Historische Einleitung
Irene Dingel
In der Erforschung der Frühen Neuzeit, insbesondere der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, haben in den vergangenen Jahren überwiegend solche For-
(5)schungsperspektiven im Mittelpunkt des historischen und speziell des kir-
chen- und theologiegeschichtlichen Interesses gestanden, die den Blick auf
das Entstehen der großen Konfessionskirchen mit ihren spezifischen Ausprä-
gungen in Lehre und Frömmigkeit sowie auf Vollzüge und Strukturen der
Bekenntnisbildung und Konfessionalisierung richteten. In diesen Zusammen-
(10)hängen hat in theologischen Untersuchungen nicht selten die Frage nach
Kontinuitäten und Umbrüchen zur Debatte gestanden, die man in der Ausle-
gungsgeschichte ebenso nachzeichnen kann wie in bildungs- und frömmig-
keitsgeschichtlichen Kontexten sowie in kirchlicher und gesellschaftlicher
Neuordnung. Exegese und Predigt, Bekenntnisse, Katechismen und Andachts-
(15)literatur, Schul-, Kirchen- und Visitationsordnungen sind dabei als bevorzugte
Quellengattungen in den Blick gerückt.
Die Kontroversen in ihren durchaus sehr unterschiedlichen medialen Formen
sind dagegen stets als unangenehme Begleiterscheinung der Dogmenge-
schichte abgetan worden. Man übersah oft ihre Relevanz für die Präzisierung
(20)und kontextgebundene Transformation theologischer Inhalte sowie ihre Wir-
kung auf konfessionelle Identitäts- und Gruppenbildung. Dass die mündlich
und später vor allem schriftlich ausgetragenen Kontroversen mit ihrer lehr-
mäßig konsolidierenden Kraft eine entscheidende Rolle im Vollzug bekennt-
nismäßiger Konsolidierung und in der Profilbildung der Konfessionen ge-
(25)spielt haben, wurde eher vernachlässigt. Ja, die insbesondere in der zweiten
Hälfte des 16. Jahrhunderts aufgebrochenen, vor allem innerprotestantischen
Streitigkeiten wurden nicht selten als unnützes Theologengezänk abgewertet.
Erst in den letzten Jahren hat die Forschung damit begonnen, sich unvorein-
genommen den Gründen für öffentlich ausgetragene Kontroversen, ihren
(30)Themen und ihren weitreichenden Auswirkungen zuzuwenden. Streit- bzw.
Kontroverskultur wurde als „ein Charakteristikum und eine notwendige Be-
dingung für moderne, pluralistische Gesellschaften okzidentaler Prägung“1
wiederentdeckt und dies nicht nur, aber auch in der Kirchen- und Theologie-
geschichte.2 Einen Beitrag auf diesem Weg leistet das Mainzer Forschungs-
(35)und Editionsprojekt „Controversia et Confessio“, dessen erster Band – nach
dem vorgezogenen Erscheinen des achten und letzten Bandes der Reihe im
Jahre 2008 – nun vorliegt.
1. Streitkultur im späten 16. Jahrhundert3
Problemlösung, Konsens- und Wahrheitssuche über den Weg des Gesprächs, d. h. über die Konfrontation von Rede und Gegenrede, war schon im 16.
Jahrhundert nichts Neues, sondern ein gängiges Mittel der Verständigung.
(5)Die Wurzeln dafür liegen im Disputationswesen der mittelalterlichen Uni-
versitäten, das festen Regeln folgte und bestimmte rhetorische Muster und
Techniken anwandte.4 Man war vor dem Hintergrund spätmittelalterlicher
Bildung und Universitätskultur daran gewöhnt, Lösungen auf dem Wege der
Kontroverse, vornehmlich in Gegenüberstellung von These und Gegenthese,
(10)zu erwirken. Auf das Verfahren der „disputatio“ griff man auch in reforma-
torischen Zusammenhängen sowohl in mündlichen als auch in schriftlichen
Klärungsprozessen gern und häufig zurück. Die als Disputationsthesen auf-
gestellten 95 Thesen Martin Luthers von 1517, die als feierliche Universi-
tätsveranstaltung konzipierte Heidelberger Disputation von 1518, die Leipzi-
(15)ger Disputation zwischen Luther und dem Ingolstädter Professor Johannes
Eck aus dem Jahre 1519, schließlich die städtischen Reformationskolloquien
und die großen Reichsreligionsgespräche der vierziger und fünfziger Jahre
des 16. Jahrhunderts5 sind aussagekräftige Beispiele dafür. Neu war jedoch,
dass im Zuge der Reformation die Disputation immer mehr aus dem akade-
(20)mischen Raum herauszutreten begann, in die Sphäre der Öffentlichkeit hin-
einwirkte und damit auch in den Bereich der Volkssprache überging. Man
könnte geradezu von einer Popularisierung der „Disputatio“ sprechen, die
sich von den festen rhetorischen Regeln im akademischen Ablauf emanzi-
pierte und in Gegenüberstellungen von Schriften und Gegenschriften, ja so-
(25)gar in umfangreichen Streitschriftenkontroversen Gestalt gewann. Als Kon-
trahenten standen sich nicht mehr nur Evangelische und Anhänger der römi-
schen Kirche gegenüber, sondern auch innerhalb des Protestantismus taten
sich Gegnerschaften auf. Nicht selten brachte man seine Auseinandersetzung
mit den Argumenten des Gegners auch gezielt unter dem Titel „Disputatio“
(30)als Druckschrift in die Öffentlichkeit. Die zu Recherchezwecken frei benutz-
bare Internet-Datenbank zu „Controversia et Confessio“ weist zahlreiche Ti-
tel aus, die dieses Genre für sich in Anspruch nehmen.6
Solche Debatten und Kontroversen waren kein Selbstzweck oder über-
flüssiger Begleitumstand theologischer Selbstbesinnung, sondern hatten einen
(35)durchaus beachtenswerten Stellenwert, wenn es um Klärung strittiger Sach-
-
verhalte und Entscheidungsfindung ging. Sie zielten darauf, den Gegner mit
Argumenten ins Unrecht zu setzen, ihn zu überwinden und möglichst sogar
zu überzeugen. Dies hinderte nicht, dass sich der argumentative Schlag-
abtausch mit grober Polemik und karikaturistischen Motiven paaren konnte.
(5)Streit und theologische Kontroverse waren also keineswegs nutzlos. Den
Beteiligten „geistige Sturheit und Unbeweglichkeit“ zu bescheinigen,7 ver-
kennt, dass es beiden Seiten keineswegs um das Aushandeln von Kompromis-
sen ging, sondern um die von jeder Seite in Anspruch genommene Deu-
tungshoheit religiöser, in der Heiligen Schrift verbürgter Wahrheit. Man
(10)traute ihr historische Wirkmächtigkeit zu und war davon überzeugt, dass
man den Gegner des Irrtums überführen, die Öffentlichkeit gewinnen und sie
von der Legitimität bzw. Schriftgemäßheit des eigenen Standpunkts überzeu-
gen könnte, wenn man diesen nur geschickt genug in Worte fassen und
originell genug präsentieren würde. Damit und mit der Tatsache, daß die reli-
(15)giöse Wahrheit als hohes gesellschaftspolitisches Gut galt,8 hängt zusammen,
dass den Streitschriftenautoren durchaus auch daran lag, die Öffentlichkeit vor
dem unbelehrbaren und deshalb als theologisch gefährlich eingestuften Kon-
trahenten und dessen verführerischen Lehren zu warnen. Nicht zuletzt dazu
diente der Einsatz polemischer Überzeichnungen.
(20)All dies ist charakteristisch für die nach dem Interim von 1548 einset-
zenden Kontroversen. Die sich hier entwickelnde Streitkultur machte sich die
verschiedensten literarischen Genres zu Nutze. Polemische Schriften und aka-
demische Disputationen waren ebenso Teil des Meinungsaustauschs wie Pre-
digten und Katechismen, satirische Lieder und illustrierte Flugblätter. Selbst
(25)Bekenntnisse mit ihren positiv-affirmativen, aber auch negativ-ausgrenzenden
Aussagen hatten ihren festen Platz in den verschiedenen Streitkreisen.
