Predigt Nr. 9 – Pr. 104B (DW IV,1) – BT 14vb–19rb; LT 22ra–26vb und
26vb–27va; AT 18ra–22va; KT 33va–36rb
[14vb]
Überschrift
Absatz 1
Absatz 2
FN-Anzahl: 3
1 Die
ander
1 predig am suntag zwischen der octave der heiligen drey
künig
2 gibt berichtung, ob die geistliche geburt allwegen
geschee oder underweilen und wie das gemuͤt soll ledig sein von allen
bilden und wercken unnd wie es sey in der stille in dem schweigen und was der
vernunfft gegenwurff sey.
2 Item wie sich der mensch
halten sol, der gern aller ding ledig wer, auch wie sich ein ley halten sol,
der nit weißt dann von leiblicher uͤbung und doch etwas gelobt hat
zuͦ thuͦn.
3 Alles in frag wiß gestelt uff
die wort Christi
Luce ii:
4 "
bIn his que
patris mei sunt oportet me
a."
3
5 "Es ist not, das ich sy
in den dingen, die meins vatters seind."
1 Die zweite Predigt am Sonntag in
der Oktav des Dreikönigsfestes erklärt, ob sich die geistliche Geburt immerzu
vollziehe oder nur manchmal und wie das Innere [des Menschen] von allen
bildlichen Vorstellungen und Werken frei sein soll und wie es sich mit dem
Stillschweigen verhält und was es ist, womit sich die Vernunft befasst.
2 Weiterhin, wie sich der Mensch verhalten soll, der
gerne frei von allen Dingen wäre, und auch wie sich ein Ungelehrter verhalten
soll, der nichts anderes kennt als körperliche Werke und doch ein Gelübde
abgelegt hat.
3 Alles dies bezieht sich in Form von
Fragen auf die Worte Christi im 2. Kapitel bei Lukas:
4 "In his que patris mei sunt oportet me."
5 "Ich muss in
den Dingen sein, die meinem Vater gehören."
Abschnitt 1
Absatz 3
FN-Anzahl: 7
1 Dise wort dienent uns gar eben zuͦ unser red, wann ich
willen hab zuͦ reden von der ewigen geburtt, die zeytlichen ist
worden
4 und in der seel taͤglichen geboren
würt
b in irem innigsten
c in dem grund on allen ussern
d zuͦfall.
2 Das ist vor allen
dingen not.
3 Wer diser geburt soll gewar werden in im,
das er sey in den dingen, die des
eA vatters seind
f.
5
1 Diese Worte passen sehr gut für
unsere Predigt, denn ich möchte von der ewigen Geburt sprechen, die in das
irdische Leben gekommen ist und täglich ohne äußere Einwirkung im innersten
Grund der Seele erfolgt.
2 Das Folgende ist dazu
unabdingbar:
3 Wer diese Geburt in sich erfahren will,
der muss in den Dingen sein, die dem Vater gehören.
Abschnitt 2
Absatz 4
FN-Anzahl: 7
1 Was eygentschafft hat der vatter?
2 Man
eygnet im zuͦ vor anderen personen den gewalt.
6
3 Also mag nimmer kein mensch in das befinden diser
geburt sicherlich
g kommen, es
h geschech dann mitt grossem gewalt.
4 Der mensch mag nit für basser kommen dann mit einem grossen gewalt
thuͦn dem ussern menschen allen synnen sinnen in allen dingen
abbrechen.
7
5 Da muͦß grosser gewalt sein, da alle krefft
8
hindertruckt sollen getriben und gezempt werden und irs wercks absteen und
abgeen
i.
6 Disen
allensampt muͦß gewalt geschehen, es get nit anders zuͦ dann mit
gewalt.
7 Davon sprach
Christus selber:
8 "Das rych gotts leydt
gewalt, und die gewaltigen rauben es."
9
1 Welche Eigenheit hat der Vater?
2 Man spricht ihm, anders als den andern [göttlichen]
Personen die Gewalt zu.
3 Dementsprechend kann niemals
ein Mensch diese Geburt mit Gewissheit erfahren, wenn es nicht mit großer
Gewalt geschieht.
4 Der Mensch kann nicht weiter voran
kommen, als dass er mit vehementer Gewalt alle Sinneswahrnehmungen des äußeren
Menschen in jeder Hinsicht verhindert.
5 Dazu gehört
vehemente Gewalt, weil alle Kräfte zurückgetrieben, eingepfercht und gezähmt
werden müssen, damit sie von ihrem Werk ablassen und und verschwinden.
6 Ihnen allen muss Gewalt angetan werden, es geht
nicht anders als mit Gewalt.
7 Darüber sagte Christus
selbst:
8 "Das Reich Gottes erleidet Gewalt, und die, die
Gewalt tun, reißen es an sich."
Abschnitt 3
Absatz 5
FN-Anzahl: 24
1 Nuͦ felt hie in ein frag von der geburt, da wir vor von
geredt haben, ob dise geburt al
Bwegen geschee oder underweilen.
2 Da sag ich euch:
3 Als sich der mensch
darzuͦ schickt
j und
[15ra]
muͤssiget sich offt
k tag unnd nacht
lunnd thuͦt all sein macht
darzuͦ
l, daz er aller ding vergesse unnd sich
hierinn allein wiß.
10
4 Hie
m nimm ein underscheidt von diser
frag:
5 Der mensch hat ein wyrckende vernunfft und ein
leydende und ein mügliche.
11
6 Die wyrckend vernunfft steet in irem werck allwegen
mitt einer gegenwertigkeit etwas
n zuͦ wyrcken.
7 Aber die mügliche steet
o in einer
haltung
poder habung
p also, das ein mensch vor zehen jaren sprach, das hatt er bey
im wol in gedenchen.
8 Es ist yetzund nit noch dann:
9 So ist es im als nahe, als do er yetzund an gedenckt
unnd wyrckt.
10 Eins hat er in einer habung, das ander in
einer gegenwertiger wyrckung.
12
11 Syhe
q, also ist es mit disem.
12 Unser herr sprach:
13 "Ein klein solt ir mich yetzund nit sehen und aber ein klein
C solt ir mich sehen."
13
14 Also der getreüw gott etwan so zeigt
r er sich unnd etwan so verbürgt er sich.
15 Do unser herr die drey jünger mit im uff dem berg hett und in
anzeigt
s die klarheit seynes leybs, die er hett von
der vereinigung
t der gottheitt unnd die wir sollen
haben nach der urstend.
16 Zuͦhand do sanct
Peter diß sach, do were er gern ymmer do
beliben.
14
17 Also in der warheit:
18 wo der
mensch guͦts findt, von dem mag er sich bey nicht gescheyden als ferr,
als es guͦt ist.
19 Wo nuͦn die bekentniß
das findt, da muͦß die liebe nachvolgen
15 in die gedechtnyß und die selb allein
u.
16
20 Bey nicht mag sie sich
v
scheiden, sie finde dann etwas boͤß daran.
17
21 So
w das unser herr wol weißt, darumb
muͦß er underweilen sich
x verbergen und bedecken.
1 Nun stellt sich hier eine Frage in
Bezug auf die Geburt, von der wir zuvor gesprochen haben: ob sich diese Geburt
immerzu vollziehe oder nur manchmal.
2 Dazu antworte ich
euch:
3 [Die Geburt vollzieht sich,] wenn sich der Mensch
dazu bereit macht und tagsüber und in der Nacht Zeit darauf verwendet und sein
ganze Kraft dazu gebraucht, alle [anderen] Dinge zu vergessen und nichts
anderes zu kennen als sie allein.
4 Hierzu höre eine
Erklärung [zur Beantwortung dieser] Frage:
5 Der Mensch
hat ein wirkende Vernunft und ein leidende und eine mögliche.
6 Die wirkende Vernunft befindet sich bei ihrem Werk stets in
einer bestimmten Zeit, um etwas zu bewirken.
7 Die
mögliche [Vernunft] jedoch findet sich in einer Haltung oder in Gedanken
bewahrt, so dass ein Mensch das, was er vor zehn Jahren sagte, noch gut in
seiner Erinnerung behält.
8 Es gehört weder dem jetzigen
[Zeitpunkt] an, noch dem späteren:
9 Und [doch] ist es im
genauso vertraut wie das, woran er jetzt denkt und tut.
10 Das eine gehört seiner [inneren] Haltung an, das andere dem Tun in der
Gegenwart.
11 Schau genau hin, denn so verhält es sich mit
dieser Sache:
12 Unser Herr sagte:
13 "Eine kurze Zeit werdet ihr mich jetzt nicht mehr sehen, und wieder nach
einer kurzen Zeit werde ihr mich sehen."
