl der Obrigkeit erinnern — —

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Sokrates

Daß es Zeit ist, zu sterben. Mein Freund, wenn das Gift bereitet ist, so bring es her, und sey mir willkommen.

Der Trabante

(indem er sich umkehret und weinet)

Andere fluchen mir, und dieser seegnet mich.

Crito

Die Sonne glänzet noch auf den Bergen.

Sokrates

Nur der würde zaudern, der mit dem Leben alles zu verlieren glaubte. Ich hoffe zu gewinnen.

Nunmehr tritt der Sklave mit den Becher herein. Sokrates nimmt ihn und sagt:

Sokrates

Guter Mann, was muß ich thun? Du wirst das wissen.

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Der Sklave

Trinken, und auf und niedergehen, bis du fühlest, daß dir die Beine schwer werden.

Sokrates

Dürfte ich nicht einige Tropfen, als ein Dankopfer für die Götter, vergiessen?

Der Sklave

Es ist gleich so viel, als nöthig.

Sokrates

So mag es bleiben. — Aber ein Gebet kann ich doch an sie richten.

Er hält den Becher in der einen Hand, richtet die Augen gen Himmel, und sagt:

Die ihr mich ruffet, o Götter, verleihet mir eine glückliche Reise!

Hierauf schwieg er, und trank.

Bis hieher waren seine Freunde stark genug gewesen, ihren Schmerz zu verbergen; aber indem er den Becher an den Mund setzet, können sie sich länger nicht halten.

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Einige verhüllen sich in ihre Mäntel. Crito ist aufgestanden, irret in dem Gefängnisse hin und her, und schreyet. Andere stehen unbeweglich, betrachten finster und schweigend den Sokrates, und Thränen rollen ihre Wangen herab. Apollodorus hat sich an dem Fusse des Bettes niedergesetzt, den Rücken gegen den Sokrates gekehret, und den Mund in der Hand, sich des Schluchzens zu erwehren. Mittlerweile gehet Sokrates auf und nieder, so wie es ihm der Sklave gerathen hat, und in dem Herumgehen wendet er sich an jeden von ihnen, und tröstet sie alle.

Zu dem einen sagt er:

Wo bleibt die Standhaftigkeit? Die Weisheit? Die Tugend?

— Zu dem andern:

Deswegen schickte ich die Weiber weg.

Zu allen:

Was haben wir nun Anytus und Melitus Böses thun können? — Wir werden uns wiedersehen, meine Freunde. — Wenn
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ihr euch so betrübt, so müßt ihr daran zweifeln.

Unterdeß werden ihm die Beine schwer, und er legt sich auf das Bette nieder. Darauf empfiehlt er seinen Freunden sein Andenken, und sagt mit schwachwerdender Stimme:

Sokrates

Bald werde ich nicht mehr seyn. — Nach euch werden sie mich richten. — Werffet meinen Tod den Atheniensern nicht anders vor, als durch die Heiligkeit eures Lebens.

Seine Freunde wollen ihm antworten; aber sie können nicht; sie weinen und schweigen. Der Sklave, der unten an dem Bette stehet, fasset seine Füsse, und drücket sie. Sokrates sieht ihn an, und sagt:

Ich fühle sie nicht mehr.

Einen Augenblick darauf faßt er ihn an die Schenkel, und drückt sie. Sokrates sieht ihn an, und sagt:

Ich fühle sie nicht mehr.
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Nunmehr fangen seine Augen an zu verlöschen, seine Lippen und Nasenlöcher sich einzuziehen, seine Glieder zu erstarren; der Schatten des Todes liegt auf ihn verbreitet. Sein Athem wird schwach; kaum vernimmt man ihn mehr. Er spricht zum Crito, der hinter ihm stehet:

Crito, richte mich ein wenig auf.

Crito richtet ihn auf. Seine Augen er- hohlen sich, sein Gesicht wird heiter, er macht eine Bewegung gegen den Himmel, und sagt:

Itzt bin ich zwischen der Welt und Ely sium.

Einen Augenblick darauf fallen ihm die Augen zu, und er spricht zu seinen Freun den:

Ich sehe euch nicht mehr. — Sprecht doch. — Ist das nicht die Hand des Apollodorus?