2. Controversia et Confessio
Der inhaltliche Zuschnitt des Forschungs- und
Editionsprojekts
Ziel des von der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur ge-Der inhaltliche Zuschnitt des Forschungs- und Editionsprojekts
(30)tragenen und in Kooperation mit der Johannes Gutenberg-Universität, Mainz,
und dem Institut für Europäische Geschichte in Mainz stehenden Editions-
projekts ist es, die theologische Streitkultur als entscheidenden Motor für die
Präzisierung reformatorischer Lehre, als Anstoß für eine vielfältige Bekennt-
nisbildung und als ausschlaggebenden Faktor für die abschließende Konsoli-
(35)dierung der Konfessionen sowie für eine nachhaltige konfessionelle Identi-
-
tätsbildung in ihren bis heute bestehenden, lehrmäßigen Charakteristika
wahrzunehmen und sie über eine Auswahl historisch und theologiegeschicht-
lich ausschlaggebender Texte in einer kommentierten Edition zugänglich zu
machen. Der Schwerpunkt liegt auf der Zeit vom Augsburger Interim des Jah-
(5)res 1548 als Auslöser der Kontroversen bis zur Erstellung von Konkordien-
formel und Konkordienbuch 1577/1580 als großangelegtem, theologischem
Einigungsversuch, der sich auf die Initiativen auch politischer Entscheidungs-
träger stützen konnte.9 Zwar verstummten die Auseinandersetzungen auch
danach noch nicht.10 Der hier gewählte chronologische Rahmen gewährleistet
(10)aber, dass eine Fokussierung auf relativ geschlossene „Streitkreise“ mit einem
jeweils klar zu identifizierenden thematischen Kern bzw. theologischen Pro-
blem vorgenommen werden kann. Wie in keinem anderen streitkulturellen
Zusammenhang der Frühen Neuzeit kamen in jenen etwa 30 Jahren – gleich-
sam wie im Zeitraffer – all jene theologischen Loci zur Sprache, die für die
(15)Identitätskonstruktion der Konfessionen, ihre spezifischen Lehrsätze und
ihre Position in gesellschaftlich-ethischen Zusammenhängen ausschlag-
gebende Relevanz erhielten. Man kann deshalb das Jahr 1548 durchaus als
theologie- und insgesamt kulturgeschichtlich bedeutsame Wendemarke iden-
tifizieren, die mit der hier einsetzenden Suche nach theologischer und be-
(20)kenntnismäßiger Identität auch die Frage nach gesellschaftlicher und politi-
scher Orientierung aufwarf. Sie tritt gewissermaßen komplementär neben
den kirchenrechtlich und rechtsgeschichtlich definierten Einschnitt, der
durch den Augsburger Religionsfrieden von 1555 gegeben ist, welcher den
Augsburger Konfessionsverwandten reichsrechtliche Duldung brachte und
(25)die obrigkeitliche Rechtsordnung von der theologisch kontroversen Wahr-
heitsfrage entlastete.11
In jenen vielschichtigen, theologisch motivierten, aber zugleich auch
gesellschaftlich-politisch wirksamen Streitigkeiten trat nach dem Tod Martin
Luthers die theologische Vielfalt des Protestantismus Augsburger Konfession
(30)in bis dahin von den Zeitgenossen kaum wahrgenommener Breite und großer
öffentlicher Resonanz zutage. Als Auslöser dafür gilt im allgemeinen das
Augsburger Interim,12 jenes kaiserliche Religionsgesetz, das nach der Nieder-
lage des protestantischen Schmalkaldischen Bundes gegen den altgläubigen
Kaiser Karl V. im Schmalkaldischen Krieg13 auf eine weitestgehende Reka-
tholisierung der evangelisch gewordenen Territorien zielte.14 Der eigentliche,
(5)inhaltliche Anstoß für die nun einsetzenden theologischen Klärungsprozesse
war jedoch der kursächsische Alternativvorschlag,15 dessen Erstellung sei-
nerseits auf die durch das Augsburger Interim ausgelösten Diskussionen
zurückging. Matthias Flacius Illyricus brachte ihn zusammen mit Nikolaus
Gallus unter der Bezeichnung „Leipziger Interim“, mit Kommentaren ver-
(10)sehen, in die Öffentlichkeit.16 Es ist heute bekannt, dass dieses „Leipziger
Interim“ nicht der einzige zeitgenössische Alternativvorschlag war, sondern
dass auch andere Obrigkeiten über ähnliche Kompromissformeln versuchten,
die Einführung des kaiserlichen Augsburger Interims zu entschärfen.17
Bekannt und zum Stein des Anstoßes aber wurde nur jenes unter Beteiligung
(15)des theologisch gebildeten Fürsten Georg von Anhalt, Philipp Melanchthons
und der Wittenberger Fakultät18 ausgearbeitete Dokument, und zwar auf-
grund der bereits erwähnten, unautorisierten Initiative des Flacius. Dies führ-
te dazu, dass man auf Seiten der Evangelischen von nun an bei all jenen Ent-
wicklungen hellhörig wurde, die auch nur den geringsten Anschein gaben,
als wollte man den reformatorischen Zuschnitt von Lehre und Leben der Ge-
meinden wieder rückgängig machen. Für die evangelische Seite stand nichts
weniger als die Tradition der Wittenberger Reformation schlechthin auf dem
Spiel, unabhängig davon, dass der in der Leipziger Landtagsvorlage ent-
(5)worfene Kompromiss ursprünglich lediglich von territorialpolitischer Rele-
vanz war und keineswegs Allgemeingültigkeit beanspruchte. Kein Wunder
also, dass die Gegner dieses „Leipziger Interims“ in der hier Gestalt gewin-
nenden vorsichtigen Annäherung an den konfessionellen Gegner eine ver-
hängnisvolle Übereinkunft zwischen „Christus und Belial“19 sahen. Sein
(10)Inhalt, in dem sich – insbesondere in der Rechtfertigungslehre und jenen
lehrmäßigen Komponenten, die auf die Rolle des freien Willens und den
Stellenwert der guten Werke zielten – eine von Martin Luther abweichende,
eigenständige Theologie Melanchthons spiegelte, löste unverzüglich heftige
Reaktionen aus.
(15)Den in diesem Zusammenhang diskutierten theologischen Streitfragen
lagen weitergehende Problematiken zugrunde, die man zwar nicht offen dis-
kutierte, die aber auf einer übergeordneten Ebene mindestens so ausschlag-
gebend waren, wie die theologischen Kontroverspunkte selbst, deren Brisanz
dadurch sogar befördert wurde. Sie wirkten verstärkend, so dass die disku-
(20)tierten theologischen Streitfragen auf diese Weise für die weitere Lehr- und
Bekenntnisentwicklung eine besondere Tragweite erhielten. Zu diesen in den
Kontroversen stets mit verhandelten Problemen gehört die Tatsache, dass
sich theologische Streitfragen nicht mehr unter Rekurs auf die bisher üb-
lichen Autoritäten im evangelischen Bereich, d. h. unter Rückgriff auf die
(25)Heilige Schrift und die Bekenntnisse, oder über die Einholung von Stellung-
nahmen und Gutachten seitens der Reformatoren oder der damals tonange-
benden Universitäten, in einer alle Seiten befriedigenden Weise beilegen lie-
ßen. Unterschiedliche Schrifthermeneutiken, Bekenntnisentwicklung und der
Generationenwechsel standen eindeutigen Lösungen im Wege. Die Kontro-
(30)versen trafen sozusagen in ein Autoritätsvakuum, für dessen Entstehen auch
die historischen Kontexte und Entwicklungen von erheblicher Bedeutung
waren. Denn Martin Luther, dessen Votum bisher nicht selten die maßgeben-
de Entscheidung herbeigeführt hatte, war am 18. Februar 1546 verstorben.
Eine Gesamtausgabe seiner Schriften – die Wittenberger Ausgabe –, die man
(35)zur Orientierung in zu entscheidenden theologischen Problemstellungen hät-
te konsultieren können, wurde zwar gerade erstellt.20 Sie stieß aber seit 1555
in der Zusammenstellung und dem Druck der Schriften des Wittenberger
Reformators, wie sie an der neu gegründeten Hohen Schule bzw. Universität
Jena vorgenommen wurden – der sogenannten Jenaer Ausgabe – auf ein
(40)Konkurrenzunternehmen, das ebenso große, wenn nicht größere Berechti-
-
gung beanspruchte.21 Philipp Melanchthon, die zweite große Wittenberger
Autorität neben Luther, war durch seine Mitarbeit an dem Leipziger Alterna-
tivvorschlag bei vielen Zeitgenossen in Misskredit geraten, selbst in den
Augen ehemaliger Schüler, obwohl er das Augsburger Interim seinerzeit ent-
(5)schieden abgelehnt hatte.22 Dasselbe galt für die Wittenberger Fakultät,
deren Mitglieder in der einen oder anderen Weise an der Erstellung des Leip-
ziger Alternativvorschlags beteiligt gewesen waren oder ihn zumindest
unterstützt hatten. Erschwerend fiel ins Gewicht, dass man auch unter Rekurs
auf die Confessio Augustana, das Grundsatzbekenntnis der Evangelischen, die
(10)aufbrechenden theologischen Fragestellungen und Kontroverspunkte nicht
mehr zu beantworten vermochte. Denn die z. T. recht offene Formulierung
ihrer Artikel konnte, bei aller reformatorischen Grundsätzlichkeit, eine Viel-
falt lehr- und bekenntnismäßiger Schattierungen zulassen.23 Hinzu kamen
die territorialpolitischen Konstellationen, die bestimmt waren durch die seit
(15)der wettinischen Landesteilung vom 26. August 1485 bestehende dynasti-
sche Rivalität zwischen dem ernestinischen und dem albertinischen Sachsen.
Sie hatte durch den Übergang der Kurwürde und des Kurkreises von der
ernestinischen an die albertinische Linie nach dem verlorenen Schmalkaldi-
schen Krieg neuen Auftrieb erhalten.24 Damit verbunden war auch der
(20)Verlust der Wittenberger Universität, den die Ernestiner durch die Gründung
einer Hohen Schule – später Universität – in Jena25 und entsprechende Pro-
fessorenberufungen26 auszugleichen versuchten. Auf diese Weise wurde in
der Theologischen Fakultät in Jena ein Gegengewicht zu Wittenberg auf-
gebaut. Dies war motiviert durch das Bestreben der Ernestiner, die Tradition
(25)der Wittenberger Reformation in ihrer genuinen Prägung durch Martin
Luther für sich zu reklamieren.27 Während die albertinische Seite und ihre
Theologen in den schulischen und universitären Ausbildungsstätten28 darauf
setzten, die von Luther und Melanchthon ausgehenden theologischen Ein-
flüsse zusammenzuhalten, beanspruchten die Ernestiner und die von ihnen
(5)berufenen und eingesetzten Amtsträger, eine wesentlich und entscheidend
von Luther geprägte Theologie in Lehre und Leben weiterzutragen und damit
die alleinigen Beschützer und Bewahrer dieser als unverfälscht und ursprüng-
lich angesehenen Reformation zu sein. Dies spiegelte sich letzten Endes auch
in den konkurrierenden Ausgaben der Schriften Martin Luthers wider, wie sie
(10)in Wittenberg und in Jena konzeptionell unterschiedlich entstanden.29
Zieht man dies alles auch unter dem Aspekt der ungelösten Autoritäten-
frage in Betracht, so handelt es sich bei den nach dem Augsburger Interim
einsetzenden theologischen Kontroversen um notwendige Identifikations- und
Klärungsprozesse. Zu klären waren nicht nur die einzelnen theologischen
(15)Streitpunkte, sondern auch und vor allem die Frage, in welcher Ausrichtung
man die Tradition der Wittenberger Reformation, das Wittenberger reforma-
torische Erbe, bewahren und fortsetzen wollte: entweder im Sinne einer aus-
schließlich von Martin Luther her definierten theologischen Lehre oder aber
im Sinne einer Luther und Melanchthon integrierenden Theologie oder schließ-
(20)lich in überwiegender Betonung der von Melanchthon ausgehenden Impulse,
die den Weg dazu ebneten, sich in Lehre und Leben der Kirche gegebenen-
falls auf konfessionell europäische Kontexte einzulassen und sich damit dem
Calvinismus zu öffnen. Bis heute sehen manche Forscher darin – vereinfa-
chend und daher nicht unbedingt zutreffend – einen Kampf um die „ lutheri-
(25)sche Orthodoxie“. Die nach dem Interim aufbrechenden Kontroversen stellen
also den Versuch dar, unter differenzierter Aufnahme von Lehrmeinungen
Luthers und Melanchthons zu einer dauerhaften theologischen Klärung der
verschiedenen Problemstellungen zu gelangen. Sie sind ein wichtiger Faktor
im Ringen um das reformatorische Erbe und im Streben nach konfessioneller
(30)Identitätsbildung.