14 Genau so zeigt
sich der verlässliche Gott manchmal, und manchmal verbirgt er sich.
15 So [war es auch, als] unser Herr auf dem Berg die drei Jünger
bei sich hatte und ihnen die Verklärung seines Körpers offenbarte, die er durch
die Einheit mit der göttlichen Natur besaß und die wir [erst] nach der
Auferstehung haben werden:
16 Als der heilige Petrus das
sah, wollte er sofort für immer an diesem Ort bleiben.
17 Es stimmt nämlich:
18 Wo der Mensch auf etwas Gutes
stößt, kann er sich durch nichts davon trennen, solange dieses gut ist.
19 Wo also die Erkenntnis auf so etwas [Gutes] stößt,
da wird die Liebe in die Erinnerung einziehen und nur in diese.
20 Durch nichts kann sie sich [von dem Guten] trennen, es sei
denn, sie entdeckt etwas Böses darin.
21 Weil unser Herr
das sehr gut weiß, muss er sich manchmal verbergen und verhüllen.
Abschnitt 4
Absatz 6
Absatz 7
FN-Anzahl: 13
au
1 Mercky ein anderen synn zdiser fragz:18
2 Der mensch hat ein wyrcklich vernunfft und ein mügliche
und einaa leydende.
3 Die wircklich
vernunfft steet alle zeit gegenwertig allweg etwas zuͦ wircken, es sey
in gott oder in der creatur.
4 Wann sie sich
vernünfftigklich uͤbt in der creatur als in einer ordnung und
widertragung der creatur in irenn ursprung.
5 Oder sich
selber ußtragende zuͦ goͤttlicher ere und zuͦ
goͤttlichem lob, das steet noch alles wol in irer macht und in irem
gewalt [15rb]
und heißt noch wyrckende.
6 So sich aber gott
des wercks underwindt, so muͦß sich der geist halten in einer
leidligkeit19.
7 Aber die müglich vernunfft die sicht zuͦ in
beiden, was gott gewyrcken mag und der geist gelyden, das das ervolgt werd nach
müglicheit.
8 Eins hat er in einem wyrcken, das ist, so
der geist selb des wercks pfligt.
9 Das ander hat er in eim leyden, das ist, so sich gott des
wercks underwyndt, so soll und muͦß sich der geist still halten D und gott lassen wyrcken.
10 Unnd ee diß angefangen württ von dem geist unnd von
gott volbracht, so hat der geist ein ansehen darzuͦ und ein müglich
erkennen, das es alles wol geschehen mag und moͤcht.
11 Und das heißt 'die mügliche vernunfftt', allein das sie doch
vil versaumpt werd und nimmer zuͦ frucht komme.
12 So sich aber der geist uͤbet nach seiner vermüglicheit oder nach
seyner machtab in rechten treüwen, so underwindt sich sein
gottes geist und des wercks.
13 Unnd dennac schouwet unnd leidet der geist gottes geist.
14 Wenn aber das leyden und das schauwen gotts dem geist
überlestigad ist –sunderlichen in disem lyb –, darumm so
underzeucht sich gott dem geist underweylen.
15 Und das
ist, das er sprach:
16 "Ein klein
weile werdentae ir mich yetzund nit sehen, und aber
ein klein, so werdenaf ir mich sehen."20
17 Das ist als vil, das sich der getreüwe gott etwan
beweißt unnd etwan verbirget der wissenheitag
ahund dem inwendigen gesichtah.21
1 Merke dir noch eine andere
Erklärung zu dieser Frage:
2 Der Mensch hat eine wirkende
Vernunft und eine mögliche und ein leidende.
3 Die
wirkende Vernunft ist jederzeit bereit, auf beliebige Weise etwas zu bewirken,
es sei in Gott oder in der Kreatur.
4 Wenn sie in
vernünftiger Weise ihr Werk in der Kreatur durch eine Verweis und einen
Rückbezug der Kreatur auf ihren Ursprung vollbringt
5 oder aus sich selbst herausgeht, um Gott zu ehren und zu loben, liegt das
alles in ihrer Macht und in ihrer Gewalt und wird noch 'wirkend' genannt.
6 Wenn aber Gott sich dieses Werkes annimmt, dann muss
der Geist empfänglich [= leidend, passiv] bleiben.
7 Die
mögliche Vernunft jedoch blickt in beide Richtungen, was Gott bewirken kann und
der Geist empfangen kann, damit das je nach Möglichkeit erfüllt werde.
8 Eine Möglichkeit besteht im Wirken, wenn der Geist
selbst das Werk ausübt.
9 Die andere Möglichkeit besteht
darin, dass er [der Geist] es geschehen lässt, wenn Gott selbst das Werk
übernimmt, dann soll und muss der Geist still halten und Gott wirken lassen.
10 Und bevor dieses [Werk] durch den Geist in Angriff
genommen und von Gott vollbracht wird, betrachtet es der Geist und hat die
Möglichkeit zu erkennen, ob es einen guten Verlauf nehmen kann und wird.
11 Und dieses wird 'die mögliche Vernunft' genannt,
doch wird sie sehr häufig vernachlässigt und bringt keinen Nutzen.
12 Wenn sich aber der Geist mit aller seiner Kraft und seiner
ganzen Macht pflichtbewusst anstrengt, so nimmt sich der Geist Gottes seiner
und seines Werkes an.
13 Und dann sieht unnd erfährt der
Geist den Geist Gottes.
14 Wenn jedoch diese Erfahrung und
das Erblicken Gottes für den Geist zu viel werden – insbesondere in diesem
[menschlichen] Körper –, entzieht sich Gott dem Geist manchmal.
15 Und das bedeutet es, dss er sagte:
16 "
Eine kurze Zeit werdet ihr mich jetzt nicht mehr sehen, und wieder nach einer
kurzen Zeit werdet ihr mich sehen."
17 Das bedeutet soviel
wie, dass sich der zuverlässige Gott der Erkenntnis und dem inneren Sehen
manchmal zeigt und manchmal entzieht.
Abschnitt 5
Absatz 8
FN-Anzahl: 8
1 Und da
ai ist aber ein ander ursach
aj:
2 Do unser herr
ak die drey jünger mit im uff den berg
fuͦrt und beweyßt in allein die klarheit seins leybs, die er het von der
vereinung
al der gottheit, die wir an dem jüngsten
tag seyns urteils werden
am sehen, do sant
Peter und die anderen
an auch das gesicht sahen, do
ao weren sie
gern da beliben von des gesichts wegen.
22
1 Und dann gibt es wiederum noch
einen zweiten Grund:
2 Als unser Herr die drei Jünger mit
sich auf den Berg nahm und ihnen die Verklärung seines Körpers offenbarte, die
er durch die Einheit mit der göttlichen Natur besaß und die wir [erst] nach der
Auferstehung haben werden: als der heilige Petrus und die anderen diese
Offenbarung sahen, da wären sie gerne wegen dieser Offenbarung dort
geblieben.
Abschnitt 6
FN-Anzahl: 22
1 Also in der warheit:
2 wo der mensch guͦtts
ap findt, da mag er sich mit nicht davon
gescheiden, als ferr als es guͦt
aq
ist.
3 Wo
nuͦn die bekentnyß daz findet, da muͦß die lieb unnd
gedechtnyß nachvolgen.23
4 Und davon mag sie
arbey ni
[15va]
chten
ar gescheiden, sie finde dann etwas
boͤß daran.
24
5 So
as das unser herr weißt, darumm
muͦß er sich vor dem menschen beyweylen verbergen unnd verdecken
atau.
6 Wann die seel ist ein einfeltig form des leibs und wo
sie sich hinkert, da kert sie sich gantz
av hin.
7 Als
E ir dann das guͦt ist
aw bekant,
25 so moͤcht sie sich nicht davon gekeren, also das
sie dem lyb keinen influß oder hilff thet, als dem heiligen
Paulo beschach:
8 Wer er da
hundert
ax jar bliben, da er das guͦtt bekant, er wer die weil
nimmer zuͦ dem leib gekert.
9 Er het sein
gantz
ay vergessen.
26
10 Hierumb so
az das disem leben nitt fuͤgt
noch zuͦgehoͤrt, das bekent
27 der ewig
ba
getreüw gott, als er will und
bb
bcals er
bc weißt, das es unß
allerbest ist unnd unß fuͤget, als ein getreuwer artzet thuͦt
einem siechen.
11 Diß entpfinden ist dein nit, sunder
gottes, des auch diß werck ist.
12 Der mag thuͦn
und lassen, als er will und als er wol weißt, wenn es dir allerbast
fuͤget.
13 Zuͦ seiner handt steet zuͦ
wyrcken und zuͦ lassen:
14 Er weißt, das es dir
unlydenlich ist, wann er nit ein zerstoͤrer ist der natur.