Man antwortet ihm mit ja, und er drückt sie.

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Nunmehr folgen Zuckungen, von denen er mit einem tiefen Seufzer wieder zu sich kömmt. Er ruft den Crito. Crito beugt sich gegen ihn nieder, und Sokrates sagt zu ihm: — (welches seine letzten Worte sind)

Crito — bringe dem Gott der Gesundheit ein Opfer — ich genese.

Auf dem Cebes, der dem Sokrates gegen über saß, blieben seine letzten Blicke hangen; und Crito drückte ihm den Mund und die Augen zu.

Das wären die Umstände, die man brauchen müßte. Man brauche sie, wie man will, aber man brauche sie. Denn alle andere, die man an ihrer Stelle setzen wollte, werden falsch und ohne Wirkung seyn. Wenig Reden, aber viel Bewegung. Wenn der Zuschauer im Theater gleichsam vor einem Vorhange steht, auf welchem ein Zauberer verschiedene Gemälde, eines nach dem andern, darstellet: warum sollte der
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Philosoph, der an dem Bette des Sokrates sitzet, und ihn sterben zu sehen fürchtet, nicht eben so pathetisch auf der Bühne seyn, als es die Frau und die Tochter des Eudamidas in dem Gemälde des Poussin sind? Man wende die Regeln der mahlerischen Composition auf die Pantomime an, und man wird finden, daß beide einerley Regeln haben. Bey einer wirklichen Handlung, wo sich verschiedne Personen zusammen finden, stellen sich alle von selbst auf die wahreste Weise; aber diese Weise ist nicht immer weder die vortheilhafteste für den Mahler, noch die ausnehmendste für den Zuschauer. Daher ist der Mahler genöthiget, den natürlichen Stand zu verändern, und in einen künstlichen Stand zu verwandeln. Wird es auf der Bühne nicht eben so seyn? Wenn das ist, was für eine Kunst ist die Declamation! Wenn jeder, Herr von seiner
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Rolle ist; was kann da Festgesetztes seyn? Man muß die Personen zusammensetzen, sie trennen oder zerstreuen, sie vereinzeln oder grupieren, und eine Reihe von Gemälden daraus machen, die alle von einer grossen und wahren Composition sind. Wie nützlich könnte der Mahler nicht dem Schauspieler, und der Schauspieler dem Mahler seyn! Das wäre ein Mittel zwey wichtige Talente zugleich vollkommener zu machen. Aber ich verliere mich in Aussichten, die vielleicht nur Sie und mich vergnügen. Ich bedenke nicht, daß wir das Schauspiel viel zu wenig lieben, als daß wir uns so ernstlich damit abgeben sollten. Worinn sich der häusliche Roman von dem Drama vornehmlich mit unterscheidet, ist dieses, daß der Roman die Gebehrden und Pantomime bis tief ins Kleine verfolgt; daß sich sein Verfasser vornehmlich angelegen seyn läßt, die Bewegungen und Eindrücke zu
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mahlen; anstatt daß sie der dramatische Dichter nur im Vorbeygehen mit einem Worte berühret. Aber dieß eine Wort unterbricht, hemmet und verwirrt das Gespräch. Ja, wenn es übel angebracht, oder falsch gewählt ist. Unterdessen gestehe ich, wenn die Panto mime auf der Bühne zu einer recht hohen Stuffe der Vollkommenheit gebracht wäre, so könnte man es oft überhoben seyn, sie niederzuschreiben; und das ist vielleicht die Ursache, warum die Alten sie nicht beygeschrieben haben. Aber wie kann einer von unsern Lesern, wenn er schon mit dem Theater nicht unbekannt ist, sie sich wärend dem Lesen selbst denken, wenn er sie niemals in dem Spiele unserer Komödianten gesehen hat? Müßte er nicht selbst ein größrer Schauspie ler seyn, als der Komödiant von Profession?