Vor diesem Hintergrund und im Zuge der Streitigkeiten führte die Frage, wer
überhaupt das Erbe der Wittenberger Theologie recht verwalten und unver-
fälscht weitertragen könne, zu themen- und problemspezifisch motivierten
Gruppenbildungen. Das bedeutet, dass sich die jeweils formierenden theologi-
-
schen Lager keineswegs fest eingrenzen oder von ihren Mitgliedern oder de-
ren Wirkungsstätten her definieren lassen. Vielmehr konnten sich, ausgerichtet
an der jeweiligen theologischen Fragestellung und den sich ergebenden
Lösungsperspektiven, unterschiedliche Koalitionen bilden. Gnesiolutheraner
(5)bzw. Flacianer, Melanchthonianer bzw. Philippisten rangen in wechselnden
Fronten und unterschiedlichen personellen Zusammensetzungen miteinander
um die jeweils als unaufgebbar gewerteten Komponenten dessen, was man
als genuin reformatorisches Erbe der Wittenberger Lehrer wertete. Je nach
Gegenstand des Streits kam es dabei unter den beteiligten Theologen zu stets
(10)neuen Gegnerschaften und Allianzen. Eine starre Aufgliederung der Betei-
ligten in die Lager von „Gnesioluthertum“ und „Philippismus“ geht daher an
der Komplexität des theologiegeschichtlichen Befundes ebenso vorbei wie
an den historischen Konstellationen, selbst wenn die Bezeichnungen als Ver-
abredungsbegriffe zur Charakterisierung verschiedener Positionen durchaus
(15)praktikabel und zur Gewährleistung wissenschaftlicher Orientierung tauglich
sein können.30 So entschieden und kompromisslos z. B. die Gruppe der so-
genannten Gnesiolutheraner und die der Melanchthonanhänger bzw. Melan-
chthonianer in den Diskussionen um den Stellenwert der guten Werke
(Majoristischer Streit31 ), um die Rolle des Willens bei der Bekehrung des
(20)Menschen (Synergistischer Streit32 ), um das Abendmahlsverständnis33 oder
um den Umgang mit den sogenannten Adiaphora (Adiaphoristischer Streit34 )
aufeinandertreffen konnten, so einmütig traten sie gegen die auf aristotelische
Kategorien zurückgreifende und zu einer anthropologischen Überbetonung der
Erbsünde neigende Lehre des Matthias Flacius Illyricus und seiner Gesin-
nungsgenossen (Erbsündenstreit Vgl. unsere Ausgabe, Bd. 6.) sowie gegen die spiritualisierende Recht-
fertigungslehre des nach dem Interim in Königsberg wirkenden, ehemaligen
(5)Nürnberger Reformators Andreas Osiander (Osiandrischer Streit35 ) an. Flacius
seinerseits fand sich im Antinomistischen Streit,36 in dem der „tertius usus
legis“ zur Debatte stand, gemeinsam mit seinem 1540 in Wittenberg promo-
vierten Gesinnungsgenossen Joachim Mörlin37 eher auf der Seite Melan-
chthons, den er in anderen Zusammenhängen nicht müde wurde anzugreifen.
(10)Nie zuvor war die theologische Pluralität innerhalb des Protestantismus deut-
licher hervorgetreten als im Rahmen dieser Kontroversen. Sie entzieht sich
nicht nur allen Schematisierungen und konfessionellen Zuschreibungen, son-
dern führt auch die Vielfalt individueller Theologie- und Bekenntnisbildung
vor Augen.
(15)Im Durchgang durch den vielfältigen Austausch von Streitschriften aller Art,
die diese Debatten in Bewegung hielten, lässt sich zugleich nachvollziehen,
wie die Schüler Luthers und Melanchthons ihr eigenes theologisches Profil
herausbildeten. Denn die Kontroversen zwangen sie dazu, das gemeinsame
theologische Erbe neu zu sichten und – den historischen Herausforderungen
(20)entsprechend – in eigener Akzentuierung zu präzisieren. Sie einfach als
Epigonen ihrer großen Meister abzustempeln oder als Reformatoren in die
„zweite Reihe“ zu stellen, geht im historischen Urteil fehl und übersieht,
welch großen Einfluss sie als theologisch eigenständige Denker, als Vermitt-
ler und Multiplikatoren auf die evangelische Lehr- und Bekenntnisbildung
(25)bis in die Gegenwart hinein ausgeübt haben. Ihre Transferleistung ist in die-
ser Hinsicht enorm. Auffällig ist zudem die zeitgenössische Resonanz, die
die Streitigkeiten hervorgebracht haben, abzulesen an der breiten Beteiligung
unterschiedlichster Autoren – auch solcher, deren Identität heute nur noch
schwer zu erschließen ist. Dieses Echo belegt, auf welch großes Interesse die
(30)diskutierten Themen damals trafen. Ihre Relevanz stand außer Zweifel. Auch
nicht theologisch Gebildete beteiligten sich an der Diskussion und trugen so
die Streitgegenstände und diese Art der Streitkultur ins einfache Volk.38
Die Quellenedition „Controversia et Confessio“ ist an dieser Schnittstelle von
erster und zweiter Reformatorengeneration, von theologischer Elitendiskus-
sion und volksnaher Popularisierung der Kontroversen platziert. Sie dokumen-
tiert und kommentiert einen für die Bekenntnisbildung ausschlaggebenden
(5)Klärungs- und Differenzierungsprozess im Ringen um das reformatorische
Erbe, der die Grenzen eines Diskurses unter theologisch gebildeten Amtsträ-
gern aufzubrechen in der Lage war und eine alle Gesellschaftsschichten mobi-
lisierende „Streitkultur“ hervorbrachte.
3. Die Kontroversen
(10)Der sich insgesamt zu acht unterschiedlichen Streitzusammenhängen oder
„Streitkreisen“ verdichtende Wechsel von Kontroversschrifttum ist kenn-
zeichnend für eine „Interims“-Zeit, die insofern als regelrecht traumatisch
empfunden wurde, als hier die Integrität von Lehre und Bekenntnis der Re-
formation angesichts politisch-militärischer und kirchenpolitischer Bedro-
(15)hungen für die Zeitgenossen in bisher nicht gekannter Weise auf dem Spiel
stand. Nicht von ungefähr verband sich diese Problematik denn auch mit
apokalyptischen Vorstellungen und Fragen eines legitimen Widerstands ge-
gen eine Obrigkeit, die den nach der Wiederentdeckung des Evangeliums am
Ende der Zeiten offenkundig massiv auftretenden Antichrist und seine Ma-
(20)chenschaften stützte – so stellte es sich jedenfalls dem auf evangelischer Sei-
te vorherrschenden, heilsgeschichtlich geprägten Geschichtsbewusstsein als
Verständnishorizont für die historische Erfahrung dar.39 Man hat sich des-
halb von dem Vorurteil zu befreien, dass es sich in den Kontroversen ledig-
lich um theologische Polemiken und Spitzfindigkeiten gehandelt habe. Viel-
(25)mehr öffnen die in diesem Zusammenhang erschienenen Druckschriften ein
Fenster auf die geistesgeschichtlichen Strömungen in der damaligen Gesell-
schaft, damit verbunden auch auf die politisch motivierten Einflussnahmen
gesellschaftlicher Entscheidungsträger und nicht zuletzt auf das Wechsel-
spiel intellektuellen Austausches innerhalb einer nicht nur für das damalige
(30)Reich, sondern für Europa generell geltenden konfessionellen Gemengelage.