15 Er volbringt
bd sie
28
beaber numm
ebe als vil,
als
bf du dich mer und mer hie zuͦheltst unnd
fuͤgst.
1 Das zeigt, dass es stimmt:
2 Wo der Mensch auf etwas Gutes stößt, kann er sich
durch nichts davon trennen, solange dieses gut ist.
3 Wo
also die Erkenntnis auf so etwas [Gutes] stößt, da wird die Liebe in die
Erinnerung einziehen und nur in diese.
4 Und durch nichts
kann sie sich [von dem Guten] trennen, es sei denn, sie entdeckt etwas Böses
darin.
5 Weil unser Herr das weiß, wird er sich manchmal
vor diesem Menschen verbergen und verhüllen.
6 Denn die
Seele ist eine einfache auf den Körper bezogene Form und wenn sie sich einer
Sache zuwendet, wendet sie sich ganz und gar dorthin.
7 Wenn sie dann [dort] das Gute erkennt, so kann sie sich nicht wieder
abwenden, so dass sie keine Gewalt mehr über den Körper hat oder ihm helfen
kann, wie es dem heiligen Paulus erging:
8 Wäre er
hundert Jahre dort geblieben, wo er das Gute erkannt hatte, wäre er in dieser
Zeit niemals wieder zu seinem Körper zurückgekehrt.
9 Er
hatte ihn gänzlich vergessen.
10 Weil aber so etwas nicht
zu diesem [irdischen] Leben passt und nicht zu ihm gehört, lässt uns der ewige
und treue Gott – wie es ihm gefällt und wie [nur] er es versteht – das
erkennen, was für uns das Allerbeste und für uns geeignet ist, wie es ein
zuverlässiger Arzt bei einem Kranken tut.
11 Diese
Wahrnehmung ist nicht deine, sondern die Gottes, dessen Werk sie auch ist.
12 Er kann tun und lassen, wie es ihm gefällt und wie
[nur] er es versteht, wenn es für dich am allerbesten geeignet ist.
13 Es liegt in seiner Hand, was er tut oder sein lässt.
14 Er weiß, was dir unerträglich ist, denn er ist kein Zerstörer
der Natur,
15 sondern er vollendet sie, jedoch nur in dem
Maße, in dem du dich immer stärker dem zuwendest und dich einfügst.
Abschnitt 7
Absatz 9
FN-Anzahl: 26
1 Nuͦn moͤchtst du fragen
bg:
2 "Seidtenmal das man
hierzuͦ bedarff eines ledigen gemuͤts von allen bilden
29 und von
allen wercken, die in den krefftenn auch von natur seint, was sol dann sein in
den ussern wercken, die man von lieb underweilen thuͦn muͦß als
zuͦ leren unnd zuͦ troͤsten die notdurfftigen?
3 Soll man in disem des muͤssen beraubt sein, als sich die
jünger unsers herren offt ußgaben, als sanct
Augustinus schreybt, das sanct
Paulus als vast mit den leüten beladen was, als ob er sie
alle zuͦ der welt bracht het und sie in seinem leib getragen het.
30
4 Soll man dises grossen guͦts hierumb beraubt
sein umb ein mynder guͦt?
31"
5 Hie merck:
6 Eins ist wol edler und das
ander loͤblicher oder nützer.
7 Allein
Maria was gelobt, das sie das
beste hat erwoͤlt.
8 Doch was
Marthen leben in einem teil nützer, wann sie
dienet unserem herren
bh unnd seynen
jüngern.
32
9 Sant
bi
Thomas spricht, das das wyrcklich leben
denn
[15vb]
besser sey dann das schawende, so man in der wyrcklicheitt ußgeüßt
von liebe, das man in der schawung hat ingenommen.
33
10 Daran ist nicht dann eins.
11 Wann
bjman gryfft nit fürbasser
bj dann in den selben grunt
der beschawung und
bk macht fruchtbar an der wyrckung.
12 Da württ die meinung der beschawung vollbracht unnd allein
bl da geschehen bewegung.
13 Es
ist
bm nit dann eins:
14 Es
kumpt uß eim end und geet wider in das selb, als ob ich gieng in disem huß von
einem end zuͦ dem andern, das were
F ein bewegung und wer doch nit dann eins in eim.
15 Also in diser wyrcklicheit hat man nicht vorders
noch vorderes dann die beschawlicheit in im, das ein ruͤret in dem
andern und vollbringt das ander.
16 Wann gott meint an der
einigkeit der schawung diß ußleüchtung der wyrckung.
17 Wann da dienest du allein dir, hie dienest du der menige, daz auch
bn
Christus, unser
bo herr, vollbracht hatt unnd uns hiezuͦ vermandt
bpunnd hatt
bp in allem seynem leben groͤßlichen beweyßt unnd
all sein heiligen, die er all hat ußgetriben, der menige
bq zuͦ dienen.
18 Sant
Paulus spricht:
19 "Lieber sun
Thimothee,
predig uß das
br wort."
34
20 Meint er das usser wortt, das
G der lufft schlecht?
35
21 Nein, sicherlich!
22 Er meinet das
inwendig gegeben wort, das da ligt bedeckt in der inwendigkeitt der seel.
23 Das heißt
bs er in
ußpredigen,
das das den krefften
kundt würd und darab gespyßt wuͤrden.
24 Und
auch den ussern menschen inbt aller beweysung und hat sich
zuͦgebenbu an allesbv ausser leben, da es der nechst bedarff,
das man das an dirbw finde unverborgenbx.
25 Es soll ußleüchten an dem gedanckby, an der vernunfft und an dem willen und an den
sinnen,36 als unser herr sprach:
26 "Also soll euwer liecht leüchten vor den menschen,
bzdas sie sehen euwer guͦte werck und also
glorificieren den hymelischen vatter
bz."
37
27 Das ist wider etlich menschen, die nur
ca achten der schawlicheit
unnd nitt
cb achten der würcklicheit und sprechen, sie
bedoͤrffen der uͤbung der tugend nit, sie seyen darüber kommen.
28 Von den sprach unser herr
[16ra]
nitt, do er sprach:
29 "Da diß
cc wort viel in das guͦt erdtreych,
do bracht es hundertfaͤltige frucht."
38
30 Und anderßwo spricht er:
31 "Der baum, der nitt frucht bringt, den soll man
abhauwen."
39
1 Nun könntest du fragen:
2 "Da man hierzu ein Inneres braucht, das von allen äußeren
Eindrücken und von allen Werken, die den [Seelen-]Kräften schon angeboren sind,
frei ist, was soll dann mit den äußeren Werken passieren, die man aus
[Nächsten-]Liebe manchmal tun muss, wie z. B. die zurechtzuweisen und zu
trösten, bei denen es nötig ist?
3 Wird man dadurch um
das Kontemplieren gebracht, so wie sich die Jünger unseres Herren häufig
verausgabten, wie der heilige Augustinus schreibt, dass der heilige Paulus so
sehr von den Menschen belastet wurde, also ob er sie alle selbst zur Welt
gebracht und sie in seinem Leibe getragen hätte.
4 Muss
man auf diesen großen Nutzen verzichten aufgrund einer weniger nützlichen
Sache?"
5 Hierzu merke dir:
6 Das
eine ist zwar edler, das andere jedoch[anerkennungswerter oder nützlicher.
7 Obwohl Maria gelobt wurde, dass sie den besten Teil
erwählt hatte,
8 war doch Marthas Leben in einer
Beziehung von größerem Nutzen, denn sie diente unserem Herren und seinen
Jüngern.
9 Der heilige Thomas sagt, dass das tätige Leben
dann [15vb] besser sei als das kontemplative, wenn man in sein Handeln die
Liebe einfließen lässt, die man man in der Kontemplation in sich aufgenommen
hat.
10 Das ist [aber] nichts anderes als ein und
dasselbe.
11 Denn man gelangt nicht weiter als in
denselben Grund der Kontemplation und macht diesen durch das Handeln fruchtbar.
12 So wird das Ziel der Kontemplation erreicht und nur
so kommt es zu [innerer] Bewegung.
13 Es ist nichts
anderes als ein und dasselbe:
14 Es kommt aus einem Ort
und geht wieder in denselben zurück, so wie wenn ich in diesem Haus von einem
Platz zu einem anderen ginge, das wäre eine Bewegung und wäre doch nicht
anderswo als in dem selben [Ort].
15 Genauso gibt es bei
diesem Handeln weder etwas, das [räumlich] davor noch das früher ist als die in
ihm innewohnende Kontemplation, das eine wirkt in dem anderen und bringt das
andere zur Vollendung.