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Da die Pantomime also auf unsern Theatern noch nicht eingeführt ist, so muß wohl der Dichter, der seine Stücke nicht vorstellen läßt, das Spiel beyschreiben, wenn er nicht oft kalt und unverständlich seyn will. Ja, ist es nicht für den Leser ein Vergnügen mehr, wenn er sieht, wie sich der Dichter selbst das Spiel dabey vorgestellt hat? Und da wir an eine so abgemessene, so gezwungene und von der Wahrheit so entfernte Declamation gewöhnt sind, werden wohl viel Personen unter uns seyn, für die es unnöthig seyn dürfte? Die Pantomime ist das Gemälde, das in der Einbildungskraft des Dichters, als er schrieb, existierte, und das, nach seiner Meinung, die Bühne bey der Vorstellung alle Augenblicke zeigen soll. Es ist der einfältigste Weg dem Publico zu sagen, was es von seinen Ko mödianten zu fordern berechtiget ist. Der Dichter sagt zu ihm: vergleiche dieses Spiel mit dem Spiele deiner Schauspieler, und richte.
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Wenn ich übrigens die Pantomime dabey schreibe, so ist es, als ob ich mich mit diesen Worten an den Komödianten wendete: So declamiere Ich; so stellte sich Meine Einbil dungskraft, unter der Arbeit, die Sache vor. Ich bin aber so eitel nicht, daß ich glauben sollte, es könne niemand besser declamieren als ich; auch bin ich so unverständig nicht, daß ich einen Mann von Genie zu einer Maschine machen wollte. Man gebe einerley Stoff mehrern Künstlern zu mahlen; jeder wird ihn nach seiner Art ausführen; und unter den verschiednen Ge mälden, die daraus entstehen, wird jedes seine besondere Schönheiten haben. Ich sage noch mehr. Man lauffe unsre Bildersäle durch, und lasse sich die Stücken zeigen, die der Künstler nach den Gedanken und der Anlage eines Liebhabers gemacht hat. Unter ihrer grossen Menge wird man kaum zwey oder drey finden, wo die Gedanken des einen, der
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Fähigkeit des andern so angemessen gewesen wären, daß das Werk nicht dabey gelitten hätte. Geniesset also eurer Rechte, ihr Schauspie ler; thut, was euch der Augenblick und euer Talent eingiebt. Seyd ihr von Fleisch, habt ihr Gefühl, so wird alles gut gehen, ohne daß ich mich darein menge; seyd ihr aber von Holz oder von Stein, so wird alles übel gehen, wenn ich auch noch so viel dabey thäte. Der Dichter mag die Pantomime dabey geschrieben, oder nicht dabey geschrieben haben: ich will es doch den Augenblick sehen, ob er nach ihr gearbeitet hat, oder nicht. Der Verfolg seines Stücks kann in beiden Fällen nicht einerley seyn; die Scenen können nicht einerley Wendung haben; man wird es an dem Gespräche merken. Wenn es eine Kunst ist, Gemälde zu erdenken, wie darf man sie allen Menschen zutrauen? Und haben alle unsere dramatische Dichter diese Kunst besessen?
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Um eine Erfahrung zu haben, dürfte man nur ein dramatisches Werk ausarbeiten, und die Pantomime dazu von denen schreiben lassen, die diese Sorgfalt für überflüßig halten. Wie viel abgeschmackte Fehler würden sie begehen? Es ist leicht, richtig urtheilen; es ist schwer, auch nur mittelmäßig ausführen. Wäre es denn also sogar unvernünftig, wenn man verlangte, unsere Richter sollten durch irgend ein wichtiges Werk vorher zeigen, daß sie wenigstens eben so viel davon verständen, als wir? Die Reisebeschreiber gedenken einer Art wilder Menschen, die auf die Vorbeygehenden giftige Nadeln blasen. Sie sind das Ebenbild unsrer Kunstrichter. Oder scheinet Ihnen diese Vergleichung übertrieben? Gestehen Sie wenigstens, daß sie jenem Einsiedler gleichen, der in einem Thale wohnte, das auf allen Seiten von Hügeln eingeschlossen war. Wenn er sich auf einem Beine umdrehte, und mit Einem Bli