Denn im Verlauf des Streitschriftenwechsels standen – wie bereits ausge-
führt – in herausragender Weise die Theologie Luthers und jene Melan-
chthons sowie die sich inhaltlich und/oder chronologisch daran anschließen-
den theologischen und konfessionellen Parallel- und Weiterentwicklungen
(35)zur Debatte, welche in der Geistesgeschichte Europas bleibende Spuren hin-
terließen. Nicht selten wurden die in den Kontroversen vertretenen Positionen
in anderen politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen aufgegriffen
und argumentativ eingesetzt. Deren Verbreitung erfolgte überwiegend über
lateinische Fassungen der Streitschriften.40
Die umfassende Sichtung der Quellen und deren inhaltliche Erschlie-
ßung in einer Datenbank41 haben ergeben, dass die einzelnen Streitkreise weit-
(5)aus differenzierter zu betrachten sind, als dies bisher getan wurde. So ist z. B.
deutlich zwischen den Schriften gegen das Augsburger Interim und denen
des sogenannten „Adiaphoristischen Streits“ zu unterscheiden, die man oft
gemeinsam als Bestandteile einer als „Interimistischer Streit“ benannten
Auseinandersetzung gesehen hat. Die Bezeichnungen „Interimistischer“ und
(10)„Adiaphoristischer Streit“ wurden dann vielfach synonym gebraucht.42 Tat-
sächlich aber ist eine kleinere Gruppe von Schriften abzugrenzen, die aus-
drücklich den Widerstand gegen das Augsburger Interim thematisiert und
deshalb recht eigentlich den „Interimistischen Streit“ (1548/1549) ausmacht,
der freilich in diesem Falle nicht stringent dem Abfolgemuster von Schrift und
(15)Gegenschrift folgt. Vielmehr richteten sich die Gegenschriften gezielt auf das
Augsburger Interim und seine Inhalte, für dessen ebenso pointierte Verteidi-
gung hier lediglich eine Schrift des Doppelkonvertiten Georg Witzel43 gebo-
ten werden kann.44 Als erster hatte sich Melanchthon selbst mit einem das
Interim dezidiert ablehnenden „Iudicium“ bzw. „Bedenken“ zu Wort gemel-
(20)det,45 das zunächst handschriftlich kursierte und die Stellungnahme der Wit-
tenberger Theologen repräsentierte.46 Es handelte sich um eine der von Kur-
fürst Moritz erbetenen Stellungnahmen. Der offizielle Status des Interims ist
bereits vorausgesetzt, aber eine gedruckte Fassung dieses kaiserlichen Reli-
gionsgesetzes lag zu jenem Zeitpunkt noch nicht vor, so dass die in der
Vorrede zum Interim ausgesprochene Beschränkung seiner Geltung auf die
evangelischen Stände auch noch nicht bekannt war.47 Dies erklärt, warum
Melanchthon an manchen Stellen seine Kritik relativ zurückhaltend formulier-
te, anders als in seinem später für den Meißner Landtag erstellten Iudicium.48
(5)Von der Druckgeschichte her allerdings kam Flacius mit seinem ablehnen-
den Urteil zum Interim Melanchthon schließlich wohl doch zuvor.49 Dennoch
ist die Wirkung von Melanchthons Schrift und sein Einfluss auf weitere Stel-
lungnahmen nicht zu gering zu veranschlagen. In einer Zeitspanne von nur
wenigen Monaten brachte die Magdeburger Offizin des Michael Lotter eben-
(10)so wie die des Christian Rödinger zahlreiche weitere Zurückweisungen des
Interims, aus verschiedenen Territorien und Städten kommend, heraus.50 Nicht
selten handelte es sich um die Erstfassungen später abgemilderter Stellung-
nahmen, die in ihrer Kompromisslosigkeit nicht zuletzt dazu dienten, den in
Magdeburg geübten Widerstand gegen das Religionsgesetz zu stützen,51 wo
(15)man sich über das kaiserliche Verbot, gegen das Interim zu publizieren, ein-
fach hinwegsetzte, um der Öffentlichkeit exemplarisches Verhalten in einer
um des Glaubens willen eingetretenen Krisensituation vor Augen zu führen.
Wortführer war der in Illyrien geborene Luther- und Melanchthonschüler
Matthias Flacius,52 der eine ganze Gruppe von Interimskritikern und Wider-
-
ständlern – nicht nur in Magdeburg – um sich scharte.53 Dazu gehörte u. a.
auch der enge Vertraute, Freund und erste „Bischofsordinand“54 Martin Lu-
thers, Nikolaus von Amsdorf.55 Seine unter dem Titel „Antwort, Glaub und
Bekenntnis“ publizierte Schrift, auf deren Titelblatt er sich als „verjagter Bi-
(5)schof zu Naumburg“ stilisierte,56 macht deutlich, wie sehr man die Lage als
Verfolgungs- und Entscheidungssituation empfand. Selbst ein (Privat-) Be-
kenntnis eines einzelnen konnte zum Motor der Kontroverse werden, ebenso
wie eine Predigt,57 ein literarisch konstruierter Dialogus58 und die nicht weni-
gen Spottschriften und satirischen Lieder.59 Auch jenseits der Reichsgrenzen
(10)nahm man die Interimsproblematik wahr. So äußerte sich Johannes Calvin
z. B. mit einer ausführlichen Abhandlung dazu.60 Eine englische Überset-
zung von Melanchthons Bedenken mit einer Vorrede durch den späteren
Glaubensmärtyrer John Rogers61 belegt die Rezeption auf der britischen In-
sel und eine durch den dänischen Bischof Peder Palladius und den Schotten
(15)John MacAlpin abgefasste Stellungnahme macht deutlich, dass man auch in
Dänemark den Vorgängen im Reich nicht gleichgültig gegenüberstand.62
Alle weiteren Kontroversen aber entzündeten sich an der als Alternative
zum Augsburger Interim ausgearbeiteten Leipziger Landtagsvorlage.63 Dies
berifft weitestgehend auch den „Adiaphoristischen Streit“ (1549–1560), der
gerade deshalb so viel Zündstoff in sich barg, weil der Leipziger Alternativ-
(5)vorschlag zum Augsburger Interim – anders als dieses – eine evangelische
Theologie, insbesondere die reformatorische Rechtfertigungslehre, mit alt-
gläubigen Zeremonien kombinierte, so dass in den Augen der Gegner die
eigentlich sinnvolle und erstrebenswerte Übereinstimmung von Lehre und
Ritus64 nicht mehr gewährleistet war. Wenn das Augsburger Interim eine
(10)päpstliche Lehre – mit den zugestandenen Ausnahmen von Priesterehe und
Laienkelch – zusammen mit römischen Riten und Lebensstrukturen
wiedereinzuführen bestrebt war, forderte das zwar insgesamt gesehen den
Widerstand der Evangelischen heraus, gab aber nicht Anlass für eine
Diskussion um die der Lehre eigentlich nachgeordneten Zeremonien als
(15)sogenannte freigelassene Mitteldinge.65 Es war der Leipziger Alternativ-
entwurf, dessen Konzession an die kaiserliche Politik gerade darin bestand,
evangelische Lehre mit altgläubigen Zeremonien zu unterlegen, der die Fra-
ge nach der Einheit von Lehre und Bekenntnis mit Kirchenverfassung bzw.
kirchlichem Kultus zur Debatte stellte. Damit war generell das Problem der
(20)Freiheit kirchlicher Gebräuche von obrigkeitlichem Einfluss angesprochen.
Hinzu kam die schon mit dem Augsburger Interim aufgeworfene grundsätz-
liche Problematik des Verhältnisses von Kirche und „Staat“, Religion und
Obrigkeit. Hatte die politische Obrigkeit überhaupt das Recht, in kirchliche
Angelegenheiten einzugreifen? War in dieser Krisenzeit, die man durch das
endzeitliche Ringen zwischen Christus und Belial,66 bzw. zwischen Christus
und dem Antichrist charakterisiert sah, nicht ein kompromissloser Widerstand
gegen die unrechtmäßig handelnden Machthaber angebracht, selbst wenn man
dafür Vertreibung und Exil auf sich zu nehmen hatte? Die für den Leipziger
(5)Landtag 1548 ausgearbeitete Vorlage schlug hier – so sahen es die Gegner –
offenbar einen falschen, den Ernst der Situation verkennenden Weg ein,
nämlich den der diplomatischen Verhandlungen und des politisch motivier-
ten Kompromisses.67 Der Leipziger Theologe Johannes Pfeffinger, der an
den damaligen, zu der Leipziger Landtagsvorlage führenden Verhandlungen
(10)beteiligt gewesen war, versuchte zwar, die Vorwürfe zu entkräften, indem er
die Hintergründe und Maßgaben der seinerzeit getroffenen Entscheidungen
thematisierte,68 aber der Streit, für den Pfeffinger die in Magdeburg versam-
melten Theologen in scharfer Polemik verantwortlich machte, ließ sich nicht
beilegen.69 Nicht zu Unrecht verwies er darauf, dass sich in dieser Kontro-
(15)verse der Generationenkonflikt zwischen Lehrern und Schülern, d. h. zwi-
schen der ersten und der zweiten Reformatorengeneration, niederschlug.70
Dass dies nicht nur für den Adiaphoristischen Streit galt, zeigen die verschie-
denen, sich zeitlich und zum Teil thematisch anschließenden weiteren Kon-
troversen.