16 Denn Gott hat mit der Einheit
der Kontemplation die Strahlkraft des Handelns im Sinn.
17 Denn dort [in der Kontemplation] dienst du nur dir allein, hier [jedoch]
dienst du vielen anderen, wie es auch Christus, unser Herr, getan hat und uns
dazu aufrief; und er hat dies mit seinem ganzen Leben in beeindruckender Weise
gezeigt und hat alle seine Heiligen angespornt, anderen zu dienen.
18 Sankt Paulus sagt:
19 "Lieber Sohn
Timotheus, predige das Wort hinaus!"
20 Meint er das
gesprochene Wort, das auf die Luft trifft?
21 Nein,
wirklich nicht!
22 Er meinet das innere [von Gott]
inspirierte Wort, das im Inneren der Seele verborgen liegt.
23 Dieses befiehlt er ihm hinaus zu predigen, damit die
[Seelen-]Kräfte es erfahren und von ihm genährt werden
24 und es auch dem äußeren Menschen in seinem Verhalten zu eigen ist, und es hat
sich an das ganze äußere Leben geheftet, so dass man es an dir erkennen kann,
wenn dein Nächster es braucht.
25 Es soll mit Strahlkraft
aus dem Denken, der Vernunft, dem Willen und den Sinnen leuchten, wie unser
Herr sagte:
26 "So soll euer Licht leuchten vor den
Menschen, damit sie eure guten Werke sehen und dadurch den Vater im Himmel
preisen."
27 Das richtet sich gegen solche Menschen, die
nur der Kontemplation Aufmerksamkeit schenken und nicht dem Handeln und
behaupten, sie hätten die tatkräftige Umsetzung der Tugend nicht nötig, sie
seien darüber hinaus.
28 Diese meinte unser Herr nicht,
als er sagte:
29 "Als das Wort auf gutes Land fiel, da
brachte es hundertfache Frucht."
30 Und an anderer Stelle
spricht er:
31 "Den Baum, der keine Frucht hervorbringt,
soll man fällen."
Abschnitt 8
Absatz 10
Absatz 11
FN-Anzahl: 17
1 Nuͦn moͤchtst du sprechen:
2 "
Herr, wasH soll dann sein mit der stille von dem
schweygen, von dem ir unß gesagt hant?40
3 Wann hie zuͦ gehoͤren vil bild, wann
ein yegklich werck muͦß geschehen in seynem eygen bild,41 es sey
inwendig oder ußwendig, das ich ler oder diß oder das thuͦ, was
stille mag ich haben?
4 Wann als die vernunfft
bekennet und der wille will und die gedechtnyß daruff gedenckt, das seint
alles bild?"
5 Diß verstee also
cd:
6 Die meister schreiben von
einer wyrckenden vernunfft und von einer leydenden.42
7 Die wyrckend
schauwet die bild vonce ussern dingen43 unndcf hauwet bild ab von ussern
dingen unnd kleidt sie von materien und von zuͦfellen und setzt
sie in die leydende vernunfft unnd die gebyrt dann ir als geistliche bild
in sie.44
8 Wenn dann die leydend vernunfft von der wyrckenden
schwanger worden ist, so behelt sie sie und bekennet die ding mit dem
intragen der wyrckende vernunfft.
9 Dannocht socg mag sie die ding nit erkennen, die wyrckende
muͦß sie anders erleüchten und ir liecht uff sie uff ein neüwes
ergiessen.
10 Sihe, alles dasch hie thuͦt die wyrckende
vernunfft an eim natürlichen menschen, das selbig45 thuͦt auch gott gantz in aller weyßI an einem abgescheiden menschen:
11 Er nimpt hie ab die wyrckend vernunfft unnd setzt sich
selber widerci an die statt und wyrckt mit im
selber, was die wyrckend vernunfft solt wyrcken.
12 Wann diser mensch hat sich selber gemuͤssiget und die wyrckende
vernunfft all cjgeschweigt an imcj.
13 Hierumb ist es not,46 das sich gott dises wercks
underwind und muͦß selber da werckmeister sein und geber in die
leydende vernunfft.47
14 Das magst du mercken, als es ist.
15 Die wyrckend vernunfft mag nit
48 zwey bild mit einander
ck gehaben:
16 Sie hat eins vor unnd ein anders nach.
49
17 Als der lufftt weyßt die farb, doch magst du nit sehen
dann eine nach der andern.
18 Also thuͦt die
wyrckend vernunfft,
[16rb]
also sichst du auch:
19 Die weil gott gebyrt
in der statt der wyrckende
n
cl
vernunfft, so gebyrt er mancherley bild miteinander in
J eim puncten.
20 Wann so
cm got dich bewegt zuͦ eim
guͦten werck zuͦhandt, so erbieten sich da alle guͦte
werck.
21 Dein gemuͤt geet mit dem fürbaß uff
tausentmal vester
50 unnd auff alles
guͦt.
22 Was du guͦts vermagst, das erbeüt
sich und erbildet da alles mitteinander in einem blick in einem puncten
miteinander.
23 Unnd
cn das
anzeigt
co, das e
s
cp der vernunfft
werck nitt ist noch ir geburt.
24 Wann sie hat des selben
nitt, aber es ist des werck und des geburt, der alle bild hat miteinander in im
selber.
25 Also sprach
cq sant
Paulus:
26 "Ich vermag alle ding in im, der mich sterckt."
51
27 In im vermag ich nit allein diß oder das, sunder alle
ding in im ungescheiden.
52
28 Hie bey solt du wissen, das dise bild diser werck nit
dein seind noch der natur, sunder
cr sie seind des
meisters der natur, der das werck und das bild darin gelegt hat.
29 Nit nimm dich sein an, wann es ist
cs seyn
ctund nit
ct dein.
30 Allein würt es zeytlich von dir entpfangen und genommen, doch
würt es von gott geboren und gegeben überzeitlich in ewigkeit über alle
bild.
1 Nun sagst du vielleicht:
2 "Herr, wie ist es dann mit dem Stillschweigen, über
das Ihr zu uns gesprochen habt?
3 Denn hierzu braucht man
viele [bildhafte] Vorstellungen, weil jedes Werk – egal ob es ein inneres oder
ein äußeres Werk ist, ob ich andere unterrichte oder dies oder das tue – wird
nach den zugehörigen Vorstellungen gestaltet – wo kann ich [dann noch] Ruhe
finden?
4 Denn wenn die Vernunft erkennt und der Wille
etwas möchte und die Gedanken etwas planen, sind das alles Vorstellungen."
5 Das musst du folgendermaßen verstehen:
6 Die Meister schreiben über eine wirkende Vernunft und über eine
leidende.
7 Die wirkende prüft die Vorstellungen äußerer
Dinge und verwirft sie und nimmt ihnen alles Gegenständliche und alle Zusätze
und pflanzt sie [dann] in die leidende Vernunft, und diese gebiert sie dann als
[reine] Vorstellungen des Geistes in sie [= die wirkende Vernunft]
zurück.
8 Wenn die leidende Vernunft so von der
wirkenden schwanger geworden ist, dann bewahrt sie sie und erkennt die Dinge
dadurch, dass sie von der wirkenden Vernunft in sie hineingebracht wurden.
9 Trotzdem kann sie die Dinge nicht erkennen, wenn die
wirkende [Vernunft] sie nicht ein zweites Mal erleuchtet und ihr Licht noch
einmal in sie wirft.
10 Schau, alles, was die wirkende
Vernunft auf diese Weise bei einem normalen Menschen vollbringt, dasselbe
vollbringt Gott in ganz derselben Weise bei einem Menschen, der sich von allen
Äußerlichkeiten getrennt hat.
11 Er [= Gott] nimmt die
wirkende Vernunft weg und setzt sich selbst an ihre Stelle und bewirkt durch
sich selbst, was die wirkende Vernunft tun sollte.
12 Denn
ein solcher Mensch hat sich selbst von allem frei gemacht, und die wirkende
Vernunft ist in ihm ganz still geworden.
13 Deswegen muss
Gott der Meister dieses Werks sein, um ihre Aufgabe zu übernehmen und in die
leidende Vernunft zu gebären.
14 Das kannst du [so]
verstehen, wie es ist:
15 Die wirkende Vernunft kann nicht
zwei Vorstellungen gleichzeitig in sich aufnehmen:
16 Sie
nimmt eines früher auf und das andere später.
17 Wenn sich
dir in der Luft Farbe zeigt, kannst du sie doch nicht anders wahrnehmen als
nacheinander.
18 So wie es sich mit der Wahrnehmung der
wirkenden Vernunft verhält, verhält es sich auch mit deinem Sehen.