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cke seinen engen Horizont überschaute, so rief er: Ich weis alles; ich habe alles gesehen. Einsmals aber bekam er Lust, sich auf den Weg zu machen, um gewisse Gegenstände in der Nähe zu sehen, die sich seinem Blicke entzogen. Er stieg also auf die Spitze von einem seiner Hügel; und wie groß war sein Erstaunen, als er sahe, welch ein unermeßlicher Raum sich um ihn und über ihn verbreitete. Er änderte nunmehr seine Rede, und sagte: ich weis gar nichts; ich habe gar nichts gesehen. Ich habe gesagt, unsere Kunstrichter gleichen diesem Manne. Ich habe mich geirrt. Sie bleiben tief unten in ihrer Hütte, und verlieren die hohe Meinung, die sie von sich gefaßt haben, nie. Die Rolle eines Autors ist eine sehr eitele Rolle; es ist die Rolle eines Menschen, der sich für fähig hält, das Publicum zu unterrichten. Und die Rolle eines Kunstrichters?
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Die ist noch weit eitler. Es ist die Rolle eines Menschen, der sich für fähig hält, denjenigen zu unterrichten, der das Publicum unterrichten zu können glaubt. Der Autor sagt: Hört mich, ihr Herren; denn ich bin euer Meister. Und der Kunst richter: Nein, hört mich, ihr Herren; denn ich bin der Meister eurer Meister. Das Publicum unterdessen läßt sich nicht irren. Ist das Werk des Autors schlecht, so spottet es eben so gut darüber, als über die Anmerkungen des Kunstrichters, wenn sie falsch sind. Der Kunstrichter ruft alsdenn: O Zeiten! O Sitten! Der Geschmack ist verdorben. — Und damit hat er sich getröstet. Der Autor seines Theils, beklagt sich über die Zuschauer, über die Schauspieler, über den Neid. Er beruft sich auf seine Freunde; er hat ihnen seine Stücke vorgelesen, ehe er es auf die Bühne bringen lassen; sie hatten
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geglaubt, es würde bis an den Himmel erhoben werden. — In der That aber hätten sie dir sagen müssen, daß es gar nichts tauge, daß weder die Anlage, noch die Charaktere, noch die Schreibart darinn gut sey; wenn sie entweder mehr Einsicht, oder mehr Freymüthigkeit besessen hätten. Glaube mir, das Publicum betriegt sich selten; dein Stück ist gefallen; weil es schlecht ist. Aber fand denn der Misanthrop sogleich Beyfall? Es ist wahr. Und o wie süß ist es, wenn man sich bey seinem Unglücke mit einem solchen Beyspiele trösten kann! Wenn ich jemals auf die Bühne trete, und herunter gepfiffen werde, so will ich mir es gewiß auch zu Gemüthe führen. Die Critik verfährt mit den Lebendigen ganz anders, als mit den Todten. Ist ein Autor todt: so sucht sie seine guten Eigenschaften ins Licht zu setzen, und seine Fehler
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zu bemänteln. Lebt er noch: so geschieht das Gegentheil; sie setzt seine Fehler ins Licht, und vergißt seine guten Eigenschaften. Dieses Verfahren hat gewissermassen seinen Grund: die Lebenden können sich bessern, aber mit den Todten ist es gethan. Der strengste Richter eines Werks unterdessen, ist der Verfaßer. Wie viel Mühe giebt er sich, bloß für sich selber? Er kennet seine heimliche Gebrechen; und diese berühret der Kunstrichter fast nie. Ich habe mich hierbey oft der Rede jenes Weltweisen erinnert: Sie reden Böses von mir? Ah, wenn sie mich so genau kennten, als ich mich selbhst kenne! — Die alten Schriftsteller und Kunstrichter unterrichteten sich vor allen Dingen selbst; sie begaben sich nicht eher auf die Bahn der schönen Wissenschaften, als bis sie aus den Schulen der Weltweisheit kamen. Und wie lange behielt der Autor nicht sein Werk bey sich, ehe er es ans Licht treten ließ? So wurde