(20)An diese Auseinandersetzung um die Adiaphora, deren weitere Aus-
läufer noch weit über die bis 1552 andauernde Kernkontroverse hinausgin-
gen, schloss sich der „Majoristische Streit“ (1552–1570) an, der das Ver-
hältnis von Glauben und Werken thematisierte.71 Der Melanchthonschüler
Georg Major72 hatte stets auf der Seite seines Praeceptors gestanden, auch
als man Melanchthon vorwarf, dass seine im Leipziger Alternativentwurf
zum Interim enthaltene Rechtfertigungslehre katholisierende Tendenzen be-
günstige. Die Kontroverse begann mit einer Publikation aus der Feder des
(5)Nikolaus von Amsdorf,73 in der er Johannes Bugenhagen und vor allem Ma-
jor beschuldigte, die evangelische Rechtfertigungslehre zu verfälschen. Denn
Major, dessen Wechsel als Superintendent in das mansfeldische Eisleben
gerade anstand, vertrat in Weiterentwicklung melanchthonischer Aussagen
die These, dass gute Werke zur Seligkeit nötig seien und niemand ohne gute
(10)Werke selig werden könne. Dem setzte Amsdorf – in Sorge um die Bewah-
rung der Lutherschen Rede von der Rechtfertigung „sola gratia“ – die über-
spitzt formulierte Behauptung entgegen, dass gute Werke, ganz im Gegen-
teil, zur Erlangung der Seligkeit schädlich seien. Damit war im weitesten
Sinne die Frage nach dem Stellenwert ethischen Handelns im Leben des
(15)Christen gestellt. Die Auseinandersetzung blieb nicht auf diese beiden Geg-
ner beschränkt. Zusätzlich trat eine Verschärfung dadurch ein, dass Major im
Januar 1552 die Streitfrage auf die Kanzel brachte und, durch die Mansfelder
Geistlichen zur Rede gestellt, seinen „Sermon von S. Pauli und aller gott-
fürchtigen Menschen Bekehrung zu Gott“ (1553)74 gegen den Rat seines
(20)Lehrers Melanchthon publizierte. Damit zog er unverzüglich den Spott des
Flacius auf sich, der die Predigt abschätzig als „das lange Comment“ qualifi-
zierte. Major hatte in seinem „Sermon“ eine ausführliche Erläuterung seiner
Lehre geboten und die Werke als auf die Rechtfertigung „sola fide“ folgenden
neuen Gehorsam und Früchte des Glaubens dargestellt, ohne die der Mensch
(25)seine in der Rechtfertigung gründende Seligkeit wieder aufs Spiel setzen wür-
de. Die reformatorische Rechtfertigungslehre durfte in seinen Augen nicht in
moralische Indifferenz münden. Die sich an dieser Problematik eröffnenden
Fronten, die u. a. Matthias Flacius und Justus Menius, den Superintendenten
von Gotha, als Gegner gegenüberstellte,75 waren keineswegs einheitlich.76
(30)Die Eisenacher Synode von 1556 bot Menius schließlich die Möglichkeit,
seine Position gegen diejenige Amsdorfs zu verteidigen, und beide unter-
zeichneten zunächst deren in sieben Thesen formulierte Beschlüsse.77 Frei-
lich distanzierte sich Amsdorf später wieder davon, insbesondere von der
ersten These, die ihm ein deutliches Zugeständnis an die Position Majors ab-
(5)genötigt hatte: „…bona opera sunt necessaria ad salutem, in doctrina legis
abstractive et de idea tolerari potest“.78 Weder die Eisenacher Synode noch
das spätere Altenburger Religionsgespräch79 von 1568/1569, das drei Jahre
nach dem Tod des Nikolaus von Amsdorf, des einstigen Hauptkontrahenten
Majors, stattfand, konnten die Angelegenheit dauerhaft beilegen.
(10)Noch während der Majoristische Streit schwelte, brach mit dem „ Anti-
nomistischen Streit“ (1556–1571) ein weiterer Konfliktherd auf. Die hier
geführte Kontroverse um Gesetz und Evangelium, ihr Verhältnis zueinander
und ihre Funktion im Blick auf das Leben des Einzelnen war im Grunde
nicht neu. Sie kann als die dritte Phase einer seit dem Anfang der Reformati-
(15)onszeit existierenden Auseinandersetzung betrachtet werden.80 Eine gewisse
Kontinuität ergab sich nämlich aus der Verwandtschaft der theologischen
Fragestellungen. Neu war jedoch zum einen die religionspolitische Situation,
in der der – dritte – Antinomistische Streit stand, und zum anderen die Ein-
bettung in einen übergreifenden Kontroverszusammenhang. Die jetzt disku-
(20)tierte Fragestellung ergab sich aus den Zusammenhängen des Majoristischen
Streits. Um ihn zu schlichten hatte nämlich die Eisenacher Synode formu-
liert, die Aussage, gute Werke seien notwendig zum Heil, sei in der Lehre
vom Gesetz „abstractive et de idea“ statthaft.81 Nun, im Antinomistischen
Streit, ging es um jene Funktion des Gesetzes, die in dem hier angesproche-
nen Sinne als normative Anleitung auf die Gestaltung christlichen Lebens
zielte und der man als „tertius usus legis“ oder „usus paedagogicus“ Gestal-
(5)tungskraft beimaß.82 Auch hier standen die Positionen unversöhnt nebenein-
ander. Allerdings spielte sich die Auseinandersetzung diesmal weitgehend
innerhalb der Gruppe der Gnesiolutheraner selbst ab. Ausnahmen sind die
Auseinandersetzungen zwischen Andreas Musculus, Professor und später
Generalsuperintendent in Frankfurt/O.,83 und dem Melanchthonanhänger
(10)Abdias Praetorius,84 welcher an der Notwendigkeit der guten Werke festhielt
und Musculus dadurch zu antinomistischen Äußerungen provozierte, sowie
jene Invektiven, die Anton Otho, Pfarrer in Nordhausen,85 direkt gegen Melan-
chthon richtete. Diese Streitfrage, die die Rolle des Gesetzes im Leben des
Christen im Blick hatte, förderte die bisher nur latent vorhandenen theologi-
(15)schen Gegensätze unter den strengen Hütern des Wittenberger Erbes deutlich
zu Tage. Ein Teil von ihnen verwarf den dritten Gebrauch nach wie vor und
verstand die guten Werke bzw. das ethische Handeln des Christen als aus
dem Glauben hervorgehende Frucht, die jeglicher normativen Anleitung ent-
behren könne. Zu ihnen gehörten Andreas Poach, Pfarrer in Erfurt,86 Anton
(20)Otho, Pfarrer in Nordhausen, sein Kollege Andreas Fabricius sowie Michael
Neander, Schulrektor in Ilfeld,87 und der bereits erwähnte Andreas Musculus.
Ein anderer Teil jedoch, vornehmlich Matthias Flacius und Joachim Mörlin,
damals Superintendent in Braunschweig,88 verteidigten den von Melanchthon
klarer als von Luther ausgeführten „tertius usus legis“ entschieden und räum-
(25)ten somit der Predigt des Gesetzes neben derjenigen des Evangeliums einen
legitimen Platz ein. Sie standen also, ebenso wie übrigens Johannes Wigand,
hinter den auf Konsens zielenden Formulierungen der Eisenacher Synode,
woran im Rückblick einmal mehr deutlich wird, wie vielfältig und wenig
einheitlich die theologischen Positionen sogar innerhalb der Gruppe der
strengen Lutheranhänger waren. Interessant ist darüber hinaus der Wandel
im Melanchthonbild, der sich inzwischen vollzogen hatte. Während der
(5)Praeceptor in der ersten und zweiten Phase der antinomistischen Auseinan-
dersetzungen von Johann Agricola noch als ‚Gesetzesprediger‘ gebrand-
markt worden war, ereignete sich im Zuge dieser Kontroversen um den
„tertius usus legis“ genau das Gegenteil. Melanchthon und seine Anhänger
gerieten – da man ihnen vorwarf, die Funktionen von Gesetz und Evangeli-
(10)um zu vermischen – in den Verdacht, in gewisser Weise selbst antinomis-
tisch zu lehren. Anstoß erregt hatte nämlich seine in verschiedenen Varian-
ten zu findende und nicht nur von seinen Schülern, sondern z. B. auch von
Christoph Pezel aufgegriffene Aussage, das Evangelium sei eine ‚praedicatio
poenitentiae‘,89 denn erst durch das Evangelium werde die eigentliche
(15)Schuld des Menschen, nämlich sein Unglaube, das Nicht-Erkennen-Wollen
des Sohnes Gottes, die ‚neglectio filii‘, aufgedeckt.90 Dagegen bezogen
Matthäus Judex, Johannes Stössel und später Johannes Wigand Position.91
Auch wenn der Streit allmählich abebbte, blieb aber die theologische
Hauptfrage nach dem „tertius usus legis“ weiterhin virulent und wurde –
(20)ebenso wie die Problemstellungen der anderen Streitigkeiten – von der
Konkordienformel von 1577 schlichtend aufgegriffen.92
In dem etwa gleichzeitig verlaufenden „Synergistischen Streit“
(1555–1560/61)93 stand ebenfalls eine Lehre zur Debatte, die durch Melan-
chthon eine besondere Ausprägung erfahren hatte. Während er noch in den
(25)Loci communes von 1521, übereinstimmend mit Luther, die Gebundenheit
des menschlichen Willens vertreten hatte,94 hatte er diese Position in Sorge
um die Wahrung der ethischen Verantwortlichkeit des Menschen allmählich
weiterentwickelt. Schon in der ersten grundlegenden Überarbeitung der Loci,
der sogenannten secunda aetas von 1535, sprach er im Blick auf die Bekeh-
(30)rung des Menschen von drei zusammenwirkenden Faktoren, nämlich dem
Wort Gottes, dem Heiligen Geist und dem menschlichen Willen, der zustim-
-
mend und nicht zurückweisend auf das Wort Gottes reagiere. Diese Rede
von den „tres causae concurrentes“ behielt Melanchthon bis in die letzte
Auflage seiner Loci von 1559 hinein bei.95 Auf diese Weise konnte er so-
wohl an der Eigenverantwortlichkeit des Menschen festhalten, als auch die
(5)Rechtfertigung „sola fide“ und „sola gratia“ vertreten. Diese Lehrweise, die
man als „Synergismus“ bezeichnete, war auch in den Leipziger Alternativ-
vorschlag zum Augsburger Interim eingegangen,96 hatte aber keineswegs,
weder im Anschluss der secunda aetas der Loci noch direkt nach Bekannt-
werden des Interims, zu nennenswerten Reaktionen geführt. Erst im Jahre
(10)1555, als der Leipziger Professor und Superintendent Johannes Pfeffinger,
der seinerzeit ebenfalls an der Leipziger Landtagsvorlage mitgewirkt hatte,
seine ‚Fünf Fragen zum freien Willen‘97 herausbrachte, kam es zum Streit.