19 Solange Gott anstelle der wirkenden Vernunft gebiert, gebiert
er viele unterschiedliche Vorstellungen auf einmal.
20 Denn wenn Gott dich zu einem guten Werk bewegt, so bieten sich gleich alle
guten Werke zu tun an.
21 Dein Denken und Empfinden wird
dadurch tausendfach gestärkt und zu allem, was gut ist, hingewendet.
22 Was du an Gutem leisten kannst, das zeigt sich und formt sich
alles gleichzeitig in einem einzigen Augenblick in einem einzigen Punkt.
23 Und das zeigt, dass dies weder das Werk der Vernunft
sein kann, noch die von ihr bewirkte Geburt.
24 Denn sie
verfügt über diese Eigenschaften nicht, sondern es ist das Werk und die von dem
bewirkte Geburt, das alle Vorstellungen auf einmal in sich selbst trägt.
25 Und so sagte der heilige Paulus:
26 "Mir sind alle Dinge möglich durch den, der mir die Kraft dazu
gibt. "
27 Durch ihn kann ich nicht nur dieses und jenes
tun, sondern unterschiedslos alle Dinge.
28 Im Hinblick
auf diese Sache musst du aber wissen, dass die Vorstellungen dieser Werke nicht
deine eigenen sind, noch in der Natur enthalten sind, sondern sie sind die
[Vorstellungen] des Meisters der Natur, der das Werk und die Idee davon
hineingelegt hat.
29 Nimm es dir nicht [einfach], denn es
gehört ihm und nicht dir.
30 Zwar empfängst du es während
deines Lebens und nimmst es an, aber es wird unvergänglich in Ewigkeit und
jenseits aller Vorstellungen von Gott geboren und [dir] geschenkt.
Abschnitt 9
Absatz 12
FN-Anzahl: 19
1 Nuͦn moͤchtst du fragen:
2 "Seyder sich mein vernunfft hat beraubt irs natürlichen
K wercks und das sie kein eygen
werck noch bild nitt hatt, waruff soll sich denn die vernunfft enthalten, die
allwegen ein gegenwurff
cu und ein uffenthalt will
haben?
3 Moͤchten die krefft die weil sich ettwer
anhefften unnd darin wyrcken, es sey gedechtnyß, vernunfftt oder will?
53"
4 Nuͦn verstee dises hie
ein berichtung:
5 Der vernunfftt gegenwurff
cv unnd ir auffenthaltt ist wesen und nit
zuͦfall, sunder das bloß lauter wesenn in im selber.
54
6 Wann nuͦn die vernunfft erkennet ein warheit
eines wesens zuͦhandt, so neyget sie sich darauff unnd will darauff
ruͦwen, da spricht sie ir wortt vernünfftigklich vonn dem gegenwurff,
den sie da hat.
7 Mer: als lang die vernunfft nit findet
warheit des wesens eygentlich, also das sie denn grundt nitt ruͤret,
also das sie müg sprechenn "das ist diß unnd ist also unnd anders nitt", als
lang steet
[16va]
sie allweg in einem suͦchen unnd in einem beiten und neigt
sich nit noch ruͦwet nit, aber sie arbeit noch allweg und legt ab alles
suͦchen in einem beiten.
8 Unnd also ist sie etwan
ein jar oder mer arbeitten in einer natürlichen warheit, was es sey.
9 Ja, vil lenger arbeit sie in einem abscheiden, was die warheit
nit ist, als lang steet sie on
cw sunder vernunfft unnd
on
cx enthaltt
noch spricht
cy kein wort von im, wann sie hatt noch
kein end diser bekentnyß der warheit
cz.
10 Also ergründt die vernunfft nimmer in disem leben
55 den grundt der übernatürlichen warheit, die gott
ist
da.
11 Darumb so steet sie
als in einem beiten und in einem arbeiten und muͦß mer sein oder heissen
ein unwissen denn ein wissen, als das sie hie mag haben von gott.
12 Wann gott offenbaret sich nymmer so fast seynen freünden in
disem leben, es sey dennocht nichts gegen dem, das er ist.
13 Wol ist die warheit in dem grund, aber sie ist verdeckt und
verborgen der venunfft.
14 Und all die weil, so würt die
vernunfft nitt enthalten, das sie ruͦwe als in einem vorwurff, sie endet
noch nit, aber sie beitet
db und arbeitet
dc sich noch zuͦ einem, das noch bekant
sol werden und noch verborgen ist,
56 also das der mensch nit wissen mag
zuͦmal, was gott ist.
15 Aber er weißt wol, was er
nit ist
57 unnd scheidt das alles ab.
16 Die
weil so württ die vernunfft nit enthalten in einem vorwurff, aber sie beytet
als die materia der form.
17 Wann als die materia nit
ruͦwet, sie werd dann erfült mit allen formen,58 also ruͦwet
auch nit die vernunfft dann in der warheit, die alle ding in sich
beschlossen hat.
18 Des wesens benuͤgt sie
allein59 und das enthelt ir gott
alles vor und verzeücht es ir umm das, das er iren fleyß erweck und reitze
sie
dd für zuͦ geen und mer zuͦ ervolgen und mer
grosse ware guͦter
60 zuͦ überkommen
de und sich nit laß mit kleinen dingen
benuͤgen,
dfsunder stell
df nach dem hoͤchsten.
1 Nun könntest du fragen:
2 "Da sich doch meine Vernunft um das Werk gebracht hat, welches
ihrer Natur entspricht, und da sie weder über ein eigenes Werk noch über eigene
Vorstellungen verfügt, worauf soll sich die Vernunft dann stützen, die immer
einen Bezugspunkt und einen Ort haben will?
3 Können sich
die [Seelen-]Kräfte in dieser Zeit irgendwo anhängen und dort wirken, etwa an
das Denken, die Vernunft oder den Willen?"
4 Dazu vernimm
folgende Erklärung:
5 Der Bezugspunkt und der Ort der
Vernunft ist ihr Wesen selbst und nicht, was darüber hinausgeht, sondern ihr
nacktes reines Wesen in ihr selbst.
6 Wenn nun die
Vernunft die [innere] Wahrheit eines Wesens erkennt, lehnt sie sich sofort auf
sie und will dort Ruhe finden, dann spricht sie ihr Wort als Vernunft von
diesem Bezugspunkt aus, den sie dort [gefunden] hat.
7 Des weiteren: Solange die Vernunft nicht die Wahrheit des eigentlichen Wesens
ergründet in der Weise, dass sie den [innersten] Grund nicht so ergreift, dass
sie sprechen könnte "Das ist das, und mit ihm verhält es sich so und nicht
anders", solange befindet sie sich auf der Suche und wartet und lehnt sich auf
nichts und ruht nicht, sondern müht sich noch immerzu ab und hört beim Warten
auf zu suchen.
8 Und so müht sie sich manchmal ein Jahr
lang oder länger um die natürliche Wahrheit, was es mit ihr auf sich habe.
9 Ja, viel länger noch müht sie sich an dem
Unterscheiden dessen, was die Wahrheit nicht ist. Solange befindet sie sich
ohne eigene Vernunft und ohne Bezugspunkt und äußert kein Wort darüber, denn
sie ist noch nicht zu einer Erkenntnis der Wahrheit gelangt.
10 Und so ergründet die Vernunft niemals während dieses Lebens den
[innersten] Grund der übernatürlichen Wahrheit, die Gott ist.
11 Deshalb harrt sie aus und wartet und müht sich, und das sollte
besser 'Unwissen' genannt werden als 'Wissen', welches sie [nur] von Gott
erhalten kann.
12 Denn Gott offenbart sich seinen
Freunden in diesem Leben niemals auf diese Weise, so dass es im Verhältnis zu
dem, wie er [eigentlich] ist, gar nichts wäre.
13 Zwar
befindet sich die Wahrheit in dem [innersten] Grund, aber sie ist vor der
Vernunft versteckt und verborgen.
14 Und während dieser
Zeit findet die Vernunft keinen Halt, indem sie wie in einem Gegenstand ruhen
könnte, sie ist noch nicht zu ihrem Ziel gelangt, sondern sie wartet und bemüht
sich um das eine, welches noch erkannt werden muss, aber noch verborgen ist, so
dass der Mensch gar nicht wissen kann, was Gott ist.
15 Aber er weiß sehr gut, was er [= Gott] nicht ist und verwirft das alles.
16 Während dieser Zeit befindet sich die Vernunft nicht
in [irgendetwas] Gegenständlichem, sondern sie wartet wie die Materie auf die
Form.
17 Denn so wie die Materie nicht zur Ruhe kommt,
wenn sie nicht mit Formen gestaltet wird, so ruht auch die Vernunft in nichts
anderem als in der Wahrheit, in der sich alle Dinge befinden.