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es denn auch reif; und Rath und Zeit und Feile machten es vollkommen. Wir wollen uns gar zu bald zeigen, und haben, wenn wir die Feder ergreiffen, doch weder Einsicht noch Redlichkeit genug. Ist das moralische System verdorben, so kann der Geschmack nicht anders als falsch seyn. Wahrheit und Tugend sind die Freundinnen der schönen Künste. Wer ein Schrift steller, wer ein Kunstrichter werden will, der fange erst an, ein ehrlicher Mann zu werden. Was kann man sich viel von dem versprechen, der sich selbst nicht stark genug zu rühren weis? Und was kann mich stärker rühren, als Wahrheit und Tugend, diese zwey mächtigsten Dinge in der Natur. Wenn man mich versichert, daß ein Mensch geitzig ist, so werde ich mir kaum einbilden können, daß er im Stande sey, etwas Grosses hervor zu bringen. Dieses Laster macht den Geist klein, und das Herz enge. Die öffentlichen Unglücksfälle sind dem Geitzigen nichts. Oft erfreuet er sich darüber. Er ist hart. Wie soll er sich zu etwas Erhabenem schwingen können? Er liegt beständig gekrümmt auf sei
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nem Geldkasten. Er kennt weder die Geschwindigkeit der Zeit, noch die Kürze des Lebens. Unbekannt mit dem allgemeinen Wohlwollen, schränkt er sich nur auf sich selbst ein. Die Wohlfahrt seines Nächsten ist in seinen Augen, in Vergleichung mit einem kleinen Stückchen gelben Metalls, nichts. Er hat nie das Vergnügen empfunden, dem Dürftigen mitzutheilen, dem Nothleidenden beyzuspringen, und mit dem Weinenden zu weinen. Er ist ein schlechter Vater, ein schlechter Sohn, ein schlechter Freund, ein schlechter Bürger. Um sein Laster gegen sich selbst zu entschuldigen, hat er sich ein Lehrgebäude machen müssen, nach welchem er seinen Lei denschaft alle Pflichten aufopfern darf. Wenn er das Mitleiden, die Freygebigkeit, die Gastfreyheit, die Liebe des Vaterlandes, oder die Liebe des menschlichen Geschlechts schildern müßte, wo sollte er die Farben dazu hernehmen? Er hält in seinem Herzen alle diese Eigenschaften für nichts, als verkehrte Thorheiten. Nach dem Geitzigen, der sich überall kleiner und nichtswürdiger Mittel bedienet, der sich nicht einmal eines grossen Verbrechens,
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um Geld zu bekommen, erkühnen würde, ist das kleinste Genie, der Aufgelegteste zu grossen Verbrechen, dem das Wahre, das Gute und das Schöne am wenigsten rühret, ein Abergläubischer. Nach dem Abergläubischen, kömmt der Heuchler. Bey dem Abergläubischen ist der Verstand verfinstert; bey dem Heuchler ist das Herz böse. Hat man sich über die Natur nicht zu beklagen, hat man von ihr einen aufrichtigen Geist und ein empfindliches Herz bekommen, so fliehe man eine Zeitlang die menschliche Ge sellschaft, und studiere sich selbst. Wie kann das Instrument die gehörige Harmonie ertönen lassen, wenn es verstimmt ist? Man suche sich von allen Dingen richtige Begriffe zu machen; man vergleiche seine Aufführung mit seinen Pflichten; man bestrebe sich ein ehrlicher Mann zu werden, und glaube ja nicht, daß diese für den Menschen so wohl angewandte Zeit, für den Schriftsteller verloren sey. Es wird von der moralischen Vollkom menheit, zu der man seinen Charakter und seine Sitten erhoben hat, eine Schimmer von Grösse und Gerechtigkeit ausfliessen, der
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sich auf alles was man schreibet, verbreitet. Hat man das Laster zu schildern, so präge man sich nur ein, wie sehr es mit der allgemeinen Ordnung, der öffentlichen und der besondern Wohlfahrt, streitet, und man wird es mit Nachdruck schildern. Ist es hingegen die Tugend: wie kann man sie andern liebenswürdig zeigen, wenn man selbst nicht von ihr bezaubert ist? Kehrt man dann wieder unter die Menschen zurück, so höre man denen fleißig zu, die gut zu reden wissen, und spreche fleißig mit sich selber. Mein Freund, Sie keönnen Aristen. Von ihm habe ich das, was ich Ihnen itzt erzehlen will. Er war damals vierzig Jahr alt. Er hatte sie vornehmlich auf die Weltweis heit gelegt. Man nennte ihn auch nur den Philosophen; weil er ohne Ehrgeitz gebohren war, und ein rechtschaffnes Herz besaß, das nie kein Neid beunruhiget hatte. Uebrigens war er gesetzt in seinem Betragen, streng in seinen Sitten, ernst und einfältig in seinen Reden. Der Mantel eines alten Philosophen war fast das einzige, was ihm fehlte; denn er war arm, und mit seiner Armuth zufrieden.