Zunächst verlief die Debatte als Gelehrtenkontroverse mit dem Weimarer
Hofprediger Johannes Stoltz;98 ab 1558 weitete sie sich zu einer öffentlich
(15)wahrgenommenen Auseinandersetzung aus, die weitere Kontrahenten einbe-
zog – darunter den Jenaer Professor Victorin Strigel99 auf der einen und
seinen Kollegen Matthias Flacius auf der anderen Seite. Die Debatte brachte
zahlreiche Schriften und Gegenschriften hervor und erreichte, nicht zuletzt
auch durch die Erstellung des Weimarer Konfutationsbuchs von 1559 und
(20)dessen obrigkeitliche Durchsetzung im ernestinischen Sachsen,politische
Dimensionen.100 Das unter der Federführung des Flacius abgefasste Konfuta-
tionsbuch sollte nämlich nicht nur die theologischen Spannungen im Innern
glätten, sondern in seiner Abgrenzung von allen auf reformatorischem Nähr-
boden entstandenen „Häresien“ auch nach außen hin deutlich machen, dass
(25)sich das ernestinische Herzogtum in der legitimen Nachfolge der durch
Martin Luther geprägten Wittenberger Reformation sah. Da Strigel und sein
Gesinnungsgenosse Andreas Hügel, Superintendent in Jena,101 nicht bereit
waren, diese Maßnahme und den theologischen Inhalt des Konfutationsbuchs
mitzutragen, ließ der Herzog sie festnehmen und inhaftieren. Nur durch
Intervention namhafter Persönlichkeiten kamen sie schließlich wieder frei,
ohne jedoch in ihre alten Positionen zurückkehren zu können. Mit einer Dis-
putation vom 2. August 1560 im Saal des Weimarer Schlosses versuchte
Herzog Johann Friedrich der Mittlere – allerdings vergeblich – den sich auch
(5)politisch auswirkenden theologischen Streitigkeiten schließlich ein Ende zu
bereiten.102 Während Strigel weiterhin offen den melanchthonischen Synergis-
mus verteidigte103 und die Wirkungsmöglichkeiten des menschlichen Wil-
lens bzw. deren Einschränkung durch die Erbsünde schilderte, sah sich Fla-
cius dazu herausgefordert, die abgrundtiefe erbsündliche Verderbtheit des
(10)gesamten Menschen stark zu machen und vor diesem Hintergrund die Fähig-
keit des menschlichen Willens zum Guten grundsätzlich zu negieren. Der
Synergistische Streit, der im Grunde die einst zwischen Luther und Erasmus
diskutierte Frage des freien Willens in neue Kontexte transferierte und wie-
der aufnahm,104 beschränkte sich keineswegs auf die genannten Gegner, son-
(15)dern mobilisierte durchaus weitere Kreise. Auffällig ist auch hier, wie oft das
„Bekenntnis“ bzw. die „Confessio“ ihren Platz im Streitkontinuum fand.
Das im „Synergistischen Streit“ diskutierte Problem, wie weit der Mensch
eine freie Option für Gott entwickeln könne, hing eng mit der Frage nach dem
christlichen Menschenbild zusammen. Dessen Charakterisierung durch die
(20)Erbsünde blieb zwar allgemeiner Konsens, ungeklärt aber war, ob der Mensch
von ihr in substantieller Weise durchdrungen und deshalb zum Guten absolut
unfähig (so Matthias Flacius) oder nur akzidentiell durch die Erbsünde affi-
ziert sei (so Victorin Strigel) und deshalb auf das Handeln Gottes immerhin
mit entsprechenden Impulsen reagieren könne. Theologisch eindeutige Aussa-
(25)gen über den freien Willen und dessen Fähigkeiten zum Guten waren nur auf
der Grundlage eines eindeutigen Verständnisses der Erbsünde und ihrer Aus-
wirkungen auf die menschliche Beschaffenheit möglich. Die von Strigel ver-
tretene Aussage, der Mensch verfüge über einen Willen, der in der Lage ist,
sich bei der Bekehrung zustimmend oder ablehnend zu verhalten, musste al-
(30)so mit einer Erbsündenlehre korrelieren, die für diese Fähigkeit des mensch-
lichen Willens Raum ließ. Die Weimarer Disputation spitzte sich daher sehr
schnell auf die Frage des Verständnisses der Erbsünde zu. Die Quellenlage
zeigt deutlich, dass sich so aus dem synergistischen Streit heraus eine weite-
re Kontroverse entspann, deren neue Argumentationslinien es rechtfertigen,
sie als thematisch eigenen Streitkreis zu werten: der Streit um das Verständ-
(5)nis der Erbsünde (1560/61ff).105 Strigel hatte schon während des Weimarer
Kolloquiums die philosophischen Kategorien von Substanz und Akzidens in
die Auseinandersetzung eingebracht, so dass ihm sein Gegner Flacius zur
Last legte, die Erbsünde lediglich als ein schlechtes Akzidens an dem an sich
gut gebliebenen Wesen des Menschen zu werten und dessen sündliche Ver-
(10)derbnis ganz unzulässig zu verharmlosen. Nach Flacius’ Überzeugung dage-
gen hatte die Erbsünde die wesenhaft zum Menschen gehörenden Kräfte
nicht etwa lediglich geschwächt, sondern ganz und gar verderbt, ja zum Teil
sogar vernichtet. Aus Strigels Position dagegen sah er die – in die Nähe der
römischen Lehre rückende – Schlussfolgerung resultieren, dass auch in dem
(15)gefallenen Menschen letztlich noch eine sittlich gute Kraft erhalten geblie-
ben sei. Demgegenüber wollte Flacius der absoluten Sündhaftigkeit und Er-
lösungsbedürftigkeit des Menschen Ausdruck verleihen. Dies veranlasste ihn
zu behaupten, die Erbsünde sei – ganz im Gegensatz zu dem was Strigel
lehrte – die Substanz des Menschen geworden oder gehöre zumindest zu sei-
(20)ner Substanz. Für diese Aussage konnte er sich sogar Luther zum Gewährs-
mann machen, der ebenfalls den Terminus „substantia“ oder „Natur“ bzw.
„Wesen“ im Zusammenhang mit der Erbsündenlehre in Anschlag gebracht
hatte, allerdings ohne ihn im aristotelischen Sinne verwenden zu wollen.106
Flacius jedenfalls ging es darum festzuhalten, dass die Sünde den Menschen
(25)so wesenhaft durchdrungen habe, dass weder etwas Gutes an ihm sei, noch
er etwas Gutes aus sich hervorbringen könne. Dabei hatte er unterschieden
zwischen einer „substantia materialis“, d. h. der Materie, aus der der Mensch
ursprünglich geschaffen worden und die – wenngleich geschwächt – erhalten
geblieben sei, und einer „substantia formalis“, die er mit der Erbsünde
(30)gleichsetzte und die daher einer neuen creatio ex nihilo in Jesus Christus
bedürfe.107 Die Strigelsche Aussage, die Erbsünde sei ein Akzidens, konnte
und wollte er auf keinen Fall gelten lassen. Trotz aller Differenzierungen, die
Flacius in seine Rede von der Substantialität der Erbsünde einfließen ließ,
war seine Position doch von einer leidenschaftlichen Kompromisslosigkeit
gekennzeichnet. Dies hat ihn und die ihm folgenden Anhänger dieser Lehre,
(5)die sog. Flacianer, zu denen u. a. der Mansfelder Hofprediger Cyriacus Span-
genberg108 gehörte, in einen bleibenden Gegensatz zum Luthertum gebracht.
Flacius’ Erbsündenlehre trieb die Gruppe der Gnesiolutheraner definitiv in die
Spaltung. Selbst seine früheren Gesinnungsgenossen, wie Johannes Wigand,
Tilemann Heshusius und Nikolaus Gallus, zogen sich von Flacius zurück und
(10)brandmarkten seine theologische Position öffentlich als Irrlehre. Auch die
Konkordienformel verwarf die flacianische Erbsündenlehre, ohne freilich der
Kontroverse dadurch ein Ende setzen zu können.109 Diese theologische Son-
derentwicklung hat sich noch lange, trotz der lutherischen Ausgrenzung, vor
allem in evangelischen Gebieten Österreichs gehalten, wo die Flacianer als
(15)Exulanten Unterschlupf fanden, evangelischen Minoritätengemeinden vor-
standen und ihre reformatorische Identität in Abgrenzung von einem katholi-
schen Umfeld zu behaupten hatten. Die flacianische Erbsündenlehre zielte
darauf und hatte auch das Potential dazu, der evangelischen Rechtfertigungs-
lehre „sola gratia“ besonderen Nachdruck zu verleihen.