18 Sie gibt sich nur mit dem Wesen [selbst] zufrieden, aber das
enthält ihr Gott ganz und gar vor und verweigert es ihr, um ihren Ehrgeiz zu
wecken und sie dazu zu bringen, aus sich heraus zu gehen und nach mehr zu
streben und Größeres und wahrhaft Gutes zu erreichen und sich nicht mit kleinen
Dingen zu begnügen, sondern nach dem Allerhöchsten zu streben.
Abschnitt 10
Absatz 13
FN-Anzahl: 7
1 Nuͦn moͤchstu sprechen:
2 "Ach herr,
L nuͦn hant ir uns vil gesagt, das
alle krefft schweygen sollen
61 und alle ding.
3 Setzt ir nuͦn in nachstellen
dg und in
begeren hie in diser stille, das wer ein groß beruͦff und ein gesprech,
da also ein quellen
dh und harren wer uff
eins, das man nit het, das benem dise stille
[16vb]
und dise ruͦw.
4 Es were meinen oder
woͤllen oder suͦchen oder dancken oder loben, was sich dainn
erhuͦb oder erbildte, da were nitt gantz ware stille?"
5 Des nimm ein underscheid:
6 Wenn sich der
mensch also gar
di entbloͤßt von im selber und von
allen dingen in einer eygentschafft und in aller weiß und in allen dingen, was
denn in dir geboren würt,
62 das ist nit
dein, sunder gar
dj deines gotts, dem du dich gelassen
hast.
7 Nuͦn sag mir, weder ist das wort, das da
wirt gesprochen, des, der es spricht, oder des, der es hoͤrt?
8 Wie wol es in dem ist, der es hoͤrt, so ist es doch
eygentlich des, der es gebirt und der es spricht, und nit des, der es
hoͤrt.
1 Nun könntest du fragen:
2 "Ach Herr, jetzt habt Ihr uns viel darüber erzählt, dass alle
[Seelen-]Kräfte schweigen sollen, und alle Dinge
3 zieht
ihr nun dafür heran, dass sie in dieser Stille nach etwas streben und etwas
begehren. Das wäre ein großes Geschrei und ein Gerede, wenn man sich dort so
quälte und auf etwas wartete, das man nicht hat; das zerstörte diese Stille und
diese Ruhe.
4 Es würde [nämlich] bedeuten, eine Absicht
zu haben oder etwas zu wollen oder zu suchen oder für etwas zu danken oder
etwas zu loben; was damit ins Werk gesetzt würde und darin entstünde, das wäre
doch nicht gänzliche wahre Stille?"
5 Dazu vernimm
folgende Erklärung:
6 Wenn sich der Mensch so ganz frei
macht von sich selbst und allen [äußeren] Dingen in ihren Eigenarten und in
jeder Art und Weise und in allem, was sie betrifft, – was danach in dir geboren
wird, das gehört nicht dir selbst, sondern [gehört] ganz und gar deinem Gott,
dem du dich überlassen hast.
7 Nun beantworte mir die
Frage, wem das Wort gehört, das ausgesprochen wird: dem, der es spricht, oder
dem, der es hört?
8 Obwohl es sich in dem befindet, der
es hört, so ist es doch das Eigentum dessen, der es gebiert und es ausspricht,
und nicht dem, der es hört.
Abschnitt 11
FN-Anzahl: 9
1 Also nimm ein
gleichnyß:
2 Die sonn würfft iren scheyn in den lufft,
und
M der lufft entpfacht
das liecht und gibt es dem erdtreych und gibt unß in dem selben, das wir
erkennen die underscheid der farben.
3 Wie wol
nuͦn das liecht foͤrmlich ist in dem lufft, so ist es doch
wesenlich in der sonnen, und es entspringt uß der sonnen und nit uß dem lufft.
4 Mer: es würt in dem lufft wol empfangen und von dem
lufft fürbaß erbotten allen, den das des liechts entpfenklich ist
dk.
5 Also ist es in der sel, in der
sich gott gebyrt mit der geburt seiner genaden, und die seel entpfacht es
fürbaß in ir krefft in mancherley weiß in einer begerung in guͦter
meinung in neüwer wyrckung
63 und in danckbarkeit.
6 Und wie es dich anruͤrt, so
dl ist es
doch
dm alles sein und nit dein.
7 Was gott da wyrckt, das nimm als das sein und nitt als das
dein, als geschriben ist:
8 "Der heilig geyst
geystet in ungestümm in unzeliger senffter weiß."
64
9 Er bett nit in uns, wir betten
N in im,
65 als sant
Paulus spricht:
10 "Niemant mag sprechen
'herr
Jesu Christe' dann in dem heiligen
geist."
66
1 Das kannst du mit folgendem Bild
vergleichen:
2 Die Sonne strahlt ihren Lichtschein in die
Luft, und die Luft nimmt das Licht auf und leitet es auf die Erde weiter und
lässt uns dadurch die Unterschiede der Farben erkennen.
3 Und obwohl das Licht in seiner Form in der Luft erscheint, so gehört es von
seinem Wesen her der Sonne, und es kommt von der Sonne und nicht aus der Luft.
4 Des weiteren: Es [= das Licht] wird von der Luft
zwar aufgenommen und von der Luft weitergeleitet zu allem, das das Licht
aufnehmen kann.
5 Genauso verhält es sich mit der Seele,
in der sich Gott [selbst] gebiert durch die Geburt seiner Gnade, und die Seele
leitet das in ihre Kräfte in vielfacher Weise weiter: mit Verlangen, in guter
Absicht, mit neuen Werken und in Dankbarkeit.
6 Und so
sehr es sich auch auf dich auswirkt, so gehört es doch alles ihm [= Gott] und
nicht dir.
7 Was Gott dort bewirkt, das musst du als sein
Wirken verstehen und nicht als deines, wie geschrieben steht:
8 "Der heilige Geist wirkt ungezügelt in unaussprechlich sanfter
Weise."
9 Er betet nicht in uns, sondern wir beten in
ihm, wie der heilige Paulus sagt:
10 "Niemand kann sagen
'Herr Jesus Christus', wenn er nicht aus dem heiligen Geist redet."
Abschnitt 12
Absatz 14
FN-Anzahl: 5
1 Das ist dir not vor allen dingen, das du dich nichts
annemest, sunder laß dich gantz
dn und laß gott in dir wircken
unnd mitt dir seynen willen haben.
2 Wann diß werck ist
sein, und diß wort gebirt seyne werck
67 und alles, das zuͦ dir gehoͤrt.
68
3 Wenn das ist, das du dich
gelassen hast mit dem ußgangdo deiner
krefft und der werck deines wesens mit der eygenschafft.
4 Darumb muͦß gott ingen in wesen und in krefft umm
daz, wann du dich aller diner eigenschaft hast [17ra]
beraubt und verwuͤstet unnd vernichtet,69 als geschriben steet:
5 "Die stymm ruͦfft in der
wuͤste."
70
6 Laß dise edle stymm in dir ruͦffen, als es ir
gefelt, unnd hab dich selber in
dp huͦt in allen
dingen.
1 Was für dich wichtiger ist als
alles andere, ist dass du an nichts festhältst, sondern dich gänzlich loslässt
und Gott in dir wirken lässt und es zulässt, dass er seinen Willen an dir
erfüllt.
2 Denn dieses Werk ist sein Werk und dieses Wort
gebiert sein Wort und alles andere, was zu dir gehört,
3 wenn es denn so ist, dass du dich [ganz] gelassen hast, indem du die Kräfte
und das Werk deines Wesens, das zu dir gehört, vertrieben hast.
4 Deswegen muss Gott dann einziehen in das Wesen und in die
Kräfte, weil du dich von allem, was zu dir gehört, getrennt hast, es verwüstet
und vernichtet hast, wie geschrieben steht:
5 "Die Stimme
ruft in der Wüste."
6 Lass diese edle Stimme in dir so
rufen, wie es ihr gefällt, und gib auf dich in jeder Beziehung acht.
Abschnitt 13
Absatz 15
FN-Anzahl: 28
1 Nuͦn moͤchtst du
sprechen:
2 "Achdq,
wie soll sich der mensch halten, der synO selber in allen
dingen drder wuͤstedr gern ledig wer oder der sein selbs und aller ding
zuͦmal soll ledig unnd bloß werden.
3 Wie soll
der mensch alle zeit in einem warten seyn des wercks gottes und soll
zuͦmal on wircken seyn, oder soll er etwan selber etwas wyrcken als
betten, fasten, wachen,71 lesen und ander
tugendtliche werck wyrcken,72 seydt das
der mensch nichts nemen soll von ußwendig sunder alles von inwendig von
seinem got.