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Einsmals, als er sich vorgenommen hatte, einige Stunden bey seinen Freunden zuzubringen, und sich mit ihnen von den Wissenschaf ten oder von der Moral zu unterhalten; denn von Staatsneuigkeiten zu reden, war seine Sache nicht: so fand er sie nicht zu Hause, und entschloß sich also, ganz allein spatzieren zu gehen. Die Oerter, wo sich Menschen versammeln, besuchte er sehr wenig. Abgelegene Gegenden gefielen ihm mehr. Er gieng, und dachte, und sprach Folgendes mit sich selbst: Ich bin vierzig Jahr. Ich habe viel studiert. Man nennt mich den Philosophen. Wenn gleichwohl jetzt jemand käme, und zu mir sagte: Arist, was nennest du wahr, was gut, was schön? Würde ich sogleich wissen, was ich antworten sollte? Nein. Wie, Arist? Du weißt nicht was Wahrheit, was Güte, was Schönheit ist; und lässest dich den Phi losophen nennen? Nach einigen Betrachtungen über die Eitelkeit der Lobsprüche, die man ohne Einsicht verschwendet, und ohne Scham annimt: fing er an, dem Ursprunge dieser Grundideen unserer Aufführung und unserer Urtheile nachzu
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spüren; und fuhr folgender Gestalt bey sich zu schliessen fort. Es giebt vielleicht unter dem ganzen mensch, lichen Geschlechte nicht zwey Individua, die mit einander übereinkämen. Die allgemeine Organisation, die Sinne, die äusserliche Gestalt, die Eingeweide, haben ihre Verschiedenheit. Die Fasern, die Muskeln, die festen und flüßigen Theile, haben ihre Verschiedenheit. Der Witz, die Einbildungskraft, das Gedächtniß, die Gedanken, die Wahrheiten, die Vorurtheile, die Nachahmung, die Uebung, die Kenntnisse, die Stände, die Er ziehung, der Geschmack, das Glück, die Talente, haben ihre Verschiedenheit. Die Gegenstände, die Himmelsstriche, die Sitten, die Gesetze, die Gewohnheiten, die Gebräuche, die Regierungsformen, die Religionen, haben ihre Verschiedenheit. Wie wäre es also möglich, daß zwey Menschen vollkommen ebendenselben Geschmack, oder ebendieselben Begriffe von Wahrheiten, Güte und Schön heiten haben könnten? Die Verschiedenheit der Lebensart und der zustossenden Begebenheiten, wäre schon allein hinlänglich, auch unsere Urtheile verschieden zu machen.
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Das ist noch nicht genug. In jedem Menschen ins besondere, ist alles in einer beständigen Abwechselung; man mag das Physische oder das Moralische an ihm betrachten; der Schmerz folgt dem Vergnügen, das Vergnügen dem Schmerze; die Gesundheit der Krankheit, der Krankheit die Gesundheit. Blos dem Gedächtnisse ist es zuzuschreiben, daß wir, sowohl in Ansehung anderer, als unserer selbst, das nehmliche Individuum bleiben. In dem Alter da ich itzt bin, habe ich vielleicht nicht das geringste Stäubchen mehr von dem Körper, den ich mit auf die Welt brachte. Ich weis nicht wie weit das Ziel meiner Dauer noch entfernt ist; wenn aber der Augenblick kommen wird, daß ich nun diesen Körper der Erde wiedergeben soll, so ist ihm vielleicht von allen den kleinsten Theilchen, aus welchen er itzt bestehet, kein einziges mehr übrig. Eben so wenig gleichet sich die Seele in verschiednen Perioden ihres Lebens. Ich stammelte in meiner Kindheit. Itzt glaube ich vernünftig zu denken. Aber mitten unter diesem vernünftigen Denken, verfliegt die Zeit; und ich komme wieder zu dem Stammeln zurück. So ist es mit mir, so ist es mit