(20)Mitten in dieser Gemengelage spielte sich der Osiandrische Streit
(1549–1552ff) ab.110 Nicht nur chronologisch gehört er in die Reihe der nach
dem Interim aufgebrochenen Streitigkeiten, sondern auch thematisch ist er
Teil der diskutierten Themen, selbst wenn er sich nicht direkt am Text des
Augsburger Interims bzw. an dem des Leipziger Alternativentwurfs entzün-
(25)dete. Denn ebenso wie im Majoristischen, Antinomistischen und Synergisti-
schen Streit sowie im Streit um die Erbsündenlehre stand auch hier die refor-
matorische Lehre in grundlegenden Punkten zur Debatte. Hinzu kam die
zwischen der Rezeption Luthers und jener Melanchthons aufbrechende Dif-
ferenz. Denn die Universität Königsberg, an der sich der Streit seit dem
(30)Wechsel Andreas Osianders von Nürnberg nach Königsberg abspielte,111 hatte
sich in ihrer Lehre stets nach der Universität Wittenberg ausgerichtet, an der
Melanchthon der führende Kopf war. Osianders Misstrauen dagegen und
sein Insistieren auf seiner Übereinstimmung mit Martin Luther, von dessen
Rechtfertigungslehre er jedoch in eigenständiger Entwicklung abwich,
(5)brachten ihn in Gegensatz zu seinen Königsberger Kollegen. Die gesamt-
politische Situation, in die hinein die Kontroverse nach dem Interim traf, gab
ihr zusätzlich Brisanz. In Abgrenzung von Melanchthon entwickelte Osian-
der eine spiritualisierende Rechtfertigungslehre, welche vom Wirken der
„iustitia essentialis“ der Trinität ausging. Sie fließt – so Osiander – durch
(10)den Glauben des einzelnen und durch Einwohnung der göttlichen Natur
Christi in den Menschen ein. Damit wandte sich Osiander scharf gegen die
von Wittenberger Seite vertretene Imputationslehre.112 Eine einfache An-
rechnung der Gerechtigkeit Gottes wollte Osiander nicht als adäquaten Aus-
druck des Rechtfertigungsprozesses gelten lassen. In seiner Disputation über
(15)die Rechtfertigungslehre vom 24. Oktober 1550 verurteilte er diejenigen,
„welche da lehren, das wir allein umb der vergebung der suͤnde willen fur
gerecht geachtet werden und nicht auch von wegen der gerechtigkeit Christi,
der durch den glauben in uns wonet“.113 Osianders Auffassung zufolge muss
der Menschen zuvor durch Einwohnung der göttlichen Natur Christi vergött-
(20)licht werden, um überhaupt von Gott angenommen werden zu können. Er
kann sich demnach nicht einfach auf eine „iustitia formalis“, d. h. auf eine
durch die Vergebung der Sünden von außen an ihn herangetragene, fremde
Gerechtigkeit berufen. Voraussetzung für den Rechtfertigungsprozess, der
sich nach Osiander in wachsender Vereinigung mit Christus vollzieht, ist die
(25)historisch und chronologisch zu einem fernen, vergangenen Zeitpunkt – vom
Standpunkt Osianders aus vor ca. 1500 Jahren – von Christus am Kreuz
vollbrachte Erlösung. Erlösung und Versöhnung des Menschen mit Gott
treten in Osianders Theologie mithin auseinander. Bereits am 5. April 1549,
kurz nach seiner Ankunft in Königsberg, hatte er in einer Disputation diese
(30)Rechtfertigungslehre zumindest in Ansätzen deutlich gemacht. Zur Ausein-
andersetzung kam es aber erst durch seine Disputationsthesen vom 24. Okto-
ber 1550. Opponenten waren der an der Universität Königsberg lehrende
Theologe Melchior Isinder114 und Martin Chemnitz, der damals als herzog-
-
licher Bibliothekar in Königsberg wirkte.115 Nicht nur in Schriften und Ge-
genschriften traten die sich formierenden Lager gegeneinander an, sondern
auch von den Kanzeln herab polemisierte man. Osianders Lehre erntete von
allen Seiten Widerspruch. Sie einte sogar die sonst durchaus nicht mitein-
(5)ander sympathisierenden Gruppen der Gnesiolutheraner und Philippisten in
ihrem Protest. Zum herausragenden Gegner Osianders wurde Joachim Mör-
lin, seit 1550 Inspektor und Prediger am Königsberger Dom.116 Seine Kritik
richtete sich darauf, dass Osiander das historische Kreuzesgeschehen von der
Rechtfertigung abgetrennt hatte, so dass das Kreuz Christi für die Rechtfer-
(10)tigung des Menschen im Grunde nicht mehr von Relevanz war. Dagegen
vertrat er in seiner Schrift „Von der Rechtfertigung des Glaubens“,117 in der
er seine Rechtfertigungslehre zusammenfassend darlegte, entschieden den
Wittenberger Standpunkt und den von Melanchthon festgehaltenen Gedan-
ken einer forensischen „iustificatio“. Aber eine Einigung war nicht in Sicht.
(15)Selbst die theologischen Verhandlungen, die auf Geheiß des Herzogs zwi-
schen Osiander und Mörlin stattfanden, scheiterten. Außer Mörlin meldete
sich sogar Melanchthon selbst zu Wort. Und auch Flacius machte sich zum
Sprecher von Melanchthons Rechtfertigungslehre.118 Eine andere – eigenwil-
lige – Richtung schlug Franciscus Stancarus119 ein, der von Krakau kom-
(20)mend im Jahre 1551 eine Hebräischprofessur in Königsberg angetreten und
unverzüglich in den bereits laufenden Streit eingegriffen hatte.120 Seine Osi-
anders Lehre diametral entgegen gesetzte Behauptung, „per naturam huma-
nam Christi tantum sumus reconciliati, et non per divinam“121 , war nicht frei
von nestorianischen Tendenzen,122 so dass die Königsberger Kollegen nicht
(25)gerade glücklich darüber waren, in ihrem Streit mit Osiander ausgerechnet in
Stancarus einen Bundesgenossen zu haben. Ähnlich wie der Erbsündenstreit
vermochte auch der Osiandrische Streit die je nach Streitkreis und Diskussi-
onsgegenstand in unterschiedliche Lager auseinanderfallenden Evangeli-
schen noch einmal gegen einen gemeinsamen Gegner zusammenzuführen.
(5)Andreas Osiander zog die Ablehnung annähernd aller zeitgenössischer Theo-
logen auf sich,123 einerlei ob sie sich eher der melanchthonischen oder der
lutherischen Seite zugehörig fühlten.
Von weitreichender Bedeutung waren die Auseinandersetzungen um
Abendmahl und Christologie (1570–1574),124 die zwar – anders als die
(10)Mehrzahl der anderen Kontroversen – nicht direkt den Leipziger Alternativ-
vorschlag zum Augsburger Interim und die dort niedergelegte Theologie
zum Ausgangspunkt hatten, aber vor dem Hintergrund des 1548 aufgebro-
chenen Bremer Abendmahlsstreits zwischen Albert Hardenberg und den Bre-
mer Stadtpfarrern125 sowie dem zwischen dem Hamburger Pastor Joachim
(15)Westphal und Johannes Calvin ab 1552 ausgetragenen Zweiten Abendmahls-
streit verliefen.126 Letzterer hatte – blickt man auf die Beteiligten – einen
regelrecht europäischen Diskussionsraum eröffnet.127 Die Auseinanderset-
zungen um das rechte Verständnis des Abendmahls kamen, angefacht durch
den Consensus Tigurinus128 von 1549, nicht mehr zur Ruhe. Auch im kurpfäl-
(20)zischen Heidelberg tat sich mit der Kontroverse zwischen Tileman Heshusius
und dem Diakon Wilhelm Klebitz ein Streitherd auf.129 Die in Kursachsen ver-
laufende Kontroverse um Abendmahl und Christologie ist in diesem weit-
räumig abzusteckenden Kontext zu sehen. Die hier formulierten Lehren ent-
wickelten sich perspektivisch zum grundlegenden Unterscheidungsmerkmal
(25)der evangelischen Konfessionen, was mit Blick auf den Augsburger Religi-
onsfrieden von 1555 rechtlich und politisch gesehen nicht ohne Brisanz war.
Mit veranlasst waren die Auseinandersetzungen der siebziger Jahre nicht zu-
letzt auch durch die Positionierung der Universitäten Wittenberg und Leipzig
in der nachinterimistischen Zeit. Die durch einen Generationenwechsel verän-
derte personelle Besetzung der Theologischen Fakultäten beider Universitäten
spiegelte nämlich den Einfluss Philipp Melanchthons und die Ausrichtung an
seiner Theologie wider. Dem trug auch die konfessionelle Orientierung des
(5)Kurfürstentums Sachsen Rechnung, das im Jahre 1566 das überwiegend aus
Melanchthonschriften bestehende Corpus Doctrinae Philippicum130 von 1560
als Lehr- und Bekenntnisgrundlage verbindlich gemacht hatte.131 Dies führte
dazu, dass sich nicht wenige Reibungen ergaben, als der Stuttgarter Theolo-
ge Jacob Andreae mit Unterstützung Christophs von Württemberg, Julius’
(10)von Braunschweig-Wolfenbüttel und damals noch Wilhelms von Hessen im
Jahre 1568 sein theologisches Einigungswerk begann. Nicht nur die Würt-
temberger, sondern auch die norddeutschen, überwiegend niedersächsischen
Theologen gerieten mit ihren kursächsischen Kollegen in Auseinanderset-
zungen um die christologische Zweinaturenlehre und ihre Auswirkungen auf
(15)das Abendmahlsverständnis. Im Zuge dieser Debatten gewann die lutheri-
sche Lehre – in durchaus unterschiedlichen Akzentuierungen – deutliches
Profil. Man betonte selbstverständlich – primär unter Rückbezug auf die
biblischen Einsetzungsworte – die Lehre von der Realpräsenz nicht nur der
Gottheit, sondern auch der Menschheit Christi (Leib und Blut) unter den
(20)Abendmahlselementen, zog aber in abgrenzender Auseinandersetzung mit
einer von dem Genfer Reformator Theodor Beza beeinflussten Exegese die
„communicatio idiomatum“, d. h. die Mitteilung der göttlichen Eigenschaften
der Allgegenwart, der Allwissenheit und der Allmacht von der göttlichen an
die menschliche Natur Christi, als zusätzliche Argumentationsfigur heran.132
(25)Dem traten die zu einem calvinischen Verständnis des Abendmahls tendie-
-
renden Philippisten in Kursachsen entgegen.133 Ihre sich durchaus im Rah-
men der Lehre Melanchthons bewegende Theologie hatte bereits durch den
unter Federführung Christoph Pezels entstandenen Wittenberger Katechis-
mus134 in Kirche und Unterricht Fuß gefasst. Erst durch die anonyme Veröf-
(5)fentlichung der Exegesis perspicua des Mediziners Joachim Curaeus wurde
man sich auch am kurfürstlichen Hof der lehrmäßigen Veränderungen und
möglicher politischer Auswirkungen auf Reichsebene bewusst, wobei nicht
zuletzt die Konstellation unter den kurfürstlichen Räten und der Einfluss der
streng lutherischen Kurfürstin Anna, der Gattin Augusts I., und ihres Hofpre-
(10)digers, Georg Listhenius, eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten.135
Dies zog harte, bis zu Ausweisung und Gefängnishaft gehende Maßnahmen
des Kurfürsten nach sich. Die Theologen waren zu einer Revision ihrer Lehre
gezwungen, die freilich mit der von ihnen geforderten Unterschrift unter die
Torgauer Artikel136 keineswegs im Sinne des strengen Luthertums ausfiel,
(15)sondern immer noch versuchte, eine behutsame Integration der Theologie
Luthers und Melanchthons zu gewährleisten.137 Die kurfürstliche Reaktion
auf eine Entwicklung, die man aus lutherischer Perspektive in der Literatur
gern als „Kryptocalvinismus“ bezeichnet hat, war letzten Endes auch moti-
viert durch die Erfahrungen des erst kurz zurückliegenden Blutbads der
(20)Bartholomäusnacht in Frankreich (1572) und gespeist durch die Sorge, ange-
sichts einer womöglich von der Confessio Augustana abweichenden Abend-
mahlslehre den Schutz des Augsburger Religionsfriedens für Kursachsen zu
verspielen und vergleichbaren Übergriffen ausgeliefert zu sein. Der sich bis
über den Sturz dieses angeblichen „Kryptocalvinismus“138 hinziehende Aus-
(25)tausch von Schriften und Gegenschriften macht nicht nur den fortschreiten-
den theologischen Identitätsfindungsprozess im Luthertum einerseits und im
Calvinismus andererseits deutlich, sondern führt eindrücklich vor Augen,
wie weit konfessionelle Optionen und Politik einander bedingten.