4 Und ob der mensch die werck nit
thuͦt, versaumet er dann nichts?"73
5 Das merck:
6 Er soll die
außwendige werck nitt underwegen lassen,
74 wann sie seind den menschen gesetzt von ordnung wegenn,
also das der mensch dadurch in gott werd gericht durch ein geistlich leben und
zuͦ guͦten dingen, das er im selber nitt boͤse statt geb
zuͦ keiner ungleicheit, das er damit ge uͤbt werde unnd das er im
selber nitt entlaufe in fremden dingen und das er got wol wyrcke.
7 Wann er in woͤll haben, das er in bereit finde unnd das
gott nit von im fliehe von seinen verren und groben dingen.
75
8 Wann so der gelust der ussern dingen ye groͤsser
ist, so des menschen seligkeit ye ferrer würt.
76
9 Wann so ye groͤsser liebe, so ye groͤsser
schwerer leid, so es an scheiden geet.
10 Secht darumb ist
alles wyrcken funden unnd erdacht mitt guͦtter uͤbung der tugend
als betten, lesen, singen, vasten, wachen und knyen
77 und was der tugentlichen uͤbung ist.
11 Das der mensch damitt werde gefangen unnd uffenthalten vor
frembden ungeschickten ungoͤttlichen dingen.
12 Unnd darumb wenn der mensch gewar würt, das der geist gottes in im nicht
wircket und das der inner mensch von gott gelasssen ist, so ist im nichts
bessers dann daz
P er sich in allen tugenden uͤbe unnd in sunderheit die im
allerbast mügen gedienen und im aller nützlichest seind unnd
allernotdurfftigest unnd das er kein eygen
[17rb]
schafft in im selber suͦch, die
nitds die recht warheit sey,
78 und
dt darumb, das er nicht in grobe sach gezogen
werde, sunder das er in guͦten dingen gott anhafft, das in gott recht
finde, wann er will kommen, seine werch in der seel zuͦ schauwen
79, das er denn nitt lang doͤrff suͦchen.
13 Wenn aber der mensch woͤll
80,
Q das er in einer waren geordneten innikeit
funden werd, so soll er allen unmuͦß von im legen der ußwendigkeit.
81
14 Unnd weren es auch solche uͤbung, mitt denen du
dich mit gelübd verbunden hettest, die dir auch weder babst noch byschoff
abgenemmen moͤchten.
15 Wann so das ist, das ein
mensch gott ein gelübt thuͦt, das mag im niemant
R abgenemmen, man wandel es dann in ein
hoͤhern stand.
82
16 Wann ein yegklich gelübdt ist ein verbinden sich
zuͦ got.
17 Het nuͦn ein mensch vil gelübdt
gelobet zuͦ betten, zuͦ vasten, wallfart und dergleychen
zuͦ thuͦn, der ist er aller ledig und loß, so er in einen orden
kompt.
18 Wann in dem orden würt er allen tugendenn unnd
gott verbunden.
83
19 Recht also sprich ich auch hie:
20 Wie vil sich ein mensch gott verbunden hett, zuͦ manchen dingen:
21 Kompt er in die rechten waren lieb
du84, er
ist
dv aller ledig, all die weil die war
innigkeit in im weret
dw.
22 Und
dx das
sie ein wochen weret oder einen monet oder ein jar:
23 all
die weil versaumpt weder münch noch nunn nymmermer
dy kein zeit vor gott.
24 Dem sie verbunden
seint, dem muͤssen sie vor allen dingen gelten
dz.
85
25 Aber so der mensch wi
Sder zuͦ im selber kompt, so
vollbring er daz, das er gelobt hat von der zeit, von dem er sich wol finden
mag.
26 Aber von der vergangen zeit und was er darin
versaumpt hat, das in dann dunckt, das er dem orden schuldig sey,
86 so bedarff er
sich nichts underwinden
eanoch gedencken zuͦ
thuͦn
ea.
27 Wann
eb gott
ec erfüllt es selber, die weil er dich unmuͤssig
macht.
28 Noch du soltest nit woͤllen, das es mitt
aller creaturenn werck erfúllt were, wann das allerminst von gott gethan, das
ist besser dann aller creaturen werck.
29 Und das ist gesagt von den gelerten und
erleüchten menschen, die von got und von der geschrifft gelert und
erleücht
ed
seindee.
1 Jetzt könntest du fragen:
2 "Ach, wie muss sich der Mensch verhalten, der sich
selbst von allen Dingen befreien möchte, um wie eine Wüste zu sein, oder der
nackt und frei von sich selbst und von allen Dingen wird?
3 Inwieweit kann der Mensch immerzu das Werk Gottes erwarten und
gleichzeitig nichts vollbringen, oder soll er nicht manchmal selbst etwas tun
wie beten, fasten, wachen, lesen und andere tugendhaften Werke vollbringen,
weil der Mensch ja nicht von außen Kommendes annehmen soll, sondern
ausschließlich Inneres, das von Gott kommt?
4 Und wenn
der Menschen diese Werke nicht tut, versäumt er dann nichts? "
5 Das sollst du so verstehen:
6 Er soll die
äußeren Werke nicht vernachlässigen, denn sie sind dem Menschen aufgetragen, um
ihm Orientierung zu geben, so dass der Mensch durch sie, durch eine geistliches
Leben, zu Gott findet und zu guten Werken, damit er in sich selbst dem Bösen
keinen Raum lasse für sündhafte Verfehlungen und damit er durch sie [= die
äußeren Werke] geschult wird und sich nicht in andere Dinge verrennt und damit
er auf gute Weise für Gott arbeitet,
7 wenn dieser ihn
haben möchte, und damit er ihn bereit findet und damit Gott ihn nicht wegen
seines abschweifenden und unangemessenen Verhaltens meidet.
8 Denn je größer die Lust auf die äußeren [= nicht geistlichen]
Dinge ist, um so weiter entfernt sich der Mensch von seiner Seligkeit.
9 Denn je größer die Liebe ist, um so größer ist der
bittere Schmerz, wenn man Abschied nehmen muss.
10 Schaut,
deswegen wurden alle diese Tätigkeiten überlegt und ausgedacht zum sicheren
Einüben der Tugenden wie Beten, Lesen, Singen, Fasten, Schlafentzug und auf den
Knien Ausharren und was es noch für gute Übungen gibt,
11 damit der Mensch auf diese Weise vor anderen unangemessenen und nicht
gottgefälligen Dingen bewahrt und behütet wird.
12 Wenn
der Mensch feststellt, dass Gottes Geist nicht in ihm wirkt und dass sein
Inneres sich von Gott entfernt hat, gibt es deshalb nichts Besseres für ihn,
als sich in allen tugendhaften Dingen zu schulen und besonders in denen, die
für ihn besonders förderlich sind und die er am nötigsten hat, und er darf
keine Eigenart in sich suchen, die nicht die echte Wahrheit ist. Und wenn er
sich nicht in unangemessene Dinge hineinziehen lässt, sondern sich in guten
Dingen Gott anschließt, findet ihn Gott deswegen bereit, wenn er kommen wird,
um sein [= Gottes] Werk in der Seele zu begutachten, so dass er dann nicht
lange suche muss.
13 Wenn nämlich der Mensch in einer
wahrhaftigen und Regeln unterworfenen inneren Andacht gefunden werden möchte,
muss er alle Unruhe der äußeren Einflüsse abstreifen –
14 selbst wenn es Aufgaben solcher Art wären, zu denen du dich durch Gelübde
verpflichtet hättest, von denen dich weder Papst noch Bischof entbinden
könnten.
15 Wenn das der Fall ist, dass ein Mensch Gott
ein Gelübde geleistet hat, kann ihn niemand davon entbinden, es sei denn, es
würde in einen höheren Status verwandelt.
16 Denn jedes
Gelübde ist eine Verbindung zu Gott.
17 Hat nun ein Mensch
vielfach Gott versprochen, er werde beten, fasten, eine Wallfahrt tun oder
Ähnliches, ist er von allem ledig und befreit, wenn er in einen Orden
aufgenommen wird.
18 Denn durch den Orden stellt er eine
Verbindung zu allen Tugenden und zu Gott her.
19 Dementsprechend urteile ich auch im vorliegenden Falle:
20 Wie sehr sich auch ein Mensch Gott gegenüber verpflichtet hat,
eine Reihe von Dingen zu tun:
21 Gelangt er zur echten
wahrhaftigen Liebe, ist er von ihnen allen frei, solange die wahrhaftige innere
Andacht in ihm anhält.
22 Und wenn sie ein Woche anhält
oder einen Monat oder ein Jahr:
23 Solange versäumen weder
ein Mönch noch eine Nonne jemals eine Stunde vor Gott.