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allen beschaffen. Wie wäre es also möglich, daß ein einziger von uns, seine ganze Lebenszeit hindurch, immer einerley Geschmack behalten, immer einerley Urtheil von dem, was wahr, was gut, was schön ist, fällen könnte? Die Veränderungen, welche der Gram und die Bosheit der Menschen in uns verursachen, wären schon allein hinlänglich, auch unsere Urtheile zu verändern. Ist denn also der Mensch dazu verdammt, daß er, über die wichtigsten Gegenstände seiner Erkenntniß, über Wahrheit, Güte und Schönheit, weder mit seines gleichen, noch mit sich selbst einig seyn soll? Sind es weiter nichts als Dinge, die von der Zeit, von dem Orte, von unserer Willkühr abhangen? Sind es Worte ohne Sinn? Giebt es nichts, was wirklich so sey? Ist etwas wahr, gut und schön, weil es mich so dünkt? Und sollten alle unsere Streitigkeiten über den Geschmack endlich auf diesen Satz hinauslauffen: Ich und Du, wir beide sind zwey verschiedene Wesen, und ich selbst bin in dem Augenblick nicht mehr der, der ich dem andern war? Hier hielt Arist inne. Darauf fuhr er fort:
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Das ist gewiß, unsere Streitigkeiten können kein Ende haben, so lange sich jeder selbst zum Muster und Richter nehmen will. So viel Menschen, so viel Maasse wird es geben; und jeder Mensch ins besondere wird so viel verschiedene Muster haben, als es merklich verschiedene Perioden in seiner Lebenszeit giebt. Hieraus, dünkt mich, kann ich hinlänglich abnehmen, wie nöthig es sey, einen Maaßstab, ein Muster ausser mir zu suchen. So lange ich hiermit noch nicht zu Stande bin, so lange werden meine Urtheile größten Theils falsch, und durchgängig ungewiß seyn. Aber wovon soll ich dieses unwandelbare Maaß, das mir fehlet, und das ich suche, nehmen? — Von einem idealischen Menschen, den ich mir bilde, dem ich die Gegenstände vorlege, den ich darüber urtheilen lasse, und dessen getreues Echo ich bloß bin? — Aber dieser Mensch wird mein eignes Werk seyn. — Das schadet nicht; wenn ich ihn nur aus unveränderlichen Elementen schaffe. — Aber wo sind diese unveränderlichen Elemente? — In der Natur? — Gut; aber wie soll ich sie zusammenbringen? — Die Sache ist schwer; aber ist sie darum unmöglich? — Wenn ich
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auch schon nicht hoffen dürfte, mir ein vollkommnes Muster machen zu können, wäre ich deswegen weniger verbunden, es zu versuchen? — Nein. — Ich versuche es also. — Aber wenn das Muster der Schönheit, auf welches die alten Bildhauer hernach alle ihre Werke bezogen, ihnen so viel Aufmerksamkeit, so viel Nachdenken, so viel Mühe kostete: wozu mache ich mich anheischig? — Doch muß ich: oder ich werde ewig erröthen müssen, so oft man mich den Philosophen nennet. Hier hielt Arist zum zweytenmale inne, und etwas länger als zum erstenmale; und fuhr darauf fort. Da der idealische Mensch, den ich suche, eben sowohl ein zusammengesetztes Ding seyn muß, als ich: so sehe ich sogleich, daß die alten Bildhauer, indem sie die Verhältnisse, die ihnen die schönsten geschienen, festgesetzt, einen Theil meines Musters bereits gemacht haben. — Ja. Diese Bildsäule also will ich nehmen, und beleben. Ich will ihr die vollkommensten sinnlichen Werkzeuge geben, die der Mensch nur haben kann. Ich will ihr alle Eigenschaften geben, die ein Sterblicher nur immer besitzen kann: und mein idealisches Muster wird
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fertig seyn. — Ohne Zweifel. — Aber welches Studium! Welche Arbeit! Wie viel physische und moralische Kenntnisse werden dazu erfordert! Ich wüßte keine Wissenschaft, keine Kunst, die ich nicht aus dem Grunde verstehen müßte. — Dafür werde ich aber auch das idealische Muster von aller Wahrheit, von aller Güte, von aller Schönheit haben. — Aber wie werde ich mit diesem allgemeinen idealischen Muster zu Stande kommen, wenn mir die Götter wenigstens nicht ihren Verstand leihen, wenigstens nicht ihre Ewigkeit versprechen? Ah, ich falle in die Ungewißheit, aus der ich mich reissen wollte, wieder zurück. Hier hielt der traurige und nachdenkende Arist abermals inne. Aber, fuhr er, nachdem er einen Augenblick geschwiegen hatte, wieder fort, warum mache ich es nicht auch, wie es die Bildhauer machen? — Sie haben sich ein Muster gemacht, wie es ihr Stand erfordert; und ich habe ja auch meinen Stand. — Der Gelehrte mache sich ein idealisches Muster von einem vollkommenen Gelehrten; und durch den Mund dieses Menschen urtheile er von seinen und andrer Werken. Eben so mache es der Philosoph. —