Das sich in den nachinterimistischen Streitigkeiten äußernde Streben nach
(30)theologischer Eindeutigkeit und bekenntnismäßiger Identität und damit zu-
gleich nach gesellschaftlicher und politischer Orientierung war ein ausschlag-
gebender Faktor dafür, dass sich schließlich politische Obrigkeiten und Theo-
logen gemeinsam um ein Einigungswerk bemühten, das möglichst alle auf-
-
gebrochenen Fronten befrieden und integrieren sollte. Dies gelang in der
1577 vorliegenden Konkordienformel und dem 1580 gedruckten Konkor-
dienbuch allerdings nur teilweise, obwohl die Formula Concordiae – gemäß
ihrem Selbstverständnis als Interpretation und Wiederholung der Confessio
(5)Augustana – dem Augsburger Bekenntnis jene lehrmäßige Eindeutigkeit zu
verleihen suchte, die zu einer endgültigen Schlichtung der Debatten notwen-
dig war. Die Tatsache aber, dass man fast alle Themen – in unterschiedlicher
Intensität – weiterdiskutierte, zeigt, dass sich die Dynamik der „Streitkultur“
inzwischen weit über die rein inhaltlichen Anliegen hinausentwickelt hatte.
(10)Nicht zuletzt ging es weiterhin um die Rivalität von Schulen und Universitä-
ten, verknüpft mit territorialen und politischen Gegensätzen und ausgerichtet
auf die Frage nach einer für die Zukunft Orientierung gebenden „auctoritas“.
Die Bezeichnung „Interim“ wurde in der Folgezeit zu einer Chiffre bzw. zu
einem Synonym für jedes als unrechtmäßig empfundene obrigkeitlich- politi-
(15)sche Eingreifen in religiöse Kultur.139
4. Die Konzeption der Edition
Die hier vorliegende kritische Edition unterscheidet sich von anderen
vergleich-baren Quelleneditionen insofern, als sie nicht das schriftliche Werk eines be-
stimmten Autors zusammenträgt und dabei dessen allmähliche persönliche
(20)Entwicklung nachzeichnet oder die Entstehungsgeschichte bestimmter Schrif-
ten und die sich darin spiegelnden Veränderungen dokumentiert bzw. rekon-
struiert. Hier wird vielmehr ein themenzentrierter Zugang gewählt, der die
jeweils rezipierten, d. h. historisch und theologiegeschichtlich wirksam ge-
wordenen Texte der „Streitkreise“ im Blick hat und über eine gezielte, dem
(25)Verständnis dienende Kommentierung zugänglich macht. Diese Ausrichtung
an einer themenorientierten, rezeptionsgeschichtlich angelegten Konzeption
führt dazu, dass Schriften mehrerer unterschiedlicher Verfasser, die im Laufe
der behandelten Auseinandersetzungen zwischen 1548 und 1577/80 mitein-
ander in einen Dialog oder Streitschriftenwechsel eintraten, bzw. einen
(30)weiteren kontroversen Austausch in Gang setzten, in einem Band zusam-
mengeführt werden, um so das diskursiv-argumentative Vorgehen, den Ge-
dankenfortschritt und die theologische Entwicklung bzw. religionspolitische
Stellungnahme vor dem Hintergrund des historischen Geschehens zu doku-
mentieren. Die Bände führen den Benutzer also einerseits diachron – d. h.
(35)chronologisch und inhaltlich aufeinander aufbauend – durch ca. dreißig Jahre
Kontroverskultur und erschließen andererseits unter thematischem Gesichts-
punkt die für jede Kontroverse maßgebliche Synchronie. Jeder Streitkreis wird
in einem Band durch den Abdruck exemplarischer, aussagekräftiger Quellen
aufgearbeitet. Durch unterschiedliche und mehrfache Beteiligungen an Aus-
-
einandersetzungen kann derselbe Autor in verschiedenen Bänden mit zentra-
len bzw. für die weitere Entwicklung im theologischen Klärungsprozess ent-
scheidenden und aussagekräftigen Schriften anzutreffen sein.
Da es in diesem Zusammenhang nicht um Rekonstruktionen ursprünglicher
(5)Vorlagen und Erstausfertigungen gehen kann, sondern vielmehr um die Do-
kumentation des Entstehens und endgültigen Ausformulierens verschiedener,
meist einander entgegengesetzter theologischer Positionen im Vollzug von öf-
fentlich ausgetragenen Auseinandersetzungen und Einigungsversuchen, wird
als editorischer Ausgangspunkt stets jene Ausfertigung einer Schrift heran-
(10)gezogen, die als erste gedruckt in die Öffentlichkeit kam, rezipiert wurde
und Reaktionen provozierte (textus receptus). Eventuelle spätere Überarbei-
tungen und inhaltliche Erweiterungen werden im textkritischen Apparat
nachgewiesen. Jenseits dieser Kriterien stehende Stücke, die aber wichtige
Verständnishilfen bieten, werden gegebenenfalls in einem Anhang geboten.
(15)Durch eine gezielte Auswahl ausschlaggebender, im Argumentationsverlauf
wichtiger Stücke für die Edition sind sowohl Überschaubarkeit als auch Les-
barkeit der Bände gewährleistet. Die vom Aufkommen gedruckter Schriften
her gelegentlich ausufernden Streitigkeiten sind in dieser Auswahlausgabe
also nicht „in toto“, aber in notwendiger und zu rechtfertigender Beschrän-
(20)kung auf die im jeweiligen Diskurs zentralen Texte gezielt erschlossen. Auf
Textkürzungen, die stets die Gefahr in sich bergen, das Verständnis des In-
halts zu verstellen, wurde bewusst verzichtet. Der in der Edition nicht abzu-
bildende gesamte Umfang der jeweiligen Streitschriftenwechsel ist zuvor in
einer bio-bibliographischen Datenbank dokumentiert worden,140 die sowohl
(25)Auskünfte über die jeweiligen Autoren gibt und so die Möglichkeit bietet,
Gelehrtennetzwerke und Bildungskontexte nachzuverfolgen, als auch alle
nachzuweisenden Streitschriften bibliographisch und mit einer kurzen In-
haltsangabe erfasst. Die Datenbank ist im Internet zu Recherchezwecken frei
verfügbar.141
(30)Ausführliche historische Einleitungen zu jedem Band und zu den einzelnen
edierten Stücken zielen darauf, den Benutzer in die jeweiligen historischen
Hintergründe und die diskutierte Thematik einzuführen und diese in ihrer
Bedeutung für die daran anschließenden Entwicklungen zu problematisieren.
Schwerpunkte liegen dabei auf den theologiegeschichtlichen Zusammenhän-
(35)gen und den politischen, territorialen, gegebenenfalls auch universitären Be-
zügen. Die Einleitungen fügen sich im Idealfall zu einer fortlaufend lesbaren
historischen Gesamtdarstellung „en miniature“ für die dokumentierte Zeit-
spanne zusammen. Eine gezielte textkritische und eine sachliche Kommen-
-
tierung machen die Edition kompatibel sowohl für den wissenschaftlichen
Gebrauch in der Forschung als auch für den Einsatz in der universitären
Lehre. Die Edition ist zugänglich für die unterschiedlichsten Fragestellungen
der Forschung, da auf fragestellungsgeleitete Interpretationen oder individu-
(5)elle Wertungen bewusst verzichtet wird. Der sachliche Kommentar bietet sol-
che Informationen, die unter sprachlichem Aspekt zum Verständnis der Texte
und unter inhaltlicher Perspektive zum Verständnis der theologiegeschicht-
lichen und historischen Zusammenhänge unerlässlich sind. Zitate und An-
spielungen auf die Bibel und auf Schriften der Kirchenväter werden unter
(10)Angabe der Fundorte in gängigen Editionen umfassend nachgewiesen. Die
für alle Bände zu Grunde gelegten Editionsrichtlinien versuchen, weitgehende
diplomatische Genauigkeit im Umgang mit den Vorlagen und benutzer-
freundliche Lesbarkeit durch eine behutsame Normalisierung und moderne
Interpunktion so weit wie möglich miteinander in Einklang zu bringen.142