24 Wem gegenüber sie sich verpflichtet haben, dem vor allem anderen müssen sie
sich verantworten.
25 Wenn dann der Mensch wieder zu sich
kommt, so erfüllt er das, was er versprochen hat, in der Zeit, in der er sich
gerade befindet.
26 Aber in Bezug auf die vergangene Zeit
und auf das, was er während dieser Zeit versäumt hat, wovon er meint, dass er
es dem Orden schulde, muss er sich nichts vorwerfen oder überlegen, es
nachzuholen.
27 Denn Gott erfüllt es [= das Gelübde]
selbst in der Zeit, in der er dich mit anderem beschäftigt.
28 Aber du sollst nicht einmal wünschen, dass es [= das Gelübde]
durch die Werke aller Geschöpfe erfüllt würde, denn das Allerkleinste, das Gott
tut, ist besser als das Werk aller Geschöpfe zusammengenommen.
29 Und dies wurde bestätigt von den gelehrten und erleuchteten
Menschen, die durch Gott und die Heilige Schrift belehrt und inspiriert
wurden.
Abschnitt 14
Absatz 16
FN-Anzahl: 23
1 Nuͦn wie soll es aber sein umb ein lau
[17va]
Ttern leyen, der nit weißt noch verstet dann von
der leyplichen uͤbung und der doch etwas gelobt hat zuͦ
thuͦn und uff sich genommen hatt, es sey gebett oder vasten
87 oder andere
ding derglychen?
2 So sprich ich also:
3 Vindet er an im, das
ef
egin hindert unnd das er es in gott
setzet, das er ledig mit wissen sey der gelübdt oder sach, die er im hat
fürgenommen oder gelobt zuͦ thuͦn,
88 so sey er
kuͤnlich
eg ledig.
4 Wann ein yeglich sache oder
gelübdt, die dich zuͦ gott mag bringen und dich in gott naͤher
schleusset, das solt du in gott suͦchen unnd
ehdas dich selber das allerbest dunckt in deiner meinung
eh,
89 als sant
Paulus, do er sprach:
5 "Wann das kompt,
das do
ei vollkommen ist, so vergeet das, das
ej do
ek halb ist."
90
6 Es ist gar
Uungleych gegen einander die gelübdt, die man
thuͦt
91 an eines priesters hant als die ee oder ander
verbunden sach.
92
7 Das ist als vil, als so man es gott selber gelobt in
einer einfaͤltigkeit.
8 Wann das ist ein
guͦt geloben und ein guͦt meinung, das sich der mensch also
zuͦ gott verbinden will unnd das er daz die weil für das best hat.
9 Ist aber, das der mensch
el in im ein bessers mag erkennen
in seyner verstentnyß und das er es in seyner eygnen straff befindt als offt
emund dick
em wol kommet, so der
ein sünd will thuͦn, das er den gedenck:
10 "Das
ist wider gott unnd wider deiner sel heil."
11 Das ist das
erst, das dich zuͦmal
en darvon
erlediget
93 und das du dann dadurch einen sichern weg magst suͦchen,
der dich zuͦ den ewigen freuden mag bringen, das ist gar leycht
zuͦ beweren.
12 Wann man soll mer ansehen die
frucht und die innern warheit dann das usser werck.
94
13 Darumm spricht sanct
Paulus:
14 "Litera occidit."
15
"Die scrifft toͤdt."
16 Das ist alle usserliche uͤbung.
17 "Als der geist macht lebendig"
95, das ist ein innerlichs befinden der
rechten warheit.
18 Das solt du gar
eo
fleyssigklich warnemen in dir.
19 Und was
ep dich aller nechst darzuͦ gefuͤgen mag, dem
selben solt du eygentlichen volgen vor allen dingen
eq:
20 Du solt haben ein uffgehaben
gemuͤt und nit ein niderhangendes, sunder
er ein
brinnendes und das in einer schweygender stillheitt.
21 Du
darffst gott nit sagen, wes du begerst oder
[17vb]
bedarffst:
22 Er weißt es als vor, als
der
es herr
Jesus sprach zuͦ seinen
et jüngern:
23 "So ir bettent, so
solt ir nit vil wort machen und solt nit thuͦn als die phariseyer
theten
eu, die wolten erhoͤrt werden
in irem vil sprechen und worten, die doch wider gott warent."
96
1 Wie verhält es sich aber nun mit
einem völlig Ungelehrten, der nichts weiß noch versteht abgesehen von
körperlichen Übungen und der doch ein Gelübde abgelegt hat und versprochen hat,
etwas zu tun, egal ob es ein Gebet oder Fasten oder andere ähnliche Dinge
seien?
2 Darauf antworte ich folgendermaßen:
3 Stellt er an sich selbst fest, dass es ihm [bei der inneren
Andacht] hinderlich ist, wenn er es Gott überlässt, so [antworte ich] soll er
wissen, dass er von dem Gelübde befreit ist, oder von der Sache, die er sich
vorgenommen hatte oder versprochen hatte zu tun, ist er befreit, ohne Angst
haben zu müssen.
4 Denn jede Sache oder jedes Gelübde,
die dich zu Gott bringen kann und dich mit Gott enger verbindet, sollst du in
Gott suchen und überhaupt alles, von dem du selbst meinst, dass es das
Allerbeste sei, wie Paulus einmal sagte:
5 "Wenn das
eintritt, das vollständig ist, dann verschwindet das, was bruchstückhaft ist."
6 Mit den Gelübden, die man vor einem Priester leistet
wie das Ehegelübde oder andere rechtlich verpflichtende Sachen verhält es sich
allerdings ganz anders.
7 Das ist in derselben Weise
verpflichtend, wie wenn man es Gott selbst ohne Hintergedanken verspricht.
8 Denn das ist eine gute Art, ein Gelübde zu leisten,
und eine löbliche Absicht, dass sich der Mensch auf eine solche Weise an Gott
binden will und dass er das zu dieser Zeit für das Beste hält.
9 Geschieht es dann, dass der Mensch in sich, in seinem eigenen
Verstand etwas [noch] Besseres erkennt und dass er sein eigenes sträfliches
Vergehen erkennt, wie es sehr häufig vorkommt, wenn jemand in Begriff steht,
eine Sünde zu tun, dann soll er zu sich selbst sagen:
10 "Das ist nicht Gottes Wille und schadet deinem Seelenheil."
11 Das ist das erste, das dich unmittelbar davor bewahren kann.
Und dass du auf diese Weise einen sicheren Weg suchen kannst, der dich zu den
ewigen Himmelsfreuden führt, das lässt sich leicht beweisen.
12 Denn man soll dem, was daraus erwächst, und der inneren
Wahrhaftigkeit mehr Aufmerksamkeit schenken als den äußeren Werken.
13 Deshalb sagt der heilige Paulus:
14 "Litera occidit."
15 "Der Buchstabe tötet."
16 Das steht für die äußeren Handlungen.
17 "So wie der Geist lebendig macht." Das steht für das innere Erkennen der
echten Wahrheit.
18 Das sollst du begierig in dir
wahrnehmen.
19 Und dem, was dich in die größte Nähe dazu
bringt, dem sollst du vor allen anderen Dingen und ganz besonders Folge
leisten.
20 Du sollst eine aufrechte Gesinnung haben und
keine niedergedrückte, sondern eine brennende, die zugleich in Stille schweigt.
21 Du musst Gott nicht um etwas bitten, was du gerne
hättest oder brauchst.
22 Er weiß es bereits, wie der Herr
Jesus zu seinen Jüngern gesagt hat:
23 "Wenn ihr betet, so
sollt ihr nicht viele Worte machen und sollt euch nicht so verhalten wie die
Pharisäer, die wünschten, dass sie mit ihren langen Worten und Reden erhört
würden, obwohl sie sich doch gegen Gott wandten."
Abschnitt 15
FN-Anzahl: 4
1 Das wir hie mit diser
ruͦw und mit disem inwendigen schweygen also moͤgen nachvolgen,
das wir das ewig wort in unß entpfahen mit dem insprechen des heiligen
geists
97 und das wir eins mit im
werden,
evdas verlych unß
ev gott
ewdie heilig dryvaltigkeit gott der vatter und gott
der sun und gott der heilig geist
ew.
2 Amen
ex.
1 Dass wir in diesem Leben in dieser
Ruhe und in diesem inneren Schweigen Nachfolge so leben, dass wir das ewige
Wort in uns durch die Eingebung des Heiligen Geistes so empfangen, dass wir
eins mit ihm werden, das gewähre uns der dreieinige Gott, Gott Vater, Gott Sohn
und Gott Heiliger Geist.
2 Amen.