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Alles was diesem Muster gut und schön scheinen wird, das wird es seyn. Alles was ihm schlecht, salsch und ungestalten scheinen wird, das wird es seyn. — Dieses Muster wird aus seinen Entscheidungen sprechen. — Und dieses idealische Muster wird um so viel grösser, um so viel strenger seyn, je mehr man seine Kenntnisse erweitert. — Es giebt keinen Menschen in der Welt, und es kann keinen geben, der von dem, was wahr, was gut, was schön ist, überall gleich richtig urtheile. Nein; und wenn man unter einem Menschen von Ge schmack einen solchen Menschen versteht, der das allgemeine idealische Muster der Vollkommen heit in sich selbst hat: so ist es eine Grille. Aber wozu soll ich dieses idealische Muster, das nach meinem Stande eines Philosophen (weil man mich doch einmal so nennt) eingerichtet ist, wozu soll ich es brauchen, wenn ich es haben werde? Eben dazu, wozu die Mahler und Bildhauer das ihrige brauchen. Ich muß es, nach Erforderung der Umstände, modificieren. Das ist das zweyte Studium, auf das ich mich zu legen habe. Das Studieren krümmet den Gelehrten. Durchs Exercieren lernt der Soldat einen festen
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Schritt thun, und den Kopf in die Höhe halten. Das viele Tragen macht die Lenden des Lastträgers stark. Die schwangere Frau schlägt den Kopf zurück. Der Bucklichte setzet seine Glieder anders, als der Gerade. Diese, und dergleichen Anmerkungen unzählige mehr, machen den Bildhauer, und lehren ihn, wie er sein idealisches Muster aus dem natürlichen Stande in jeden andern ihm beliebigen Stand verändern soll, indem er es bald stärker, bald schwächer macht; bald mehr oder weniger, bald so oder so verstellet. Den Mahler lehret das Studium der Lei denschaften, der Sitten, der Charaktere, der Gebräuche, sein idealisches Muster abändern, und den Menschen überhaupt in einen guten oder bösen, in einen ruhigen oder zornigen Menschen verwandeln. Und so wird aus einem einzigen Musterbilde, eine unendliche Menge verschiedner Vorstellungen auf der Bühne und auf den Ge mälden entspringen. Ist es ein Dichter? Ist es ein Dichter, der itzt arbeitet? Macht er eine Satyre oder eine Hymne? Ist es eine Satyre: so ist sein Auge wild; der Kopf steckt zwischen den Schultern; die Zähne zusam
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mengeknirscht: der Mund verschlossen; der Athem kurz und schwer; ganz wie ein Rasender. Ist es eine Hymne: so trägt er den Kopf hoch; den Mund halb offen; die Augen gen Himmel gekehret; ausser sich, entzückt; der Athem, als ob er wegbliebe; ganz wie ein Enthusiast. Und die Freude dieser beiden Männer, wenn ihnen ihre Arbeit gelungen ist, wird auch sie nicht von ganz verschiedner Art seyn? So sprach Arist mit sich selbst, und sahe, daß er noch sehr vieles zu lernen habe. Er ging nach Hause; verschloß sich funfzehn Jahre; legte sich auf die Geschichte, auf die Weltweisheit, auf die Moral, auf die Wissen schaften und Künste; und ward in seinem fünf und funfzigsten Jahre ein ehrlicher Mann, ein gelehrter Mann, ein Mann von Geschmack, ein grosser Schriftsteller, ein vortrefflicher Kunstrichter. Ende des zweyten Theils.

1* Die Franzosen nennen dergleichen Stücke, des pieces à tiroir.

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